Die Urteilsabsetzungsfrist

„Iudex non calculat“ lautet ein alter römischrechtlicher Grundsatz. Frei übersetzt: der Richter rechnet nicht. Ursprünglich war damit gemeint, dass nicht die Zahl der Beweismittel den Ausschlag gegen soll, sondern deren Qualität. Das nennt man heutzutage Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Dass der Richter nicht rechnen können muss, wie manche Zivilrechtskollegen unter Hinweis auf § 319 ZPO mit einem Augenzwinkern behaupten, ist kein überlieferter Grundsatz und trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Im Gegenteil: Fehler bei der Berechnung der Urteilsabsetzungsfrist können für das Urteil tödlich sein!

Die Urteilsabsetzungsfrist – von wegen „iudex non calculat“!

Diese Erfahrung mussten unlängst die Kollegen Landgerichts Hamburg machen, denen der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.11.2019, 5 StR 542/19) in einer Schwurgerichtssache ein „sehr sorgfältig begründetes Urteil“ bescheinigte. Allein: es war zu spät, nämlich erst einen Tag nach Ablauf der Absetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO unterschrieben und zur Akte gebracht worden. Die Urteilsverkündugng war am Montag, den 3. Juni 2019 gewesen, die in diesem Fall neunwöchige Absetzungsfrist hätte am Montag, den 5. August 2019, geendet. An einem „nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand“, der eine Fristüberschreitung ausnahmsweise gerechtfertigt hätte, fehlte es. Die Kammer hatte sich schlicht über das Datum des Fristablaufs geirrt, mit der Folge, dass das ansonsten offenbar handwerklich gut gemachte Urteil komplett aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wurde!

Wichtig für Verteidiger: eine zulässig erhobene Verspätungsrüge setzt gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO voraus, dass das Datum der Urteilsverkündung, die Zahl der Hauptverhandlungstage, der Fristablauf und der Zeitpunkt, an dem das Urteil zu den Akten gelangt ist, vorgetragen werden!

548 Seiten Urteil und eine Totalaufhebung

Ein Eingehungsbetrug, 104 Hauptverhandlungstage über mehr als 3 Jahre, 548 Seiten Urteil und eine Totalaufhebung – so lässt sich eine kürzlich veröffentlichte Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.10.2019, 4 StR 37/19) zusammenfassen.

Wie schreibt man ein Urteil (besser nicht)?

Anlass für die durchaus instruktiven Ausführungen des Senats zur Frage „Wie schreibt man ein Urteil (besser nicht)?“ war ein Urteil des Landgerichts Kaiserslautern, für das die Bundesrichter wenig schmeichelhafte Worte fanden. Um mich nicht dem Vorwurf der Besserwisserei oder gar der Kollegenschelte auszusetzen, will ich mich auf die kommentarlose Wiedergabe eines Auszuges beschränken: „Anhand der ausufernden Sachverhaltsdarstellung lässt sich diese rechtliche Wertung nicht nachvollziehen, da sich das Landgericht in der Mitteilung einer Fülle überflüssiger und für die Entscheidung gänzlich belangloser Einzelheiten verliert, weshalb die Identifikation der für den Schuldspruch maßgeblichen Tatsachen nicht mehr gelingt. Statt die Feststellungen zum Sachverhalt anhand der Merkmale des Betrugstatbestands zu entwickeln, hat sich das Landgericht, ohne eine tatbezogene Strukturierung vorzunehmen, darauf beschränkt, die Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung undifferenziert zu dokumentieren. Bestätigung findet dies nicht zuletzt darin, dass auch die Einlassung des Angeklagten auf 89 Seiten wiedergegeben wird. [..] Dem Verständnis und der Lesbarkeit des Urteils gänzlich abträglich ist zudem die den Fließtext zur Sachverhaltsdarstellung fortlaufend unterbrechende Fülle von insgesamt etwa 200 einkopierten Schriftstücken, Abbildungen u.a., deren Bedeutung für den Schuldspruch ebenfalls nicht erkennbar ist. Insbesondere bleibt aufgrund der gewählten collageartig anmutenden Sachverhaltsdarstellung unklar, ob oder inwieweit die in die Sachverhaltsdarstellung einkopierten Schriftstücke ihrem Inhalt nach festgestellt sein sollen oder ob sie nur der Beweiswürdigung dienen.“

Insbesondere jungen Kolleginnen und Kollegen, die sich an das Abfassen von Strafurteilen erst herantasten, sei die Entscheidung zur Lektüre empfohlen!

Der „niedrige Beweggrund“ und die Hinweispflicht

Wenn die Verurteilung auf das schon in der Anklageschrift angenommene Mordmerkmal gestützt werden soll, sich jedoch die Tatsachengrundlage, die dieses nach Auffassung des Gerichts ausfüllt, gegenüber derjenigen ändert, von der die Anklage ausgegangen ist, ist der Angeklagte gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO auf diese Änderung der Sachlage hinzuweisen. Dieser Hinweis muss ihm vom Vorsitzenden erteilt und protokolliert werden. Anderenfalls droht dem Urteil die Aufhebung durch das Revisionsgericht.

Das Vorstehende klingt auf den ersten Blick einfach und einleuchtend. Stellen wir uns vor, dem Angeklagten würde ein Verdeckungsmord zur Last gelegt mit der Maßgabe, dass die zu verdeckende Tat eine Unterschlagung gewesen sei. Im Laufe der Beweisaufnahme käme das Gericht demgegenüber zu der Einschätzung, dass es ihm stattdessen um die Verdeckung einer Körperverletzung, also einer anderen Tat, gegangen wäre. Vermutlich würde niemand ernstlich daran zweifeln, dass eine Verurteilung einen vorherigen Hinweis gemäß § 265 StPO voraussetzt.

