Unter dem Titel „Nichts als Vergeltung“ ist bei lto.de ein Beitrag von Prof. Dr. Tonio Walter erschienen. Er vertritt die „empirisch-soziologische Vergeltungslehre“ die besagt, dass gerechte Vergeltung, die sich an den „Bestrafungswünschen der Bürger“ orientiert, der eigentliche Strafzweck sei. Prävention und Resozialisierung seien allenfalls „Begleitprogramm oder Nebeneffekt einer Strafe“. Sind Bestrafungswünsche das Maß aller Dinge?
Bereits ein flüchtiger Blick ins Gesetz lässt erste Zweifel aufkommen, gibt Walter doch § 46 Abs. 1 StGB verkürzt wieder, indem er Satz 2 der Vorschrift gleichsam unter den Tisch fallen lässt. In Gänze lautet die Vorschrift: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.“ Prävention und Resozialisierung als bloßes „Beiprogramm oder Nebeneffekt“ bezeichnen, erscheint also gewagt, erst recht wenn man sich § 2 StVollzG vergegenwärtigt. Dort heißt es: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ Es bleibt festzuhalten: nach dem Wortlaut des Gesetzes bzw. der Gesetze steht neben der individuellen Schuld die Einwirkung auf den Täter im Mittelpunkt. Von „Vergeltung“ und „Bestrafungswünschen der Bürger“ ist im Gesetz hingegen keine Rede. Es finden sich auch keine Vorschriften über die von Walter für notwendig gehaltene empirische Erforschung der „in der Gesellschaft mehrheitlich und nachhaltig vorhandenen Auffassung zur Höhe gerechter Strafen“. Offensichtlich hält der Gesetzgeber dies – im Gegensatz zu Walter („Wir brauchen mehr empirische Forschung!“) – für entbehrlich.
Die „empirisch-soziologische Vergeltungslehre“ lässt sich mit der geltenden Gesetzeslage also schwerlich in Deckung bringen. Dies gilt erst für die Hypothese „Resozialisierung bestraft nicht, und Strafen können nicht resozialisieren“. Wobei ich mich schon frage, ob Walter das so meint, wie er es schreibt. Oder geht es ihm nur darum, im schnelllebigen Online-Business mit markigen Sätzen Beachtung zu finden? Egal: dass Strafen nicht resozialisieren, würde ich aus meiner Erfahrung als Richter in der Strafvollstreckungskammer nicht unterschreiben, zumindest nicht für Freiheitsstrafen. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen ist für viele Verurteilte – wohlgemerkt nicht für alle – ein einschneidendes Erlebnis. Deshalb gilt im Hinblick auf die Bewährungsaussetzung von Reststrafen gemäß § 57 StGB grundsätzlich die Vermutung, dass der Strafvollzug einen Erstverbüßer im Allgemeinen beeindruckt und ihn von weiteren Straftaten abhalten kann (Fischer, StGB, 66. Auflage, § 57 Rn. 14). Nicht selten hört man in Anhörungen Sätze wie: „Die ganzen Geld- und Bewährungsstrafen habe ich irgendwie nicht ernst genommen. Erst im Knast habe ich kapiert, dass ich Scheiße gebaut habe.“
Andererseits gibt es auch im Justizvollzug viele Probanden, die in der Psychiatrie als „Drehtürpatienten“ bezeichnet werden. Soll heißen: kaum entlassen, schon wieder aufgenommen. Resozialisierung setzt eben voraus, dass es eine brauchbare Sozialisierung gibt, an die angeknüpft werden kann. Bei vielen Strafgefangenen ist in dieser Beziehung derartig viel schief gelaufen, dass von einer Resozialisierung im Wortsinn keine Rede sein kann. Dennoch: dass der Vollzug einer Freiheitstrafe generell wirkungslos wäre, kann ich nicht unterschreiben. Dasselbe gilt für die von Walter aufgestellte Behauptung „Nichts erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls deutlicher als ihr Vollzug.“ Ich wüsste gern, welche empirischen Erkenntnisse ihr zugrunde liegen.
