Die Arbeitshilfe zum Affekt ist ein 1-seitiges pdf-Dokument. Sie steht unter dem Motto „Das Wichtigste in Kürze“ und darf von jedermann und jederfrau nach Lust und Laune unverändert (!) verwendet und weitergegeben werden. Alle Angaben sind ohne Gewähr, feedback sowie Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge sind jederzeit willkommen!
stellt sich mitunter die Frage, welches Recht eigentlich anwendbar ist. Stellen Sie sich folgenden Fall vor: in der Türkei hat sich eine Gruppe irakischer Staatsangehöriger darauf spezialisiert, geflüchtete Landsleute illegal auf dem Seeweg ins nahe gelegene Griechenland zu bringen. Irgendwo zwischen der türkischen und der nur wenige Kilometer entfernten griechischen Küste bricht der völlig überladene Seelenverkäufer auseinander und sinkt. Mehrere Menschen kommen in der Folge ums Leben.
Frage: Wie haben sich die Schleuser strafbar gemacht? Anwort: Nach deutschem Recht! Und zwar wegen versuchter Schleusung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter banden- und gewerbsmäßiger Schleusung gem.§§ 96,97 AufenthG! Noch nie gehört? Ging mir ehrlich gesagt auch so, obwohl es sich – wie ein Blick in § 74 Abs. 2 Nr. 29 GVG zeigt – um eine „Katalogtat“ handelt, für die das Schwurgericht zuständig ist.
Aber warum ist überhaupt deutsches Recht anwendbar in einem Fall, der sich im Mittelmeer abspielt und an dem weder eine deutsches Schiff noch ein deutscher Täter oder ein deutsches Opfer beteiligt sind? Der 5. Strafsenat hat dazu in einem heute veröffentlichten Urteil (BGH, 14.08.2019, 5 StR 228/19) ausgeführt: „Deutsches Strafrecht ist anwendbar. Der Angeklagte hat zwar als Ausländer im Ausland gehandelt, wobei auch die Voraussetzungen der §§ 5 bis 7 StGB nicht vorliegen. Die Strafbarkeit nach deutschem Recht bestimmt aber § 96 Abs. 4 AufenthG. Danach sind die Schleuserstraftatbestände in § 96 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a, Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 und 5 und Abs. 3 AufenthG auf Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder eines Schengen-Staates anzuwenden, wenn sie den in § 95 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 oder Abs. 2 Nr. 1 AufenthG bezeichneten Handlungen entsprechen und der Täter einen Ausländer unterstützt, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum besitzt. Mit dieser Regelung ist der deutsche Gesetzgeber seiner früher in Art. 27 SDÜ geregelten Verpflichtung aus der Richtlinie 2002/90/EG (in Verbindung mit dem Rahmenbeschluss 2002/946/JI vom 28. November 2002) nachgekommen, wonach die Mitgliedstaaten der EU gehalten sind, nicht nur die unerlaubte Ein-bzw. Durchreise sowie den unerlaubten Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet, sondern auch betreffend das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten zu sanktionieren(BT-Drucks. 16/5065, S. 200).“ Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich…
Überführt wurde der Angeklagte offenbar vor allen durch Angaben, die er gegenüber einer von der Bundespolizei eingesetzten Vertrauensperson (VP) gemacht hatte. Hierzu führte der Senat aus: „Die VP trat im September 2017 mit dem bis dahin nicht beschuldigten Angeklagten in Kontakt und gab sich als „Handy-Händler“ aus, der ein Geschäft eröffnen wolle und dafür Mitarbeiter suche. Der Angeklagte erzählte ihr darauf, er habe sieben Jahre in der Türkei gearbeitet und Menschen nach Griechenland geschleust. Die VP täuschte vor, sie benötige Hilfe dabei, ihre Schwester nach Deutschland zu schleusen. Bei einem weiteren Treffen im September 2017 berichtete der An-geklagte weiter von seiner Einbindung in Schleusungstaten. Etwa einen Monat später erläuterte der Angeklagte der VP in Zusammenhang mit deren Frage nach einer Schleusung ihrer Schwester, dass er im September 2017 in ein Bootsunglück mit Flüchtlingen involviert gewesen sei. Später machte er noch weitere Angaben und bot seine Mitwirkung bei der Schleusung der Schwester der VP an. Ein Verwertungsverbot folgt aus diesem Vorgehen nicht. Weder wurde damit eine zuvor erklärte Berufung auf das Schweigerecht missachtet, noch wurde der Angeklagte von der Vertrauensperson unzulässig unter Druck gesetzt. Ein Verstoß gegen § 136a Abs. 1, § 136 Abs. 1 i.V.m. § 163a Abs. 4 StPO ist mit solchen Befragungen durch Informanten der Polizei regelmäßig nicht verbunden. Schutz vor Irrtum gewährt der nemo-tenetur-Grundsatz nicht.“
Einen Verstoß gegen § 247a Abs. 1 StPO – nicht der Vorsitzende allein, sondern das Gericht entscheidet über die Anordnung einer audiovisuellen Zeugenvernehmung – sah der BGH als geheilt an:„Keinen Erfolg hat auch die Rüge eines Verstoßes gegen § 247a Abs. 1 StPO. Zwar hat die Strafkammer den entsprechenden Beschluss erst nach der Vernehmung verkündet. Hierdurch wurde aber der zunächst begangene Rechtsfehler geheilt. Mit diesem nachträglichen Beschluss hat der gesamte Spruchkörper die Verantwortung für diese besondere Form der Beweiserhebung übernommen. Zugleich wurde jedenfalls kurz der Grund für die Videovernehmung der beiden Zeugen genannt, die nicht nach Deutschland einreisen. Rechtliches Gehör wurde dem Angeklagten dadurch ausreichend gewährt, dass die Frage der Videovernehmung in der Hauptverhandlung schon längere Zeit diskutiert worden war.“
Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ ist ein schillernder Begriff, mit dem psychiatrische Sachverständige mitunter (zu) großzügig umgehen. Dies gilt insbesondere für die „emotional instabile“ und die „dissoziale“ Persönlichkeitsstörung. Oft werden Angeklagte in diese Schubladen gesteckt, die zu impulsiven Gewalttaten („emotional instabil“) oder wiederholten Gesetzesübertretungen („dissozial“) neigen. Die rechtlichen Folgen können äußerst einschneidend sein: wenn die Persönlichkeitsstörung die Qualität einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne von § 20 StGB erreicht, kommt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus(§ 63 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) in Betracht!