Wandeln wir den Fall ab: dem Angeklagten wird ein Mord aus niedrigen Beweggründen zur Last gelegt. Die Anklage geht davon aus, er habe mit der Tötung seiner ehemaligen Lebensgefährtin die Aufdeckung seiner Falschangaben im Sorgerechtsstreit sowie den ihm drohenden Verlust des durch die falschen Angaben erschlichenen gemeinsamen Sorgerechts für den gemeinsamen Sohn verhindern wollen. Zudem habe er der Getöteten jedes Recht abgesprochen, in Zukunft das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn auszuüben. In Abweichung hiervon legt das Schwurgericht in den Urteilsgründen als Beweggrund für die Tötung zugrunde, dass der Angeklagte den Verlust des Sorgerechts auch deshalb habe verhindern wollen, weil dies seine letzte Hoffnung, dem sich bereits abzeichnenden Strafvollzug zu entgehen, zunichtegemacht hätte.

Tatmotiv: Angst vor dem Verlust des Sorgerechts!

Sowohl nach der Anklage als auch nach den Urteilgründen geht es also darum, den drohenden Sorgerechtsverlust abzuwenden. Und dennoch hätte es hier – wie auch in obigem Fall – eines Hinweises gemäß § 265 StPO bedurft, denn nach Auffassung des 1. Strafsenats (BGH, 24.07.2019, 1 StR 185/19) weichen die angeklagten und die festgestellten Motive in diesem Fall „deutlich von einander ab“! Das sehen Sie anders? Dann lassen Sie sich vom BGH überzeugen: „Zwar geht das Urteil in gleicher Weise wie die Anklage davon aus, dass sich der Angeklagte mit der Tötung von K. das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn erhalten wollte. Eine Verbindung zwischen Tötungshandlung und der Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung oder einer günstigeren Strafvollstreckung in einem laufenden Strafverfahren gegen den Angeklagten wird in der Anklageschrift aber nicht hergestellt. Vielmehr wird erstmals in den Urteilsgründen als Grund für die Annahme niedriger Beweggründe darauf abgestellt, dass der Angeklagte die Tat beging, um gestützt auf das bestehende Sorgerecht dem Strafvollzug zu entgehen. Gerade aber deswegen, weil der Angeklagte das Leben der Getöteten derart geringgeschätzt habe, dass es aus seiner Sicht hinter seinen persönlichen Interessen habe zurücktreten müssen, hat das Landgericht die Beweggründe des Angeklagten für die Tötung als niedrig gewertet.“ Anders ausgedrückt: weil sich das Motiv (Strafvollzug vermeiden statt Ausübung des Sorgerechts durch die Mutter verhindern) für das Motiv (Sorgerechtsverlust vermeiden) geändert hat, wäre ein Hinweis gemäß  § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO erforderlich gewesen.

Genau hinschauen: stimmt das festgestellte Motiv mit dem angeklagten überein?

Finden Sie das überzeugend? Wenn Sie Strafverteidiger oder Strafverteidigerin sind, möglicherweise ja. Ein Revisionserfolg ist Balsam für die Seele und eine neue Hauptverhandlung gut für das irdische Fortkommen. Kleiner Test: stellen Sie sich vor, Sie hätten in diesem Fall ausnahmsweise die Nebenklage vertreten und müssten diese Entscheidung jetzt ihrer Mandantschaft erklären. Immer noch überzeugt? Na gut, solche Fragen sind unfair, und es ist letztlich ja auch egal: der BGH hat gesprochen, als Rechtsanwender haben wir uns darauf einzustellen.

Und das bedeutet, dass bei der Suche nach dem Motiv und den Beweggründen für das Motiv bereits bei der Staatsanwaltschaft allergrößte Sorgfalt an den Tag zu legen ist! Es reicht eben – entgegen einer noch immer verbreiteten Meinung – nicht aus, dass jede ernsthaft in Betracht kommende Motivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“ und damit die Voraussetzungen des niedrigen Beweggrundes auf jeden Fall erfüllt sind. Auch die Schwurgerichte werden sich in Vorbereitung der Eröffnungsentscheidung intensiv mit der Frage zu befassen haben, ob sich das angeklagte Motiv einschließlich der dahinterstehenden Beweggründe nach Durchführung der Beweisaufnahme voraussichtlich wirklich so darstellen wird, wie angeklagt. Hält das Gericht eine zumindest teilweise von der Anklage abweichende Motivation für möglich, so kommt bei unveränderter Zulassung der Anklage die Erteilung eines entsprechenden Hinweises im Eröffnungsbeschluss in Betracht, um § 265 StPO Genüge zu tun (Schneider in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage, § 207, Rn. 9).

Indes: da niemand hellsehen kann, wird es immer wieder Fälle geben, in denen sich die Motivation nach Durchführung der Beweisaufnahme überraschenderweise anders darstellt, als dies nach Aktenlage der Fall war. In einem solchen Fall führt schon bei kleinsten Abweichungen kein Weg an einem Hinweis nach § 265 StPO vorbei, will man nicht sehenden Auges eine zumindest teilweise Aufhebung des Urteils riskieren! 

Arbeitshilfe zur Strafrahmenverschiebung

Die Arbeitshilfe zur Strafrahmenverschiebung (§ 49 Abs. 1 StGB) ist ein 1-seitiges pdf-Dokument. Sie steht unter dem Motto „iudex non calculat“ und darf von jedermann und jederfrau nach Lust und Laune unverändert (!) verwendet und weitergegeben werden. Alle Angaben sind ohne Gewähr, feedback sowie Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge sind jederzeit willkommen!

