Vor einigen Monaten hatte ich bereits über eine Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in einem sogenannten „Provokationsfall“ (BGH, 16.01.2019, 4 StR 580/18, NStZ 2019, 408) berichtet. Diese Entscheidung war vor allem im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ instruktiv. Kürzlich hatte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nun ebenfalls einen „Provokationsfall“ zu beurteilen (BGH, 19.11.2019, 2 StR 378/19). In diesem Fall ging es schwerpunktmäßig um das Tatbestandsmerkmal „auf der Stelle zur Tat hingerissen“. Wir nehmen (wieder einmal) zur Kenntnis: „auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!
Zum Sachverhalt teilt der Beschluss folgendes mit: „Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Geschädigte im Vorfeld der Tat eine anfangs verbal geführte Auseinandersetzung mit dem aus Somalia stammenden Angeklagten, indem er ihm am 26. August 2018 gegen 1.45 Uhr beim Verlassen des Festzeltes auf einem Musikfest in B. abfällig zurief: „Geht doch dorthin, wo ihr herkommt“. Sodann „schnipste“ er ihm mit dem Finger die Kappe von dessen Kopf, um ihn weiter zu provozieren. Der Angeklagte geriet in Rage und rief mehrfach „Don‘t touch me, I kill you!“. Im Rahmen der nun folgenden körperlichen Auseinandersetzung schubste der Geschädigte den Angeklagten. Es kam zudem zu gegenseitigen Faustschlägen ins Gesicht. Dabei platzte die Oberlippe des Angeklagten auf. Nachdem die Ehefrau des Geschädigten ihren Ehemann weggezogen hatte, rief der Angeklagte hinterher: „I kill you!“. Er war sehr wütend und wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb suchte er auf dem Gelände vor dem Festzelt nach Gegenständen, um sich zu bewaffnen. Dabei fand er eine Glasflasche, die er so abschlug, dass eine scharfe Schnittkante entstand. Der Angeklagte sammelte seine Begleiter ein und forderte sie auf, ihm zu folgen, um sich moralische Unterstützung zu sichern. Daraufhin rannte er ‒ mehrere Minuten nach der Auseinandersetzung vor dem Zelt ‒ dem Geschädigten hinterher. Als der Angeklagte mit seinen Begleitern den Geschädigten erreicht hatte, umstellten sie diesen. Dessen Frau warnte ihren Ehemann noch mit den Worten „Pass auf, er hat eine Flasche“. Ungeachtet dessen und obwohl einer der Begleiter des Angeklagten diesen noch abzuhalten versuchte, ging der Angeklagte wutentbrannt auf den Geschädigten in der Absicht zu, diesen zu töten. Er schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht und stach zweimal mit dem abgebrochenen Flaschenhals direkt hintereinander in den Oberkörper seines Opfers.“
Bei diesem Geschehensablauf, so der 2. Strafsenat, „wäre das Landgericht gehalten gewesen, sich mit den Voraussetzungen des § 213 1. Alt. StGB auseinanderzusetzen“. Das ist zweifellos richtig. Wenn man diese Auseinandersetzung mit einem unbefangenen Blick ins Gesetz beginnt, so drängt sich das Vorliegen eines sogenannten Provokationsfalls auf den ersten Blick indes nicht unbedingt auf. Seinem Wortlaut nach verlangt § 213 StGB in der „Provokationsvariante“, dass der Täter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist. Über das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ kommt man in diesem Fall relativ leicht hinweg, denn offenbar ist die Auseinandersetzung vom späteren Geschädigten initiiert worden, der nicht nur verbal („Geht doch dorthin, wo ihr herkommt!“), sondern auch körperlich (vom-Kopf-Schnipsen der Mütze) übergriffig geworden ist. Dass sich der Angeklagte hiergegen – wenn auch etwas unbeholfen – verbal zur Wehr setzte („Don‘t touch me, I kill you!“), wird man ihm schwerlich als schuldhaftes Verhalten im Sinne einer unverhältnismäßigen und unverständlichen Reaktion vorwerfen können. Auch besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass es sich bei den anschließenden Faustschlägen ins Gesicht des Angeklagten, in deren Folge seine Oberlippe aufplatzte, um eine Misshandlung im Sinne dieser Vorschrift handelt.
Für den am Gesetzeswortlaut hängenden Rechtsanwender möglicherweise überraschend ist hingegen, dass der Angeklagte trotz einer mehrminütigen Unterbrechung des Geschehens, die er mit der Suche und Herrichtung eines Angriffsmittels (abgerochener Flaschenhals) verbrachte, noch „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ gewesen sein soll bzw. könnte. Bereits am Merkmal „auf der Stelle“ kann man im vorliegenden Fall durchaus Zweifel haben, jedenfalls, wenn man dies in räumlicher Hinsicht versteht. Denn nach den Feststellungen rannte der Angeklagte dem späteren Geschädigten, der sich bereits abgewandt hatte, hinterher, um ihn anzugreifen. Für den 2. Senat ist diese Ortsveränderung jedoch ebenso unschädlich wie die zeitliche Unterbrechung. Hierzu heißt es im Beschluss: „Dieser Geschehensablauf belegt zwar einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen der den Zorn des Angeklagten auslösenden Auseinandersetzung und dem eigentlichen Tatgeschehen. Er unterbricht aber nicht den erforderlichen Zusammenhang, der insoweit bestehen muss, als der durch die Provokation und die Misshandlung hervorgerufene Zorn im Zeitpunkt der Tatbegehung noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 ‒ 1 StR 585/18, NStZ 2019, 471). Davon ist hier auszugehen, wenn der Angeklagte ‒ „weiter wutentbrannt“ und auch nicht von seinem zuvor gefassten Tötungsentschluss abzuhalten ‒ auf den Geschädigten zustürmte, ihm mit der Faust ins Gesicht schlug und schließlich mit dem Flaschenhals auf ihn einstach. Dass dies mehrere Minuten nach dem Beginn der Auseinandersetzung geschehen ist, stellt insoweit keine relevante Zäsur dar.“
„Alte Hasen“ werden möglicherweise anmerken, dass eine Unterbrechung von mehreren Minuten selbstverständlich unschädlich ist, hat doch der BGH bereits in den 1980er Jahren (BGH, 11.01.1984, 3 StR 443/83, NStZ 1984, 316) entschieden: „Der für die erste Alternative des § 213 StGB erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zwischen unverschuldeter Reizung zum Zorn und Ausführung der Tat ist durch die wenigen dazwischen liegenden Stunden nicht aufgehoben worden.“
Was bleibt ist die Frage, ob es überhaupt zeitliche und örtliche Grenzen für „auf der Stelle gibt zu Tat hingerissen“ gibt? Wie weit darf der provozierte, gefühlsaufgewallte Täter seinen vormaligen Provokateur verfolgen? Vielleicht hunderte von Kilometern weit, womöglich über Ländergrenzen hinweg? Und wie lange darf diese Verfolgung dauern – Stunden, Tage oder gar Wochen? Stellen wir uns (à la „Tatort“) einen Vater vor, dessen Kind missbraucht und getötet worden ist und der den Täter nach mehrtägiger „Jagd“ quer durch Deutschland tränenüberströmt erschießt. Wäre das noch „auf der Stelle“ in Sinne von § 213 StGB?
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