Der Bundesgerichtshof ist daher – zu Recht – von jeher sehr kritisch,
wenn es um Persönlichkeitsstörungen und deren mögliche Rechtsfolgen geht. Gerade
bei der „dissozialen Persönlichkeitsstörung“ besteht die Gefahr von
Zirkelschlüssen, denn „deliquentes Verhalten ist bereits ein diagnostisches
Kriterium“ (Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5 Auflage, S. 316),
obwohl sich die Begehung von Straftaten auch „normalpsychologisch“ erklären
lässt („kriminelle Entscheidungsfindung“).
Die typischen „Knackpunkte“ sind – einmal mehr – Gegenstand
einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung des 1. Strafsenats des
Bundesgerichtshofs (BGH,
22.05.2019, 1 StR 651/18). Der Angeklagte war vom Landgericht Kempten wegen Mordes in
Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und wegen
Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als
Gesamtstrafe verurteilt. Zudem war seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
angeordnet worden. Der BGH hat das Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Zum Sachverhalt heißt es in der Revisionsentscheidung: „Der an einer „mit Krankheitswert versehenen Persönlichkeitsstörung“ mit „emotional instabilen und dissozialen Anteilen gemäß ICD.10 F61.0“ leidende Angeklagte hatte bereits im Kindesalter das Elternhaus verlassen und in Rumänien mehrere Gewalttaten, unter anderem Raub und Vergewaltigung, begangen. Deswegen war er in Rumänien mehrmals zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, darunter zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren; er war dreimal inhaftiert, unter anderem von März 2004 bis Mai 2015. In Deutschland hatte er sich wegen einer am 30. April 2016 versuchten Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung bis zum Tag der Urteilsverkündung am 28. Februar 2017 in Untersuchungshaft befunden.
Der Angeklagte drang am Abend des 8. März 2017 gewaltsam in
die verschlossene Einliegerwohnung eines abseits gelegenen Hauses in L. ein und
entwendete mehrere Alltagsgegenstände, die er zum späteren Abholen etwa 150
Meter vom Haus entfernt deponierte. Die Mieter waren für sechs Monate
ortsabwesend.
Anschließend verschaffte sich der Angeklagte mit Gewalt
Zugang zur im selben Haus befindlichen verschlossenen Wohnung des Geschädigten
H., um auch dort Gegenstände zu entwenden. Dort traf er auf den 76-jährigen am
Herzen und an Diabetes erkrankten Geschädigten. Ab diesem Zeitpunkt befand sich
der Angeklagte aufgrund seiner „psychiatrischen Grunderkrankung“
nicht ausschließbar in einem „derart starken Anspannungszustand“,
„in dem er möglicherweise im Rahmen seiner schweren Persönlichkeitsstörung
nicht mehr ausreichend in der Lage gewesen sein könnte, seine aggressiven Handlungsimpulse
zu steuern“. Er brach dem Geschädigten durch einen kräftigen Schlag oder Tritt
den Kiefer und versetzte ihm mehrere Schläge bzw. Tritte gegen den Kopfbereich,
den Rücken, die Arme sowie gegen den Brustkorb und die Handgelenke. In
unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Gewaltanwendung fasste der Angeklagte den
Entschluss, H. zu töten, um zu
verhindern, dass dieser ihn als Täter der Einbruchtat identifizieren werde. Der
Angeklagte würgte den Geschädigten zu Tode, wobei Zungenbeinfortsatz und -hörner
abbrachen, platzierte ihn entkleidet in der Duschkabine und ließ Wasser
einlaufen, um den Tod als einen Badeunfall aussehen zu lassen. Um sämtliche
Tatspuren des Einbruchs und der Tötung zu beseitigen, setzte der Angeklagte,
der zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt 150 € Bargeld an sich nahm,
das Wohnzimmer durch Entzünden geeigneter Gegenstände in Brand; die Flammen
breiteten sich über die Decke des Wohnzimmers über das gesamte Haus aus, das
vollständig abbrannte.“
Was war aus Sicht des BGH schiefgelaufen?
Zunächst monierte der Senat – geradezu klassisch – die Ausführungen des Landgerichts zur Diagnose und deren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten. Die Ausführungen zu diesem Punkt sind ständige Rechtsprechung und lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ hat für sich genommen keinerlei rechtlich Aussagekraft, denn „dabei handelt es sich um einen Oberbegriff zu verschiedenen Varianten, die unterschiedliches Gewicht haben. Diese reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirkender Ausprägungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, deren Störungsgrad Krankheitswert zukommt.“ Der BGH vermisste eine Zuordnung der Persönlichkeitsstörung zu einem Eingangskriterium des § 20 StGB und führte weiter aus: „Gelangt der Sachverständige zur Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, ist dies noch nicht mit der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit für die Beurteilung der Schuldfähigkeit entscheidend.“ Insoweit seien die Feststellungen lückenhaft.