SOS – Schwätzer ohne Sachverstand

Im letzten Beitrag hatte ich über die zunehmende Knappheit an qualifizierten psychiatrischen Sachverständigen berichtet. Heute will ich erzählen, was ich unlängst mit einem Sachverständigen erlebt habe, der mir bis dato unbekannt war – und um den ich zukünftig einen großen Bogen machen werde. Ein SOS – Schwätzer ohne Sachverstand!

Das Verfahren liegt erst einige Monate zurück und spielte sich ausnahmsweise nicht im Schwurgericht ab, sondern in einer normalen großen Strafkammer, die in einer ungewöhnlichen Besetzung verhandelte. Sowohl der Vorsitzende, der mittlerweile pensioniert ist, als auch ich waren durch die Vertretungskette in die Kammer gelangt. Lediglich die zweite Beisitzerin gehörte zur Originalbesetzung. Der Grund hierfür lag darin, dass der Angeklagte gemäß § 126a StPO einstweilig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und die Frist des § 121 StPO abzulaufen drohte, während zwei Drittel der Kammermitglieder im Urlaub weilten.

Vorgeworfen wurde Angeklagten eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil seiner Ehefrau, begangen im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit infolge einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Nach Durchführung der Beweisaufnahme stand fest, dass sich die Ehefrau von ihm hatte trennen wollen, womit er nicht einverstanden war. Um sie umzustimmen, bat er einen gemeinsamen Bekannten darum, zwischen ihm und seiner Ehefrau zu vermitteln. Zu diesem Zweck trafen sich die drei Personen in einer Bäckerei. Nachdem sich das Gespräch nicht in die von ihm gewünschte Richtung entwickelt hatte, geriet der Angeklagte in Wut und fügte seiner Ehefrau mit einem stumpfen Messer eine kleine Verletzung an der Wange zu. Anschließend stürmte er aus der Bäckerei und verschwand.

Es folgte – gleichsam als Abschluss der Beweisaufnahme – der Auftritt des psychiatrischen Sachverständigen, der anfangs durchaus sympathisch wirkte. Er berichtete von der Untersuchung des Angeklagten und dessen Angaben zu seinem Lebenslauf. Aufgewachsen sei der Angeklagte im Irak. Seine Familie sei dort so wohlhabend gewesen, dass er nicht habe arbeiten müssen. Dennoch habe sich der Angeklagte – aus welchen Gründen auch immer – gemeinsam mit seiner Ehefrau auf den Weg nach Europa gemacht. In der Türkei habe er eine Zeit lang in einer Autowerkstatt gearbeitet, bevor er über die Balkanroute nach Deutschland gelangt sei.

SOS – Schwätzer ohne Sachverstand?

Zur psychiatrischen Einordnung sei vorauszuschicken, dass das mit der Diagnose Persönlichkeitsstörung ja nicht so einfach sei. Zum einen sei die Abgrenzung zwischen Persönlichkeitsakzentuierung und Persönlichkeitsstörung im Einzelfall schwierig. Zum anderen müsse der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit dahingehend bewertet werden, ob das Eingangskriterium einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB erfüllt sei. Ich nickte innerlich und war mir sicher, das Ergebnis zu kennen: Persönlichkeitsakzentuierung ja, Persönlichkeitsstörung nicht sicher feststellbar, also kein Eingangskriterium und damit volle Schuldfähigkeit und keine Unterbringung gem. § 63 StGB. Derartiges erwarteten offensichtlich auch die übrigen Juristen im Saal, denen unisono die Gesichtszüge entglitten, also der Sachverständige sein Ergebnis präsentierte: ausgeprägte Persönlichkeitsstörung von der Qualität einer schweren anderen seelischen Abartigkeit, Steuerungsfähigkeit sicher erheblich vermindert, der Angeklagte sei allgemeingefährlich und ein Fall für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Der Vorsitzende befragte der Sachverständigen und konfrontierte ihn damit, dass der Angeklagte unbestraft und selbst nach Angaben seiner Ehefrau zuvor nie gewalttätig gewesen sei. Das ändere nichts, so der Sachverständige. Als mir das Wort erteilt wurde, versuchte ich, den Spieß umzudrehen und fragte, woran den nun die Persönlichkeitsstörung positiv festzumachen sei. Antwort: an der Tat und dem Umstand, dass der Angeklagte noch nie in seinem Leben gearbeitet habe, was Ausdruck seiner ausgeprägten Dissozialität sei. Meinen Einwand, dass dies ja wohl nicht ganz stimme – Stichwort Autowerkstatt in der Türkei – schob der Sachverständige lächelnd beiseite. Das sei ja nur von kurzer Dauer gewesen. Ich ließ nicht locker und wies darauf hin, dass der Angeklagte Irak ja eigenen Angaben zufolge nicht habe arbeiten müssen und dass er Deutschland gegenwärtig nicht arbeiten dürfe. Das einzige was sich änderte, war der Tonfall des Sachverständigen, der nun einen deutlich genervten Klang bekam.

Der Vorsitzende zog die Befragung nun wieder an sich und begann mit einem längeren Monolog, dessen Kernaussage sich ungefähr wie folgt zusammenfassen lässt: Aufgrund seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung könne er schon aufgrund der Herkunft des Angeklagten mit Gewissheit sagen, dass Gewalt gegen die trennungswillige Ehefrau nicht Ausdruck einer psychischen Störung, sondern sozialadäquates Verhalten sei. In der Levante würden alle Männer, egal welcher ethnischen Herkunft und welches Glaubens, Christen, Juden, Muslime und Jesiden, ihre Ehefrauen züchtigen, wenn diese sich ihnen widersetzen. Ich wusste kaum noch, wo ich hinschauen sollte…

Gewalt als sozialadäquates Verhalten?

