Im Namen des zornigen Volkes?

Das Urteil des Landgerichts Chemnitz gegen Alaa S. vom 22.08.2019 hat für teils heftige Reaktionen gesorgt. Unter dem Titel „Im Namen des zornigen Volkes“ erschien bei Spiegel Online ein Kommentar mit der Einleitung Keine Spuren, keine Kratzer, keine DNA – nur eine wacklige Zeugenaussage und der unbedingte Wille zur Verurteilung bringen den Syrer Alaa S. für den Tod des Chemnitzers Daniel Hillig hinter Gitter. Welche Beweise braucht es für eine Veruteilung?

Im Namen des zornigen Volkes?

Eines sei zur Klarstellung vorweggestellt: Ich bin weit davon entfernt, mir ein Urteil über die Entscheidung der Kolleginenn und Kollegen aus Chemnitz zu erlauben. Schon deshalb, weil ich an der Beweisaufnahme nicht teilgenommen habe und aus eigenen Anschauung weiß, dass nicht alles, was die Medien über Gerichtsverfahren berichten, unbedingt richtig sein muss. Die Unterstellung, dass sich ein Gericht von einem „unbedingten Willen zur Verurteilung“ habe leiten lassen, erzeugt bei mir dennoch Unbehagen – sowohl für den Fall, dass sie falsch ist, erst Recht aber für den, dass sie zutrifft!

Ich will auch nicht der Frage nachgehen, ob und inwieweit Gerichte infolge medialer Berichterstattung einem öffentlichen Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Für mich selbst kann ich sagen: ich lese gelegentlich Zeitungsartikel über Verfahren, an denen ich selbst beteiligt bin – und wundere mich nicht selten über das, was berichtet wird oder unerwähnt bleibt. Einen nennenswerten öffentlichen Druck verspüre ich dabei normalerweise nicht. Vor einigen Tagen haben wir zwei junge Männer, die im Zusammenhang mit einer Schießerei auf offener Straße angeklagt waren, freigesprochen, weil ein Tatnachweis nicht möglich war. Öffentlicher Druck? Egal: wenn wir nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt sind, verurteilen wir ihn nicht!

Dennoch: gänzlich fremd ist mir öffentlicher Druck nicht. Im Verfahren gegen Oskar Gröning schaute buchstäblich die ganze Welt nach Lüneburg und auf uns als Schwurgericht. Die Beweislage war vergleichsweise einfach, hatte doch der Angeklagte seine Tätigkeit als SS-Mann in Auschwitz zugegeben. Dementsprechend standen rechtliche Fragen im Vordergrund, namentlich die nach seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Täter oder Gehilfe?) und die nach einer tat- und schuldangemessen Strafe für die über 70 Jahre zurückliegende Tat. Hinzu kam der Vorwurf, die deutsche Justiz stelle nach jahrzehntlangem Versagen bei der Verfolgung von NS-Tätern nunmehr den hochbetagten Angeklagten stellvertretend für tausende von SS-Männer, Soldaten und Mitgliedern sog. „Einsatzgruppen“ an den Pranger. An diesem Vorwurf war durchaus etwas dran, zumindest was das jahrzehntelange Versagen der Justiz angeht. Kann ein Urteil unter diesem Umständen noch gerecht sein? Wir haben uns nach Kräften um Gerechtigkeit bemüht, und der BGH hat das Urteil bestätigt. Zumindest handwerklich war es also richtig.

In Chemnitz lag der Fall – soweit ich es den Medien entnommen habe – offenbar anders. Die Beweislage sei „bis zum Schluss dünn“ gewesen, schrieb die taz. Damit stellt sich die juristische Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Schuldspruch oder ein Freispruch zu erfolgen haben. In § 261 StPO heißt es hierzu: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“

Die sog. „freie Beweiswürdigung“ bildet den Kern des deutschen Strafprozesses, und die rechtliche Voraussetzungen sind durch den Bundesgerichtshof seit Jahren geklärt. In einer Entscheidung des 2. Strafsenats (BGH, 27.10.2015, 2 StR 4/15) heißt es hierzu: „Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Allein ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder wenn die Beweiserwägungen gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen. Zudem muss das Urteil erkennen lassen, dass der Tatrichter sämtliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert voneinander bewertet, sondern sie müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden. Werden diese Grundsätze beachtet, kann der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auch dann gewinnen, wenn ein auf das Kerngeschehen der Tat bezogenes Beweismittel fehlt und die Überführung des Angeklagten darauf beruht, dass alle konkret in Frage kommenden Alternativen ausgeschlossen werden. Dieses methodische Vorgehen ist allerdings nur dann eine tragfähige Grundlage für die Verurteilung wegen eines Tötungsverbrechens, wenn alle relevanten Alternativen mit einer den Mindestanforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung genügenden Weise abgelehnt werden, wobei ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht auf bloß denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt. Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit setzt zudem ausreichende objektive Grundlagen voraus. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage beruht, und dass sich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht als bloße Vermutung erweist, die nicht mehr als einen – wenn auch schwerwiegenden – Verdacht zu begründen vermag.“

Ob diese Voraussetzungen im Fall Alaa S. erfült sind oder nicht, wird sich zeigen. Allein das Fehlen von „Spuren“, „Kratzern“ und „DNA“ – wie es der Kommentar bei Spiegel Online suggeriert – macht die Entscheidung juristisch jedenfalls noch nicht falsch oder zu einem „Urteil im Namen des zornigen Volkes“! Selbst wenn die Leiche des Opfers nicht gefunden wird, kann das Gericht aus der Gesamtschau belastender Indizien rechtsfehlerfrei auf ein Tötungsverbrechen schließen (BGH, 02.05.2012, 2 StR 395/11).

Allemal unglücklich – wenn nicht verantwortungslos – sind Aussagen von (Lokal-)Politikern wie: „Ich hoffe aber noch mehr für die Familie des Opfers, dass es eine Verurteilung gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können“, mit denen die Oberbürgermeisterin von Chemnitz zitiert wird. Welche „Ruhe“ bringt die Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen? Frau Ludwig, ich bin froh, dass die schwierige Entscheidung über Schuld und Unschuld in diesem Fall nicht in Ihrer Verantwortung lag!

Ein Gedanke zu „Im Namen des zornigen Volkes?

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