Auch die Versagung
der möglichen Strafrahmenverschiebung gem. §§ 21, 49
Abs. 1 StGB überzeugte den Senat nicht: „Zwar sieht § 21 StGB
auch bei der absolut bestimmten Strafandrohung des § 211 StGB nur eine
fakultative Strafmilderung vor. Ob eine Milderung des Strafrahmens nach § 49
Abs. 1 StGB vorzunehmen oder zu versagen ist, hat das Tatgericht unter
Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu
entscheiden. Bei verminderter Schuldfähigkeit
ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt und damit die
Strafwürdigkeit der Tat verringert sind, sodass regelmäßig eine
Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen ist, wenn nicht andere
schulderhöhende Umstände, die diese Schuldminderung kompensieren, dem
entgegenstehen. Das Ausmaß der fakultativen Strafrahmenverschiebung nach §
49 Abs. 1 StGB lässt dabei erkennen, dass der Gesetzgeber die Tatschuld als
typischerweise beträchtlich verringert ansieht, wenn der Täter vermindert
schuldfähig war. Hieraus folgt, dass es für die Verweigerung der Milderung
eines besonderen Grundes bedarf, der umso gewichtiger sein muss, je
gravierender sich die Beibehaltung des Regelstrafrahmens auswirkt. Hat das Tatgericht – wie hier – die Wahl zwischen
lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe, müssen besondere erschwerende Gründe
vorliegen, um die mit der verminderten Schuldfähigkeit verbundene
Schuldminderung so auszugleichen, dass von einer Milderung des Strafrahmens
abgesehen werden darf.“
Ferner vermisste der Senat eine Prüfung der Maßregelanordnung nach § 63 StGB und führte hierzu aus: „Sollte im Rahmen erneuter Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit gesichert festgestellt werden, wird auch eine Unterbringung nach § 63 StGB zu prüfen sein, die zwar kein „geringeres“, sondern ein „anderes“ Übel gegenüber die Sicherungsverwahrung darstellt; sie erweist sich aber schon deshalb regelmäßig als die weniger beschwerende Maßregel, weil sie grundsätzlich vor der Strafe vollzogen und auf die Strafe angerechnet wird (§ 67 Abs. 1, 4 StGB). Auch aus diesem Grund ist – und zwar unabhängig von der Frage der Therapierbarkeit – der Maßregelanordnung nach § 63 StGB in der Regel gegenüber der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung der Vorrang einzuräumen. Sind beide Maßnahmen (§§ 63, 66 StGB) gleichermaßen geeignet, den erstrebten Zweck zu erreichen, so ist der Maßregel der Vorzug zu geben, die den Täter am wenigsten beschwert (§ 72 Abs. 1 Satz 2 StGB).“
Die Arbeitshilfe zur Unterbringung gem. § 63 StGB ist ein 2-seitiges pdf-Dokument. Sie steht unter dem Motto „Das Wichtigste in Kürze“ und darf von jedermann und jederfrau nach Lust und Laune unverändert (!) verwendet und weitergegeben werden. Alle Angaben sind ohne Gewähr, feedback sowie Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge sind jederzeit willkommen!
Der Countdown fürdie Bild-Ton-Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung läuft. Ab dem 01.01.2020 ist gemäß § 136 Abs. 4 Nr. 1 StPO die richterliche Vernehmung des Beschuldigten auf Video aufzuzeichnen, wenn dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen. Über den Verweis in § 163a StPO gilt auch für Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft und die Polizei.
Der Gesetzgeber selbst spricht von einer „behutsamen Anpassung der Dokumentationsmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren an den aktuellen Stand der Technik“. Ich würde sagen: „ein seit Jahrzehnten überfälliger Schritt“ trifft es besser! Wobei man im Hinblick die erstrebte Verbesserung der Wahrheitsfindung keine überzogenen Erwartungen haben sollte: schweigende oder lügende Beschuldigte wird es auch weiterhin geben. Dagegen ist auch nichts zu erinnern, denn der Beschuldigte darf das! Gegen schlechte Vernehmungen (fehlende oder falsche Belehrungen, suggestive, unpräzise oder unvollständige Fragen etc.) hilft auch keine Videoaufzeichnung. Allenfalls ist zu hoffen, dass sich die Vernehmungspersonen in Zukunft durch die Erwartung, dass ihr Tun in Gänze aufgezeichnet und in öffentlicher Hauptverhandlung vorgeführt wird, disziplinieren lassen. Indes: aus einem Dackel wird kein Windhund, nur weil man ihn beim Laufen filmt!
Schauen wir uns die Rechtslage ab dem 01.01.2020 an. Der „neue“ § 136 Abs. 1 StPO wird wie folgt lauten:
Die Vernehmung des
Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen,
wenn
1. dem Verfahren ein
vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder
die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung
entgegenstehen, oder
2. die schutzwürdigen
Interessen des Beschuldigten, insbesondere von
a) Personen unter 18
Jahren oder
b) Personen, die
erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden
seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden
können.§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.“
Über die gesetzgeberischen Absichten hinter dieser Regelung gibt die BT-Drucksache 18/11277Auskunft. Dort heißt es: „Die vorgeschlagene Erweiterung der audiovisuellen Dokumentationsmöglichkeiten von Vernehmungen soll in erster Linie der Verbesserung der Wahrheitsfindung dienen. Eine Videoaufzeichnung gibt den Verlauf einer Vernehmung authentisch wieder und ist dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll daher überlegen. Die in kommunikativen Prozessen naturgemäß auftretenden Wahrnehmungsmängel können auf einer Videoaufnahme leichter aufgespürt und nachvollzogen werden als in einem schriftlichen Protokoll, dessen Inhalt durch die Wahrnehmung des mitschreibenden Vernehmungsbeamten gefiltert und damit grundsätzlich fehleranfällig ist. Für diesen stellt die Mitschrift eine zusätzliche Belastung dar; er kann sich nunmehr bei längeren und fortgesetzten Vernehmungen durch Ansehen der Aufzeichnung den Verlauf der vorangegangenen Vernehmung und den Inhalt der Aussage des Beschuldigten besser vor Augen führen als anhand des schriftlichen Protokolls. Zunächst weniger wichtige Aspekte der Aussage, die keinen Eingang in das Inhaltsprotokoll gefunden haben, im weiteren Verlauf der Ermittlungen infolge neuer Erkenntnisse jedoch Bedeutung erlangen, sind festgehalten und reproduzierbar. Dies gilt auch für körpersprachliche Signale, deren Interpretation vielleicht erst im Laufe des Ermittlungsverfahrens an Bedeutung gewinnt. Damit leistet die audiovisuelle Aufzeichnung im Ermittlungsverfahren einen erheblichen Beitrag für die Verbesserung der Sachverhaltsaufklärung.