Erwartungsgemäß blieb der Sachverständige bei seiner Einschätzung und wir hatten ein Problem: wer schon einmal versucht hat, in einem Urteil von der Einschätzung des Sachverständigen unter Berufung auf eigene Sachkunde abzuweichen, wird im Regelfall keine Lust verspüren, derartiges zu wiederholen. Also verständigten wir uns darauf, die Oberärztin zu befragen, die in der Maßregelvollzugseinrichtung für den Angeklagten zuständig war. Auch der Sachverständige war von dieser Entscheidung angetan, zumindest behauptete er das.

Am nächsten Hauptverhandlungstag erschien diese Oberärztin und nahm im Zeugenstand Platz. Der Vorsitzende bat sie, der Verlauf der einstweiligen Unterbringung zu schildern und die aktuelle Diagnose mitzuteilen. Die Oberärztin berichtete über ein völlig unauffälliges Verhalten des Angeklagten über die letzte viereinhalb Monate hinweg, eine psychiatrische Diagnose sei aus ihrer Sicht nicht zu stellen. Von einer Persönlichkeitsstörung könne keine Rede sein, die einstweilige Unterbringung sei aus ihrer Sicht eine Fehlentscheidung.

Der einzige im Saal, der Fragen an die Zeugin stellte, was der psychiatrische Sachverständige, der im Anschluss mit schneidender Stimme erklärte, er bleibe bei seiner Einschätzung und anschließend schnaubend den Sitzungssaal verließ. Danach ging das Verfahren schnell und ruhig zu Ende. Der Angeklagte bekam eine Bewährungsstrafe, das Urteil wurde von keiner Seite angegriffen.

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften, wird es für Rechtsanwender und Betroffene schwierig. Während der Gesetzgeber nicht zuletzt als Reaktion auf den sog. „Fall Mollath“ Maßregelpatienten in kürzeren Abständen (§ 463 Abs. 4 StPO) extern begutachten lassen will und das Bundesverfassungsgericht an die Begründung von Fortdauerentscheidungen hohe Anforderungen stellt, werden psychiatrische Sachverständige mit forensischer Erfahrung immer seltener – und Besserung ist nicht in Sicht!

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften…

Gut gemeint hat es der Gesetzgeber, daran besteht kein Zweifel. Ausgehend davon, dass sowohl die Zahl der gem. § 63 StGB in psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachten Personen als auch deren durchschnittliche Verweildauer im Maßregelvollzug seit Jahren angestiegen ist, sah er die Notwendigkeit einer häufigeren externen Überprüfung. Im Gesetzentwurf (BT-Drucksache 18/7244) heißt es hierzu: „Zur Steigerung der Qualität von Fortdauerentscheidungen soll eine externe Begutachtung künftig grundsätzlich nach jeweils drei Jahren vollzogener Unterbringung nach § 63 StGB erfolgen, nach einer Unterbringungszeit von sechs Jahren alle zwei Jahre. Dies ermöglicht eine objektivere Beurteilung der der Unterbringung zugrundeliegenden diagnostischen und prognostischen Einschätzungen sowie der Entwicklungen im Rahmen der in Anspruch genommenen Therapieangebote im Maßregelvollzug. Die Erhöhung der Frequenz unterstreicht auch den bereits vom Bundesverfassungsgericht betonten Gesichtspunkt, dass das Gutachten nicht durch „Belange der Maßregelvollzugseinrichtung“ beeinflusst werden soll. Mit einer externen Begutachtung wird schon dem bloßen Anschein entgegengetreten, der Inhalt des Gutachtens könne womöglich auch durch das Interesse an der Auslastung der Einrichtung und deren wirtschaftlichen Erfolg mitbestimmt sein, gerade vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren in einigen Ländern Maßregelvollzugseinrichtungen privatisiert worden sind. Zudem weisen Einzelstudien darauf hin, dass unterschiedliche Unterbringungsdauern und Lockerungsentscheidungen wesentlich auch von der jeweiligen Klinik und ihrem Personal abhängen.“

Das klingt vernünftig, aber schon der erste Satz wirft Fragen auf. Eine Erhöhung der Quantität soll regelhaft zu einer Steigerung der Qualität führen?Viel hilft viel!“ – das gilt manchmal, aber nicht immer! Natürlich verstehe ich den gesetzgeberischen Ansatz. Je länger die Unterbringung dauert, desto mehr Bedeutung gewinnt das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten  – Stichwort Verhältnismäßigkeit – und desto engmaschiger und kritischer soll die externe Kontrolle sein. Und um diese Kontrolle zu gewährleisten, regelt das Gesetz (§ 463 Abs. 4 Satz 3 bis 5 StPO) weitere Einzelheiten: „Der Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet, noch soll er das letzte Gutachten bei einer vorangegangenen Überprüfung erstellt haben. Der Sachverständige, der für das erste Gutachten im Rahmen einer Überprüfung der Unterbringung herangezogen wird, soll auch nicht das Gutachten in dem Verfahren erstellt haben, in dem die Unterbringung oder deren späterer Vollzug angeordnet worden ist. Mit der Begutachtung sollen nur ärztliche oder psychologische Sachverständige beauftragt werden, die über forensisch-psychiatrische Sachkunde und Erfahrung verfügen.“

Unabhängig, kompetent und kritisch soll der externe Sachverständige sein!