Natürlich ist die Einwirkung auf den Täter nicht der einzige Strafzweck. Wäre dem so, so hätte der BGH beispielsweise unser Urteil gegen Oskar Gröning in Bausch und Bogen aufgehoben. Dass der bei Urteilsverkündung 94-jährige ehemalige SS-Mann weitere Straftaten begehen würde, konnten wir trotz seiner Beteiligung an 300.000 Morden in Auschwitz ausschließen. Und die von Walter in den Mittelpunkt gestellten „Bestrafungswünsche der Bürger“? Gellende Rufe nach Vergeltung habe ich seinerzeit nicht vernommen. Selbst die Nebenkläger, die in Auschwitz zum Teil ihre gesamten Familien verloren hatten, erklärten mehrheitlich, an einer Bestrafung des Angeklagten kein Interesse zu haben. Viele Menschen äußerten sogar mehr oder minder offen ihr Unverständnis darüber, dass dieses Verfahren gegen den hochbetagten Angeklagten überhaupt noch geführt wurde. Vergeltungswünsche? Der Wunsch nach Gerechtigkeit durch Bestrafung? Überwiegend Fehlanzeige!
In einem wesentlichen Punkt gehe ich bei aller Kritik mit Walter konform: Strafe muss sich der Höhe nach am Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung messen lassen. „Gerechte Vergeltung stiftet einen gesellschaftlichen Nutzen, weil sie für Rechtsfrieden sorgt, indem sie das Gerechtigkeitsbedürfnis der Bürger befriedigt. Sonst bestände die Gefahr, dass die Bürger sich innerlich vom ungerecht-untätigen Staat distanzieren und ihr Recht in die eigenen Hände nehmen“ – das ist zweifellos richtig.
Walter weist auch zur Recht darauf hin, dass manche Strafrahmen bzw. ihr Verhältnis zueinander unbefriedigend sind. Dazu gehört auch der Vollrausch (§ 323a StGB), der wie der der Diebstahl (§ 242 StGB) mit maximal 5 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Und zwar auch dann, wenn die im Vollrausch begangene Tat ein vorsätzliches Tötungsdelikt ist! Eine Kammer des hiesigen Landgerichts hatte vor einigen Monaten folgenden Fall zu verhandeln: Einem jungen Mann wurde vorgeworfen, im LSD-Rausch seine Freundin vorsätzlich durch diverse Messerstiche getötet (d.h. regelrecht zerhackt) zu haben. Heraus kam eine Strafe wegen Vollrauschs (§ 323a StGB) von knapp unter 5 Jahren. Das war in den Augen der Eltern der Getöteten natürlich viel zu wenig. Aber auch den professionellen Rechtsanwender beschleicht ein Gefühl der Ungerechtigkeit, wenn er bedenkt, dass der besonders schwere Fall der Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 3 StGB) bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe ermöglicht.
Derartige Unwuchten zu beseitigen, obliegt dem Gesetzgeber. Die – mitunter schwierige – Suche nach der gerechten Strafe im Einzelfall ist und bleibt Sache des Gerichts. Weil das Urteil „Im Namen des Volkes“ ergeht, dürfen die „Bestrafungswünsche der Bürger“ dem Gericht nicht gänzlich aus dem Blick geraten. Maßgeblich aber bleibt die individuelle Schuld des Täters, so wie es § 46 StGB vorgibt. Oder eben seine Unschuld – dann ist für die Berücksichtigung von „Bestrafungswünschen“ ohnhin kein Raum.
Die strafbare Handlung beim § 323a StGB ist ja nur das Sich-Versetzen in einen Zustand einer (nicht auszuschließenden) Schuldunfähigkeit, die dann folgende Tat ist allein objektive Bedingung der Strafbarkeit. Fünf Jahre allein für’s Sich-Benebeln sind schon ordentlich, wenn Sie sich mal darüber bewusst werden, wie viel und wie oft in diesem Land gekifft/gesoffen/Drogen genommen werden!
How to roast a Prof. in 7.000 Zeichen
Die „gerechte“ Strafzumessung stellt mich als Schöffe regelmäßig vor arge Probleme, nicht zuletzt weil es doch sehr abstrakt ist und Unterschiede (+/- x%) für mich zumindest faktisch nicht „fühlbar“ sind. Eine Ausnahme bilden lediglich Strafgrenzen, die eine Wirkung entfalten anhand derer man ein über oder unterschreiten klar sehen kann.
Über einen entsprechenden Blogbeitrag, gerne auch mit Literaturhinweisen würde ich mich freuen.
Grüße