Auch für eine etwaige Hauptverhandlung bietet die audiovisuelle Vernehmung Vorteile, indem zeitraubenden Streitigkeiten darüber, ob, wann und wie etwas gesagt wurde, von vorneherein der Boden entzogen ist. Insoweit besteht die Möglichkeit, dem Beschuldigtenseine eigene Aussage anhand einer Videoaufzeichnung anstatt wie bisher anhand des – notwendigerweise unvollständigen und gefilterten – Inhaltsprotokolls vorzuhalten. Dies kann im Einzelfall die Ladung der früheren Vernehmungspersonen entbehrlich machen und somit das Verfahren beschleunigen und insbesondere die Vernehmungspersonen entlasten. Daneben dient die Dokumentation dem Schutz des Beschuldigten vor unsachgemäßen und – im Sinne des § 136aStPO – rechtswidrigen Vernehmungsmethoden. Eine korrekte Vorgehensweise bei der Einhaltung von Formalitäten ist nachträglich überprüfbar, etwa bei der Frage, ob der Beschuldigte belehrt worden ist. Der erleichterte Nachweis der Vernehmungsförmlichkeiten stärkt insoweit allerdings nicht nur die Rechte des zu Vernehmenden, sondern schützt auch die Vernehmungspersonen vor falschen Anschuldigungen. Die Vorschriften entfalten daher eine Schutzwirkung in jede Richtung und schützen die redlichen Vernehmungspersonen ebenso wie die nichtsachgerecht vernommenen Beschuldigten.“
Ich bin sehr gespannt, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter mit der neuen Regelung umgehen werden. Und auch darauf, wie oft und mit welcher Begründung (äußere Umstände bzw. besondere Dringlichkeit, s.o.) gegebenenfalls von einer Aufzeichnung abgesehen wird. Ein Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung soll nach der Gesetzesbegründung jedenfalls „grundsätzlich nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage im weiteren Verfahren“ führen, „auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung vorgelegen haben“. Ob dies auch für den Fall gilt, dass aus Bequemlichkeit oder Ignoranz bewusst gegen die Verpflichtung zur Aufzeichnung verstoßen wird, bleibt vorläufig offen.
Nach § 243 Abs. 5 StPO hat der Angeklagte vor dem Eintritt in die Beweisaufnahme die Gelegenheit, zur Sache auszusagen. Ihm wird mithin die Möglichkeit eingeräumt, dem Tatrichter gleich zu Beginn der Hauptverhandlung seine Sicht der Dinge zu präsentieren und damit auf dessen Überzeugungsbildung Einfluss zu nehmen. Damit er diese Möglichkeit effektiv nutzen kann, muss dem Angeklagten bewusst sein bzw. von der Verteidigung bewusst gemacht werden, dass die Einlassung keinen irgendwie gearteten besonderen Beweiswert hat. Auf die Besonderheiten der Einlassung per Verteidigererklärung gehe ich in einem anderen Beitrag ein.
Nicht selten hat man den Eindruck, dass Angeklagte ihre Einlassung gedanklich mit dem Satz abschließen „So, und nun beweisen Sie mir mal das Gegenteil!“. Diese Einschätzung der Lage ist ebenso falsch wie gefährlich! Richtig ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, 18.01.2011, 1 StR 600/10, NStZ 2011, 302) folgendes: „Auch darf der Tatrichter entlastende Angaben eines Angeklagten, für die keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne weiteres seiner Entscheidung zugrunde legen, nur, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt. Die Zurückweisung einer Einlassung erfordert auch nicht, dass sich ihr Gegenteil positiv feststellen lässt. Vielmehr muss sich der Tatrichter aufgrund einer Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung bilden. Dies gilt umso mehr dann, wenn objektive Beweisanzeichen festgestellt sind, die mit Gewicht gegen die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten sprechen.“ Anders ausgedrückt: Das Gericht muss – und darf – die Einlassung des Angeklagten nicht allein deshalb glauben und seiner Entscheidung zugrunde legen, weil es rein theoretisch so gewesen sein kann, wie vom Angeklagten geschildert!
Auch im Hinblick auf den Zweifelssatz („in dubio pro reo“) ist es nicht geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat(BGH, 16.06.2016, 1 StR 50/16, NStZ-RR 2016, 318). Bei dem Grundsatz „in dubio pro reo“ handelt es sich um eine Entscheidungsregel, nicht um eine Beweisregel. Diese Regel hat das Gericht erst und nur dann zu befolgen, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung (Indizien) ist die Regel – was häufig übersehen wird – grundsätzlich nicht anzuwenden (BGH, 12.10.2011, 2 StR 202/11, NStZ 2012, 171). Dass es theoretisch auch anders gewesen sein könnte, ist unbeachtlich und zwingt nicht zur Anwendung des Zweifelssatzes. Nur wenn das Gericht mindestens 2 Sachverhaltsvarianten aufgrund greifbarer Anhaltspunkte – also nicht nur rein theoretisch – für annähernd gleich wahrscheinlich hält und sich weder von der einen noch von der anderen überzeugen kann, muss es die für den Angeklagten günstigere Variante seinen Feststellungen zugrundelegen.
Die Verteidigung muss sich und den Angeklagten also darauf einstellen, dass der Tatrichter seine Einlassung nicht anders behandeln wird als die übrigen „Puzzleteile“. Wenn sie nicht zu den sonstigen Beweisergebnissen passt, sich also mit diesen nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen lässt, wird sie ganz oder teilweise „aussortiert“, also als „widerlegt“ betrachtet. Hierfür ist nicht erforderlich, dass es nicht so gewesen sein kann, wie vom Angeklagten behauptet. Ausreichend ist, dass der Tatrichter den Behauptungen des Angeklagten aufgrund denklogisch möglicher Erwägungen und Schlussfolgerungen im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses keinen Glauben schenkt. Daher sollte die Verteidigung – sofern eine Einlassung beabsichtigt ist – diese kritisch mit dem Akteninhalt abgleichen und den Angeklagten eindrücklich auf fehlende Anhaltspunkte für ihre Richtigkeit bzw. Widersprüche zum bisherigen Ermittlungsergebnis hinweisen.
Wenn diese Bemühungen vergeblich bleiben, kann es sich anbieten, nach dem Grundsatz „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ zu verfahren. Zwar ist die bloße Widerlegung von Angaben des Angeklagten grundsätzlich kein Schuldindiz, weil auch ein Unschuldiger „Zuflucht zur Lüge nehmen“ kann (BGH, 11.12.2018, 2 StR 487/18, NStZ-RR 2019, 122). Eine Einlassung, mit der der Angeklagte seine Glaubwürdigkeit auf einen Schlag verspielt oder sich gar „um Kopf und Kragen redet“, schadet in der Regel dennoch mehr, als sie nützt!