Das ist alles gut und richtig. Allein – woher sollen die Heerscharen von unabhängigen, forensisch erfahrenen Psychiatern und Psychologen kommen, deren Existenz der Gesetzgeber offenbar voraussetzt? Menschen, die sowohl die Expertise als auch das Selbstbewusstsein haben, die Behandler im Maßregelvollzug zu kontrollieren und ihnen, wenn nötig, zu widersprechen?  Die sich beispielsweise zu sagen trauen: „Obwohl der Untergebrachte vor einigen Jahren im Zustand einer akuten Psychose mehrere Menschen getötet hat, halte ich ihn – im Gegensatz zu den behandelnden Ärzten – mittlerweile für ungefährlich und befürworte eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung!“ Bei uns in Lüneburg, das kann ich aus meiner Tätigkeit im Schwurgericht und in der Strafvollstreckungskammer sagen, gibt es derer gegenwärtig noch zwei. Einer der beiden hat das Eintrittsalter der gesetzlichen Rentenversicherung bereits hinter sich gelassen. Versuche mit „auswärtigen“ Sachverständigen, wenn sie denn überhaupt Zeit und Lust hatten, für uns tätig zu werden, brachten sehr gemischte Ergebnisse. Spätestens wenn man versucht, einen erfahren Sachverständigen (einen alten Haudegen und Veteranen des Maßregelvollzuges) zu veranlassen, sein Gutachten nach den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erstatten, stößt man an unüberwindliche Grenzen. Statistische Prognoseinstrumente sind was für Anfänger und Angsthasen…

Die Zeit drängt – es fehlt der Nachwuchs!

Mit anderen Worten: die Lage ist ernst, und sie wird sich absehbar eher verschlechtern als verbessern. Offenbar hat fast niemand mehr Lust, sein Berufsleben als selbständiger forensischer Psychiater zu verbringen. An den Verdienstmöglichkeiten liegt es sicher nicht – woran dann? Das habe ich vor einiger Zeit einen Psychiater gefragt. Seine Antwort war in etwa folgende: Wenn sich jemand dafür entscheidet, Arzt zu werden und mit Medizin studiert, ist die Entscheidung für die Psychiatrie an sich schon exotisch. Wer sich dennoch mit Erfolg in diesem Fach etabliert, kann sich seinen Job quasi aussuchen. Gegen die Tätigkeit als selbständiger Psychiater spricht zum einen, dass man von seinen Auftraggebern – sprich den Gerichten – und deren Launen abhängig ist. Zugegeben, das ist keine schöne Vorstellung, Verteidiger werden mir zustimmen. Und zum anderen, dass  das ärztliche Selbstverständnis (Halbgötter in Weiß) kritische Rückfragen oder gar entschiedenen Widerspruch von medizinischen Laien (Juristen) nicht oder nur sehr schwer erträgt.

Ob das alles so stimmt, kann ich nicht sagen, aber ich fand die Antwort zumindest plausibel. Wenn es auch nur zum Teil stimmt, muss sich Im Interesse sowohl der Untergebrachten als auch der öffentlichen Sicherheit dringend etwas ändern, und zwar bald! Denn Sachverständige lassen sich nicht per Gesetz erschaffen und auch nicht über Nacht ausbilden. Ein Ansatz bestünde möglicherweise darin, die Landeskriminalämter neben Chemikern und Biologen auch Psychiater und Psychologen anstellen zu lassen. Damit wäre zumindest deren wirtschaftliche  Abhängigkeit von einzelnen Richtern bzw. Kammern überwunden. Ob Verteidiger das für eine gute Idee halten, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie ja bessere Vorschläge?

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“? Stellt der (nur) bedingte Tötungsorsatz einen Strafmilderungsgrund dar? Oder darf der direkte Tötungsvorsatz strafschärfend berücksichtigt werden? Diese Fragen stellen sich beim Totschlag (§ 212 StGB). Und zwar sowohl im Hinblick auf die Strafrahmenwahl (minder schwerer Fall gem. § 213 StGB?) als auch bei der eigentlichen Strafzumessung (§ 46 StGB)!

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Bis vor wenigen Jahren galt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung folgendes: „Hat das Tatgericht im Rahmen der Strafzumessung ausdrücklich strafschärfend gewertet, dass es dem Angeklagten unbedingt darauf angekommen sei, seine Ehefrau zu töten, und er nicht nur mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe, so verstößt dies gegen das Doppelverwertungsverbot gem. § 46 Abs. 3 StGB .“ (BGH, 10.01.2018, 1 StR 3/15). Der 2. Strafsenat, so heißt es bei Fischer (StGB 66. Auflage, § 212, Rn. 18a), habe „diese Rechtsprechung aufgebeben“. Das klingt auf den ersten Blick merkwürdig. Seit wann gibt ein Senat die Rechtsprechung der übrigen auf?