Die Tötung im Affekt ist ein schillernder Begriff. Auch (und gerade) juristische Laien benutzen ihn gern, wenn auch zumeist falsch. Eine frühere Nachbarin pflegte über den Zustand ihrer Ehe zu sagen : „Irgendwann bringe ich ihn um. Das ist dann im Affekt – dafür kriege ich höchstens 5 Jahre. Das ist es mir wert!“. Von den sog. „Saß-Kriterien“ (siehe unten) hatte sie natürlich noch nie gehört. Dementsprechend war ihr auch nicht klar, dass die Ankündigung einer Tat gegen das Vorliegen eines Affekts spricht. Glücklicherweise ist ihr Mann eines Tages an einem Krebsleiden verstorben…
Lassen wir zum Einstieg den Bundesgerichtshof zu Wort kommen, in diesem Fall den 2. Strafsenat (BGH, 07.06.2017, 2 StR 474/16): „Hinsichtlich der Auswirkung einer affektiven Erregung auf das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht ist auch zu berücksichtigen, dass eine affektive Erregung bei den meisten Tötungsdelikten den Normalfall darstellt und für Verdeckungstötungen typisch ist.“ Mit anderen Worten: die weitaus meisten Mörder und Totschläger töten nicht kaltblütig mit der Pistole in der rechten und einem Wodka-Martini (geschüttelt, nicht gerührt) in der linken Hand. In der Regel wird die Tathandlung von starken Gefühlsregungen (Wut, Hass, Angst etc.) begleitet, sehr häufig bilden diese Emotionen auch das Tatmotiv. Und weil die Tötung im Affekt ganz normal ist, hat der Affekt zumeist auch keine Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit!
Zu einer rechtlich relevanten Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit führt affektive Erregung nur, wenn „sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und damit zu einem Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB geführt hat“ (BGH, 28.02.2013, 4 StR 357/12). Wenn dies der Fall ist, „sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein; es muss also festgestellt werden, in welcher Weise sich die psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat“(BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18). Bei der Beurteilung dieser Fragen wird sich das Schwurgericht in aller Regel durch einen psychiatrischen Sachverständigen beraten lassen und sodann „unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung„ über die Schuldfähigkeit entscheiden (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226).
Diese Aufgabenverteilung zwischen Sachverständigem und Gericht gibt uns Juristen Anlass, einen Blick in die psychiatrische Fachliteratur zu werfen, wenn wir die Sprache und die grundsätzlichen Überlegungen „unserer“ Sachverständigen zum Thema Tötung im Affekt richtig verstehen und einordnen können wollen. Ich habe mir zu diesem Zweck ein Standardwerk geliehen, nämlich Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage von 2009. Mein Dank hierfür gilt Herrn Schmitz, Chefarzt und Vollzugsleiter in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg.
Venzlaff/Foerster weisen zunächst darauf hin, dass der Begriff „Bewusstseinsstörung“ von Medizinern und Juristen unterschiedlich verstanden wird. Bewusstseinsstörungen im medizinischen Sinnen hätten oft körperliche Ursachen (Alkohol- oder Medikamentenintoxikation, delirante Zustände oder zerebralorganische Krampfleiden). Derartige Zustände seien als Symptome der jeweiligen Grunderkrankung zu verstehen und dem juristischen Eingangkriterium „krankhafte seelische Störung“ zuzuordnen. Unter einer Bewusstseinsstörung im juristischen Sinne sei hingegen „eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionalen Erlebens“ gemeint, „also „Zustände, die auch als Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinseinengung benannt werden können“. Das Adjektiv „tiefgreifend“ solle „zum Ausdruck bringen, dass eine solche Störung über den Spielraum des Normalen, also eine „übliche“ Zornaufwallung, hinausgeht und einen solchen Grad erreicht, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört (§ 20 StGB) bzw. erheblich erschüttert (§ 21 StGB) ist.“
Die weiteren Ausführungen von Venzlaff/Foerster lassen ein gewisses Unbehagen deutlich erkennen: eine tiefgreifenden Bewusststeinsstörung sei keine psychiatrische Diagnose, die häufig verwendeten Formulierungen „Affekttat oder Affektdelikt“ seien „ohne nähere Differenzierung inhaltsleer und nicht aussagekräftig“. Das „methodische Grundproblem“ liege darin, „dass ein per definitionem sehr kurz dauernder, außergewöhnlicher emotionaler Zustand retrospektiv beschrieben und darüber hinaus quantifiziert werden muss, wie es das Adjektiv „tiefgreifend“ verlangt . Die „besonderen Beurteilungsprobleme“ bestünden darin, dass „die Tatzeitverfassung des Täters bei affektiv akzentuierten Taten weitgehend aus dem subjektiven Erleben des Täters zugänglich“ werde, wobei eine besondere Schwierigkeit darin liege, dass „die Untersuchung möglicherweise erst viele Monate nach der Tat durchgeführt wird“. Ein weitere Schwierigkeit liege darin, dass „mit den Begrifflichkeiten affektiv aktzentuierter Taten“ von den Prozessbeteiligten – also uns Juristen – so umgegangen werde, „als handele es sich dabei um „harte“ Daten, obwohl es sich zweifellos um „weiche Kriterien“ handele.Aufgrund dessen könne „der psychiatrische Sachverständige die eindeutigen Antworten, die häufig von ihm erwartet werden, keineswegs immer geben“.
Auch die sog. „Saß-Kriterien“ seien nur „durchaus brauchbare Orientierungshilfen“, aber keine „quantifizierbaren Kriterien“. Es gibt also keinen „cut-off-Wert“, bei dessen Vorliegen von einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung auszugehen ist. Der Wert dieser Merkmalslisten liege „in erster Linie darin, dass dem Sachverständigen damit eine Hilfsmittel an die Hand gegeben ist, bei seiner Einschätzung alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen.“ Die Kriterien seien von ihrer Bedeutung bzw. ihrer Aussagekraft her absteigend sortiert. Im Folgenden sind sie dargestellt:
Kriterien, die nach Saß (1985) für eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Positivkriterien):
Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit
Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft
Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit
Konstellative Faktoren
Enger Zusammenhang Provokation-Erregung-Tat
Abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen
Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe
Vegetative psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung
Charakteristischer Affektauf- und abbau
Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung
Kriterien, die nach Saß (1985) gegen eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Negativkriterien):
Vorbereitungshandlungen für die Tat
Konstellation der Tatsituation durch den Täter
Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter
Komplexer Handlungsablauf in unterschiedlichen Etappen
Länger hingezogenes Tatgeschehen
Exakte, detailreiche Erinnerung
Vorgestaltung in der Phantasie, Tatankündigung und aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit
Was bedeutet dass nun für uns Juristen? Weder der „Affekt“ also solcher noch das Eingangskriterium „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ sind psychiatrische Diagnosen oder Kategorien. Aus Sicht der Psychiater werden sie zur Beurteilung von etwas herangezogen, was sich medizinische Laien ausgedacht haben und was in ihrer ärztlichen Gedankenwelt eigentlich nicht existiert. Demenstprechend muss das Gericht – genauso wie die übrigen Beteiligten – damit leben, dass das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen beim Thema Affekt oft vergleichsweise oberflächlich und vage erscheint. Wer schonmal versucht hat, einen erfahrenen forensichen Psychiater beim Thema Affekt zu klaren Aussagen zu drängen oder mit ihm um einzelne Positiv- oder Negativkriterien zu „feilschen“, weiß: genauso gut könnte man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln! Das ist misslich, liegt aber in der Natur der Sache, Stichwort „weiche Kriterien“ (s.o.).
Wichtig für Verteidiger erscheint mir folgendes: der einzige, der den Sachverständigen davon überzeugen kann, dass bei Tatbegehung ein regelrechter „Affektsturm“ im Sinne einer „tiegreifenden Bewusstseinsstörung“ vorgelegen hat, ist regelmäßig der Angeklagte. Mit den Worten von Venzlaff/Foerster ausgedrückt: „Aufgrund der wesentlichen Bedeutung der subjektiven Erlebensweise des Täters ist dem psychiatrischen Sachverständigen eine fundierte Feststellung zum Tatablauf umso besser möglich, je mehr der Täter bereit ist, sich dem Untersucher gegenüber zu öffnen, und je mehr er in der Lage ist, im Untersuchungsgespräch eigenes inneres Erleben differenziert zu schildern“. Auch das ist nicht unproblematisch, weil es den offenen, mitteilungsfreudigen und eloquenten Angeklagten u.U. besser stellt als denjenigen, der sich schwer damit tut, Vertrauen zu fassen und über sein Gefühlsleben zu sprechen. Jedenfalls aber sind Schweigen oder die Einlassung per Verteidigererklärung zumeist nicht das Mittel der Wahl, wenn eine Tötung im Affekt im Sinne von § 21 StGB ernsthaft in Betracht kommt! Ob das er Fall ist, muss man/frau als Verteidiger/Verteidigerin im Einzelfall abschätzen. Zur Erinnerung: eine „übliche Zornaufwallung“ ist per se keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung (s.o.)! Eine „verständliche Jähtat“ kann sich jedoch als minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB darstellen. Dass eskeinen minder schweren Fall des Mordes gibt ist problematisch, bedeutet aber nicht, dass beim Mord quasi „ersatzweise“ vorschnell eine tiefgreifenden Bewusstseinsstörung angenommen werden darf, um eine zeitige Freiheitsstrafe zu ermöglichen!
„Herr Subatzus, eines muss ich Ihnen sagen: Der Zeugenbeweis gehört abgeschafft!“ – so sprach vor mittlerweile über 10 Jahren ein seinerzeit bereits pensionierter Vorsitzender Richter am Landgericht zu mir. Und der Mann meinte es ernst: wann immer in seiner Zivilkammer eine Zeugenvernehmung unumgänglich wurde, wurde die Sache auf den Einzelrichter übertragen: „Den Unfug müssen wir uns nicht auch noch zu Dritt anhören!“ Es war übrigens derselbe, der von den „alten Zeiten“ schwärmte, als Richter und Anwälte sich angeblich ab 15 Uhr auf dem Tennisplatz trafen und Vergleiche beim anschließenden Bier im Clubheim geschlossen wurden…
Dass der Zeugenbeweis abgeschafft wird, werden wir wohl nicht mehr erleben, denn bis alle Menschen mit einer Art „blackbox“ herumlaufen, die unser Denken und Handeln aufzeichnet und bei Bedarf ausgelesen werden kann, wird es hoffentlich noch ein paar Jahrhunderte dauern. Und bis dahin werden wir alle, egal ob Staatsanwalt, Richter oder Rechtsanwalt, auch mit den Unzulänglichkeiten dieses Beweismittels leben müssen. Wichtig ist jedoch, dass wir sie uns alle immer wieder ins Gedächtsnis rufen!
Ich hatte kürzlich en passant von einem Verfahren berichtet,bei dem zwei jungen Männern vorgeworfen worden war, in Lüneburg auf eine Personengruppe geschossen und einen Mann durch zwei Treffer verletzt zu haben. Das Ergebnis der Beweisaufnahme lässt sich – leicht vereinfacht – in etwa so zusammenfassen: Einer der beiden Angeklagten war der Fahrer eines PKW, von dem aus oder aus dessen Nähe in schneller Folge die Schüsse abgegeben worden waren. Im PKW fanden sich insbesondere am Dachhimmel der Beifahrerseite zahlreiche Schmauchspuren, also Partikel, die im Zündsatz von Pistolenmunition vorkommen. Ebenfalls auf der Beifahrerseite fand man 11 Patronenhülsen im Kaliber 9mm Luger, von denen ein Sachverständiger feststellen konnte, dass sie alle aus derselben Selbstladepistole verfeuert worden waren. Die im Rücken und im Bein des Opfers gefundenen Geschossteile wiederum passten zu diesen Hülsen. Auf der Fahrerseite gab es keine Hülsen und nur ein einziges kleines Schmauchteilchen. Wer der Beifahrer gewesen war, ließ sich nicht feststellen, der zweite Angeklagte hatte ein Alibi. Zwei Zeuginnen berichteten uns, ein ehemaliger Freund habe ihnen gegenüber wiederholt behauptet, er habe die Schüsse abgegeben, und sich darüber amüsiert, dass die falschen Männer angeklagt seien. Dieser Freund wiederum war nicht angeklagt und berief sich als Zeuge auf sein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO. Klingt eindeutig, oder?