Zum Sachverhalt teilt die Entscheidung (BGH, 10.01.2018, 2 StR 150/15) mit: „Nach den Feststellungen des Schwurgerichts beschloss der 74 Jahre alte Angeklagte am 22. Oktober 2013, seine erheblich jüngere und Trennungsabsichten hegende Ehefrau zu töten. In Ausführung dieses Tatentschlusses griff er sie auf der Kellertreppe des gemeinsamen Wohnanwesens an und schlug ihr einen Gegenstand gegen den Kopf, wodurch sie zu Fall kam und die Kellertreppe hinabstürzte. Nunmehr ergriff der Angeklagte einen etwa 2,8 Kilogramm schweren Feuerlöscher und schlug damit in Tötungsabsicht mindestens fünf Mal wuchtig auf den Kopf seiner am Boden liegenden Ehefrau ein. Sie erlitt durch diese mehrfachen, massiven Gewalteinwirkungen multiple offene Schädel-Hirn-Verletzungen. Weitere stumpfe Gewalteinwirkungen gegen den Oberkörper des Tatopfers führten zu zahlreichen Rippenbrüchen, die zu einer mehrfachen Durchsetzung der Brusthöhle und zu Einblutungen in die Lunge führten. Die Ehefrau des Angeklagten verstarb aufgrund der erlittenen massiven Verletzungen innerhalb weniger Minuten.“

Das Schwurgericht des LG Köln hatte bei der Prüfung der Frage, ob die Tat als ein (sonst) minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne des § 213 StGB anzusehen ist, zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er „den Tod seiner Ehefrau absichtlich und zielgerichtet herbeiführen wollte“. Auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne hatte das Schwurgericht neben der brutalen Tatausführung strafschärfend „die Tatsache“ berücksichtigt, dass der Angeklagte seine Ehefrau „absichtlich getötet hat“.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs kam zu dem – zweifellos richtigen – Ergebnis, dass er das Urteil auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung wegen Verstoßes gegen das Doppelverwertungsverbot hätte aufheben müssen.

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Weil er das – offenbar in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt – nicht wollte, leitete ein Anfrageverfahren gemäß § 132 Abs. 3 GVG ein, in dem er ankündigte entscheiden zu wollen, dass bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt die Feststellung von Tötungsabsicht zu Lasten des Angeklagten strafschärfend berücksichtigt werden kann. Zum Ergebnis dieser Anfrage teilt das Urteil (s.o.) mit: „Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben in ihren Antwortbeschlüssen mitgeteilt, dass sie der durch den Senat formulierten Anfrage, dass beim vorsätzlichen Tötungsdelikt die Feststellung von Tötungsabsicht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden könne, grundsätzlich zustimmen und entgegenstehende eigene Rechtsprechung aufgeben.“ Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten: direkter Tötungsvorsatz kann grundsätzlich im Rahmen einer Einzelfallprüfung als strafschärfender Umstand herangezogen werden!

Vielleicht doch ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot?

Im konkreten Fall („Feuerlöscher“) hätte sich meines Erachtens aber noch eine andere Frage gestellt, die der 2. Senat – möglicherweise im Überschwang der Gefühle angesichts des erfolgreichen Anfrageverfahrens – in seinem Urteil nicht thematisiert: Darf der direkte Tötungsvorsatz sowohl bei der Strafrahmenwahl (hier: Versagung eines minder schweren Falls) als auch bei der Strafzumessung im engeren SInne zum Nachteil der Angeklagten berücksichtigt werden?

Ich habe da gewisse Zweifel, um das vorsichtig auszudrücken, und denke dabei an eine Entscheidung des 5. Strafsenats (BGH, 12.05.2016, 5 StR 102/16): „Hingegen beanstandet der Generalbundesanwalt zurecht, dass das Landgericht die Vollendungsnähe und Gefährlichkeit des Versuchs, auf die es bereits zur Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB abgestellt hat, bei der konkreten Strafzumessung erneut herangezogen hat, indem es dort die durch die Verletzungen hervorgerufene akute Lebensgefahr strafschärfend berücksichtigt hat. Es verstößt gegen den Rechtsgedanken des § 46 Abs. 3 StGB, innerhalb des wegen der Erfolgsnähe nicht verschobenen Strafrahmens diese nochmals zu Lasten des Angeklagten zu gewichten.“

Ähnlich hat sich der 1. Strafsenat (BGH, 17.02.2016, 1 StR 12/16) geäußert: „Zwar mag die Wertung der Strafkammer rechtlich noch vertretbar sein, dem Angeklagten wegen der Nähe zur Tatvollendung eine Versuchsmilderung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB zu versagen. Soweit die Strafkammer vor dem Hintergrund dieser getroffenen Strafrahmenwahl allerdings zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Gesundheit der im Haus schlafenden Personen erheblich gefährdet gewesen sei, ist diese Erwägung nicht rechtsfehlerfrei. Das Landgericht lässt dabei unberücksichtigt, dass der Strafzumessung der – über § 21 StGB gemilderte – gesetzliche Normalstrafrahmen für eine vollendete Tatbegehung nach § 211 StGB zugrunde liegt. Innerhalb dieses Strafrahmens neuerlich die Erfolgsnähe aufgrund der erheblichen Gefährdung der im Haus schlafenden Personen und damit gerade ein bestimmendes Merkmal des Tatbestands zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen, ist mit § 46 Abs. 3 StGB unvereinbar.“

Zwischen Mordmerkmalen ist Wahlfeststellung möglich!

Die Verurteilung durch das Landgericht Gießen wegen Ermordung der 8-jährigen Johanna im Jahr 1999 ist rechtskräftig so eine heute vom BGH veröffentlichte Pressemitteilung. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten habe der 2. Strafsenat durch Beschluss vom 24. September 2019 ohne weitere Begründung verworfen. Damit bleibt es dabei: zwischen Mordmerkmalen ist Wahlfeststellung möglich!

Zum Tatgeschehen heißt es in der Pressemitteilung: „Nach den Feststellungen des Landgerichts fuhr der heute 42-jährige Angeklagte am Nachmittag des 2. September 1999 durch die Wetterau, um nach einem ihm geeignet erscheinenden Mädchen zu suchen, das er betäuben, an einen abgelegenen Ort verbringen, fesseln und sexuell missbrauchen wollte. Er näherte sich der neben einem Sportplatz spielenden achtjährigen Johanna, betäubte sie mit Chloroform und legte sie in den Kofferraum seines Fahrzeugs. Im Folgenden fesselte er sie, überklebte ihr Augen und Mund mit einem Gewebeklebeband und wickelte sodann ein 15 Meter langes Paketklebeband 28 Mal um ihren Kopf, was zum Ersticken führte. Sexuelle Handlungen an dem Mädchen konnten nicht festgestellt werden. Den Leichnam des Kindes legte der Angeklagte in einem Waldstück ab, wo Spaziergänger im April 2000 die sterblichen Überreste entdeckten. Das Landgericht hat ferner festgestellt, dass der Angeklagte das Paketklebeband um den Kopf des Mädchens gewickelt hatte, um entweder seine fetischistischen Neigungen zu befriedigen, wobei er den Tod des Mädchens billigend in Kauf nahm, oder um das Mädchen aus Sorge, sein gewaltsames Vorgehen könnte entdeckt werden, zu töten.

Das Landgericht habe den Angeklagten deshalb zu Recht wegen Mordes, begangen entweder zur Befriedigung des Geschlechtstriebes oder um eine andere Straftat zu verdecken, § 211 Abs. 2 StGB, in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung verurteilt. Darüber hinaus habe es den Angeklagten wegen Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften, die 2017 anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung beim Angeklagten sichergestellt worden seien, schuldig gesprochen. Das Landgericht habe gegen den Angeklagten eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verhängt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt.

Zwischen Mordmerkmalen ist Wahlfeststellung möglich!

Mit seiner Entscheidung bestätigt der 2. Strafsenat ältere Entscheidungen, denen zufolge eine Verurteilung „bei der alternativen Verwirklichung verschiedener Mordmerkmale rechtlich möglich“ ist , wenn „bei sämtlichen Sachverhaltsvarianten, welche der Tatrichter nach Ausschöpfung aller Beweismittel unter Ausschluß anderweitiger Geschehensabläufe für möglich erachtet, eines der Mordmerkmale erfüllt ist.“ (BGH, 16.12.1998 , 2 StR 340/98, NStZ-RR 1999, 106). Dies soll jedenfalls für sog. täterbezogene Mordmerkmale (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, sonst niedrige Beweggründen, Ermöglichungs- oder Verdeckungsabsicht) gelten (Laubhütte in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auflage, 16. Abschnitt „Straftaten gegen das Leben“).
Hierzu hat der 4. Strafsenat breits vor mehr als 50 Jahren entschieden: „ Die in § 211 Abs. 2 StGB aufgezählten Beweggründe der Tötung (einschließlich der Tötung, um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken) werden vom allgemeinen Rechtsempfinden in gleicher Weise sittlich mißbilligt. Die Verwirklichung jedes einzelnen auf sie bezüglichen Merkmals des § 211 Abs. 2 StGB ist gleichermaßen und aus gleichen Gründen verachtenswert. Demgemäß hat der Gesetzgeber die von ihm aufgeführten Tatbestände als Mord ohne Einschränkung in gleicher Weise als besonders verwerflich angesehen und deshalb mit derselben höchsten und unbedingten Strafe bedroht. Eine gleichgeartete seelische Haltung des Mörders bei den hier in Frage stehenden beiden Beweggründen, die wenigstens einigermaßen gegeben sein muß, ist ebenfalls zu bejahen.“ (BGH, 01.12.1967, 4 StR 523/67, BGHSt 22, 12).

Die „besondere Schwere der Schuld“

Wenn von der „besonderen Schwere der Schuld“ die Rede ist, ist regelmäßig § 57a StGB gemeint. Nach dieser Vorschrift kann der Rest einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind (§ 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB), die Reststrafenaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57a Abs. 1 Nr. Nr. 3 i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB), die verurteilte Person einwilligt (§ 57a Abs. 1 Nr. Nr. 3 i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und – worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll – nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet.

Welches Gericht die Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld zu treffen hat, ist gesetzlich eigentlich dahingehend geregelt, dass gemäß § 462a StPO die Strafvollstreckungskammer zuständig ist. Das ist eine Kammer desjenigen Landgerichts, in dessen Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht (03.06.1992, 2 BvR 1041/88, NJW 1992, 2947) entschieden: „Die Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen der §§ 454, 462 a StPO und des § 74 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GVG sind mit dem Grundgesetz nur dann vereinbar, wenn die für die Bewertung der Schuld gemäß § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erheblichen Tatsachen im Erkenntnisverfahren vom Schwurgericht festgestellt und im Urteil dargestellt werden, wenn das Urteil darüber hinaus auf dieser Grundlage die Schuld – unter dem für die Aussetzungsentscheidung erheblichen Gesichtspunkt ihrer besonderen Schwere – gewichtet und wenn das Vollstreckungsgericht daran gebunden ist.“ Dahinter steckt die Überlegung, dass letztlich nur diejenigen Richter die Schuldschwere beurteilen können, die „die objektiven und subjektiven Faktoren der individuellen Schuld“ anhand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung kennen. Im Ergebnis entscheidet also das Schwurgericht über die Frage, ob eine „besondere Schwere der Schuld“ im Sinne von § 57a StGB vorliegt oder nicht und spricht dies gegebenenfalls im Urteilstenor aus („Die Schuld des Angeklagten wiegt besonders schwer.“).