Damit es nicht zu einfach wurde, gab es ja noch die „Opferzeugen“, also die Mitglieder jener Personengruppe, auf die oder in deren Richtung geschossen worden war. Bei ihren Aussagen mischten sich offensichtliche Belastungstenden – Anlass der Auseinadersetzung waren angeblich Drogengeschäfte, mit denen natürlich niemand etwas zu tun haben wollte – und Erinnerungsdefizite. Manche wollten nur Schüsse aus der Fahrerseite gesehen haben, andere Schüsse aus Fahrer- und Beifahrerseite. Manche meinten, der Fahrer habe eine Waffe aus dem Fenster gehalten, geschossen habe aber möglicherweise nur der Beifahrer, andere erinnerten über ein Jahr nach der Tat eine Pistole, die sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach der Tat nicht erwähnt hatten. Kurz, es ging munter drunter und drüber. Damit wir uns nicht falsch verstehen: so lustig, wie es in dieser Zusammenfassung möglicherweise klingt, war die Sache keineswegs. Eine Schießerei auf offener Straße mit 11 Schüssen aus einer 9mm-Pistole ist eine ernste und hochgefährliche Angelegenheit, für die mir persönlich der Humor fehlt. Und natürlich mühten wir uns an den Zeugen ab, machten ihnen Vorhaltungen, ermahnten Sie wiederholt zur Wahrheit – vergebens. Ich will nicht verhehlen, dass es für meine Kollegen und mich bisweilen frustrierend ist, wenn sie die Suche nach der Wahrheit als mission impossible herausstellt. In diesem Fall aber war das Scheitern sozuagen vorprogrammiert, denn aufgrund der Umstände – Dunkelheit, Überausschungsmoment, Schnelligkeit des Ablaufs – war mit belastbaren Zeugenaussagen von Anfang an nicht zu rechnen. Warum? Sehen Sie sich diesen Beitrag an, bevor sie weiterlesen!
Willkommen zurück! WIe haben Ihnen die Versuche gefallen? Der mit der jungen Frau, die nach dem Weg fragt: Oranges Oberteil? Weißes Blüschen mit blauen Blümchen? Offene Haare? Dann der „Überfall“: die Zeugen stehen bzw. sitzen nach der „Tat“ zusammen und reden offenbar über den Vorfall, tauschen Erinnerungen aus und ergänzen sie. Ganz wie im echten Leben. Mit „echten“, d.h. unverfälschten Erinnerungen braucht man nach diesem Austausch nicht mehr zu rechnen. Trotzdem ergeben sich fast 30 Jahre Unterschied bei der Altersschätzung. In der Hauptverhandlung heißt es dann später in 9 von 10 Fällen: „Ich habe mich mit niemandem darüber unterhalten. Warum sollte ich?“ Interesant auch der Gedächtnisforscher Hans Markovic, der meint, etwa die Hälfte aller Aussagen vor Gericht sei weit von der Wahrheit entfernt und das auch erklärt.„Stresshormone überschwemmen das Gehirn und führen dazu, dass man auch seine Wahrnehmung sehr eng ausrichtet, und alles in der Peripherie wird mehr oder weniger ausgeblendet, das bedeutet, dass unter Stress Wahrnehmung häufig sehr eingeschränkt ist.“ Das leuchtet mir ein und erklärt zwanglos das oben geschilderte Durcheinander bei den „Opferzeugen“. Und schließlich die „Wiedererkennung“ – ja, ich weiß, das war keine sequentielle Wahllichtbildvorlage nach RiStBV Nr. 18, das war halt für’s Fernsehen. Trotzdem beeindruckend, oder? Jeder zweite „Wiedererkenner“ lag falsch!
Und was folgt nun daraus für die gerichtliche Praxis? Zeugenaussagen, die nicht durch objektive Indizien (Spuren, Videoaufzeichnungen etc.) bestätigt werden, muss man mit großer Vorsicht begegnen. Das gilt für Verkehrsunfälle, für Wirtshausschlägereien und natürlich auch für Schwurgerichtsverfahren. Als Staatsanwalt muss man sich schon im Ermittlungsverfahren mit der Frage befassen, wie Zeugenaussagen zustande gekommen sind und welchen Beweiswert sie haben. Einfach nur den Akteninhalt kopieren, einfügen und „wesentliches Ergebnis der Ermittlungen“ draufschreiben ist zu wenig – das könnte auch die Polizei! Für Richterinnen und Richter heißt es immer auf’s Neue: fragen, nachhaken und sich immer darüber im Klaren sein, dass viele Zeugen absichtlich oder (vermutlich häufiger) unabsichtlich dummes Zeug erzählen. Sich darüber zu ärgern, bringt die Wahrheitsfindung auch nicht voran! Und für Verteidiger gilt: machen Sie in geeigneten Fällen darauf aufmerksam, dass schon aufgrund der äußeren Umstände durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit von Zeugenaussagen bestehen. Versuchen Sie, gerade Schöffen sowie junge Richter und Staatsanwälte für das Thema „Fehleranfälligkeit von Zeugenaussagen“ zu sensibilisieren.
Die Durchführung eines „Täter-Opfer-Ausgleichs“ gemäß § 46a Nr. 1 StGB führt zu einer Strafmilderungsmöglichkeit gem. § 49 Abs. 1 StGB, d.h. das Gericht kann zugunsten des Angeklagten eine Strafrahmenverschiebung vornehmen. Einen „Adhäsionsvergleich“ nimmt das Gericht gem. § 405 StPO auf Antrag in das Protokoll auf. Bei der Formulierung eines solchen Vergleichs ist im Hinblick auf einen möglichen „Täter-Opfer-Ausgleich“ Sorgfalt geboten!