Unter welchen Voraussetzungen ist nun eine solche Feststellung zu treffen? Der Bundesgerichtshof verlangt eine „zusammenfassende Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit“ anhand von Umständen, „die Gewicht haben“. In Betracht kommen beispielsweise eine besondere Verwerflichkeit der Tatausführung oder der Motive, mehrere Opfer bei einer Tat, die Begehung mehrerer Mordtaten oder – im oder ohne Zusammenhang mit dem Mord begangene – weitere schwere Straftaten (BGH, 22.11.1994, GSSt 2/94, NJW 1995, 407).

Beispiel aus der Praxis gefällig? Kein Problem! In einem Fall, in dem  der Angeklagte seine auf dem Sofa schlafende Ehefrau mit Benzin übergossen, angezündet und auf diese Weise getötet hatte, hat das Landgericht Lüneburg (25.05.2016, 27 Ks 1/16) seine Entscheidung wie folgt begründet: „Die Kammer hat darüber hinaus die besondere Schwere der Schuld im Sinne von § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB festgestellt, weil das gesamte Tatbild einschließlich der Täterpersönlichkeit von den erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Mordfällen so sehr abweicht, dass eine Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach 15 Jahren auch bei dann günstiger Täterprognose unangemessen wäre. Dabei war zu bedenken, dass hier sowohl ein täterbezogenes (niedrige Beweggründe) als auch ein tatbezogenes (grausam) Mordmerkmal erfüllt sind und sich der Angriff außerdem gegen einen schlafenden und damit wehrlosen Menschen richtete. Schulderhöhend wirkte sich ferner das tateinheitlich begangene Brandstiftungsdelikt aus, das bereits für sich genommen einen Verbrechenstatbestand erfüllt und neben dem Rechtsgut Leben auch das Eigentum  – hier des Vermieters des Angeklagten in Brand gesetzten Hauses – schützt. Darüber hinaus spricht gegen den Angeklagten, dass er nach den Feststellungen B.B. über einen Zeitraum von mindestens 18 Jahren, beginnend während ihrer ersten Schwangerschaft, immer wieder geschlagen, getreten, mit dem Tode bedroht und sie in den letzten beiden Jahren vor der Tat von ihren Schwestern, den Nebenklägerinnen, isoliert hat. Dies hatte zur Folge, dass B.B. über Jahre in permanenter Angst vor seinen tätlichen Übergriffen lebte, wobei sich die Angst in den Monaten vor der Tat zu der Gewissheit verdichtete, dass er sie früher oder später umbringen werde. Hinzu kommen die Bedrohungen zum Nachteil der Nebenklägerinnen („Du musst deine Schwester verbrannt sehen! Dich und Deine andere Schwester werde ich in den Wald bringen, vergewaltigen und umbringen!“). Dass er hierfür strafrechtlich nie zur Verantwortung gezogen wurde, beruht auf der Angst und der Scham, die B.B. davon abhielten, ihn anzuzeigen, und der Rücksichtnahme der Nebenklägerinnen auf ihre Schwester. Unter diesen Umständen fällt der Umstand, dass er unbestraft ist, nicht entscheidend ins Gewicht. Zwischen allen Taten einschließlich des Mordes an B.B. besteht ein innerer Zusammenhang, denn das gemeinsame Motiv war die erzwungene Geldbeschaffung durch B.B., die schließlich in den Entschluss mündete, sich ihrer zu entledigen, als ihre Möglichkeiten diesbezüglich erschöpft waren.“ Das Urteil wurde mit der Verwerfung der Revision des Angeklagten durch den Bundesgerichtshof rechtskräftig. Damit ist klar: eine Reststrafenaussetzung nach 15 Jahren wird es für diesen Täter nicht geben!

Offen ist hingegen, wie lange er mindestens wird verbüßen müssen, denn diese Entscheidung fällt nicht in die Zuständigkeit des Schwurgerichts. Die Entscheidung über die Mindestverbüßungsdauer trifft die Strafvollstreckungskammer „auf der Grundlage einer vollstreckungsrechtlichen Gesamtwürdigung des Unrechts- und des Schuldgehalts der mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndeten Taten“ (BVerfG, 22.05.1995, 2 BvR 671/95, NStZ 1996, 53). Dabei sind auch „die progressive Steigerung der mit dem Fortschreiten der Zeit und dem Ansteigen des Lebensalters sich ergebenden Straf- und Vollzugswirkung“ und der  Gesundheitszustand des Verurteilten zu berücksichtigen sowie der Umstand, dass er eine „realisierbare Chance“ haben muss, „der Freiheit wieder teilhaftig zu werden“, wobei es sich nicht nur um einen „von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest“ handeln darf (BVerfGG, a.a.O.). Einen verbindlich Endzeitpunkt der Verbüßungsdauer einer lebenslangen Freiheitsstrafe gibt es nicht.

Zur Berechtigung eines Mindestverbüßungsdauer von 30 Jahren hat das OLG Hamm (13.11.2018, 1 Ws 561/18) ausgeführt: „Taten (und Täter), die einen auch nur annähernd vergleichbaren Grad an Rücksichtslosigkeit, Kaltherzigkeit und Grausamkeit aufweisen, kommen auch in der Spruchpraxis des landesweit für Entscheidungen nach § 57a StGB zuständigen Senats nicht häufig vor.“ Auch eine Vollstreckungszeit von 38 Jahren kann im Einzelfall noch verfassungsgemäß sein (BVerfG, 21.12.1994, 2 BvR1697/93, NJW 1995, 3244).

Arbeitshilfe zum Affekt (sog. „Saß-Kriterien“)

Die Heranziehung der „Saß-Kriterien“ zur Beurteilung des Vorliegens und des Ausmaßes eines Affekts bzw. einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne von § 20 StGB ist vom BGH anerkannt (BGH, 13.07.2016, 1 StR 128/16).

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