In einem unlängst vom 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 21.05.2019, 1 StR 178/19) entschiedenen Fall hatten sich der Angeklagte und die Geschädigte, die an der Hauptverhandlung als Neben- und Adhäsionsklägerin teilgenommen hatte, auf einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 5.000 Euro geeinigt. In dem gerichtlich protokollierten Vergleich hieß es, man sei sich „einig, dass der Abschluss dieses Vergleichs als bereits vollzogener Täter-Opfer-Ausgleich gewertet werden soll“. Die Aufnahme eines weiteren Zusatzes in den Vergleich, wonach durch ihn „eine Befriedung zwischen den Parteien eingetreten“ sei, hatte die Nebenklägerin abgelehnt. Im Hinblick auf diese Ablehnung hielt das Landgericht Landshut die Voraussetzungen des vertypten Strafmilderungsgrundes nach § 46a Nr. 1 StGB für nicht gegeben: Da die Nebenklägerin den Vergleich nicht als „wirklich“ friedensstiftend akzeptiert habe, fehle es an einem kommunikativen Prozess. Der BGH sah das anders: bereits die Wiedergabe der gesetzlichen Bezeichnung des § 46a Nr. 1 StGB dokumentiere eine „Befriedung“ zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin, ohne dass es auf „die Nichtaufnahme eines entbehrlichen Zusatzes“ ankomme.
Fazit: Verteidiger sollten eindeutige Formulierungen in ihr Standardrepertoire aufnehmen, vielleicht sogar diejenige aus dem o.g. BGH-Fall. Als Adhäsionsklagevertreter muss man sich klar machen: ein bisschen schwanger geht nicht, ein bisschen Täter-Opfer-Ausgleich auch nicht. Wenn man sich in einem Adhäsionsvergleich ausdrücklich zu einem Täter-Opfer-Ausgleich bekennt, ist das Gericht gehalten, dies bei der Wahl des Strafrahmens ernst zu nehmen. Als Gericht ist man nicht zuletzt im eigenen Interesse gut beraten, erforderlichenfalls nachzufragen und für die nötige Klarheit zu sorgen.
Über die Vor- und Nachteile einer „geschlossenen Verteidigererklärung“ habe ich kürzlich berichtet. Heute stieß ich auf eine Entscheidung, die mir dabei aus dem Blick geraten war. Daher ist der Vollständigkeit halber ein kurzer Nachtrag geboten. Es geht dabei u.a. um die Fragen a) wohin mit der Erklärung und b) liegt ein Fall des Urkundenbeweises vor?
Manche – natürlich nur vereinzelte – Verteidiger glauben, dass sie durch die Abgabe einer schriftlich vorbereiteten Erklärung, die sich anschließend mit den Worten „Zu Protokoll!“ dem Gericht überreichen, im Hinblick auf die Revision einen taktischen Vorteil erlangen. Und manche – natürlich auch nur vereinzelte – Richter meinen, dass sie die Erklärung tatsächlich als Anlage zum Protokoll nehmen und später im Urteil möglichst vollständig wiedergeben müssen. Wie man sich täuschen kann!
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs(BGH, 06.11.2018, 4 StR 226/18, NStZ 2019, 168)hat sich hierzu unlängst wie folgt geäußert: „Mit Blick auf die wörtliche Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten in den schriftlichen Urteilsgründen weist der Senat auf Folgendes hin: Auch wenn sich – wie es hier der Fall war – der Angeklagte bei seiner Einlassung in der Hauptverhandlung der Hilfe seines Verteidigers in der Form bedient, dass der Verteidiger mit seinem Einverständnis oder seiner Billigung für ihn eine schriftlich vorbereitete Erklärung abgibt und das Schriftstück sodann vom Gericht entgegengenommen und – unnötigerweise – als Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wird, wird der Inhalt der Erklärung nicht im Wege des Urkundenbeweises, sondern als mündliche Äußerung des Angeklagten in die Hauptverhandlung eingeführt. Die wörtliche Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten birgt vielmehr die Gefahr eines Verstoßes gegen § 261 StPO. Im Übrigen ist das Tatgericht – unabhängig davon, wie die Einlassung des Angeklagten erfolgt ist – gehalten, sie im Urteil tunlichst unter Beschränkung auf ihren wesentlichen Inhalt mitzuteilen.“
Im Klartext: die einlassungsersetzende Verteidigererklärung kommt nicht als Anlage zum Protokoll, sondern zu den Akten, in die das Revisionsgericht bekanntlich nicht schaut. Und der BGH will auch nicht durch das Urteil über alle Einzelheiten der Einlassung informiert werden, sondern nur über den wesentlichen Inhalt nach dem Motto: „In der Kürze liegt die Würze„.
Für Verteidiger folgt daraus: unter dem Gesichtspunkt „dann habe ich die Einlassung im Protokoll“ ist eine Verteidigererklärung anstelle einer Einlassung des Mandanten jedenfalls nicht sinnvoll. Denn bereits vor Jahren hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 09.1.2008, 3 StR 516/08, NStZ 2009, 282) entschieden: „Wenn sich der Angeklagte bei seiner Einlassung in der Hauptverhandlung der Hilfe seines Verteidigers in der Form bedient, dass der Verteidiger mit seinem Einverständnis oder seiner Billigung für ihn eine schriftlich vorbereitete Erklärung abgibt und das Schriftstück sodann – unnötigerweise – vom Gericht entgegengenommen und als Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wird, so ändert dies nichts daran, dass sich der Angeklagte damit mündlich geäußert und das Gericht den Inhalt dieser Äußerung in den Urteilsgründen festzustellen hat. Der Text der Protokollanlage ist deshalb nicht geeignet darzulegen (oder gar zu beweisen), wie sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung eingelassen hat.“ Auch dies gilt es zu bedenken bei der Abwägung der Vor- und Nachteile einer „geschlossenen Verteidigererklärung“.
Und für meine Kollegen heißt es: nehmen Sie die Verteidigererklärung dankend entgegen und zu den Akten. Was Sie im Urteil als deren wesentlichen Inhalt darstellen, ist allein Ihre Sache! Nur zu viel wörtliche Wiedergabe ist potentiell problematisch…