„Angesichts der gewachsenen Bedeutung der Selbstbestimmung des Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben kann in Fällen des freiverantwortlichen Suizids der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln.“, so der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 03.07.2019, 5 StR 132/18). Also gilt: Sterbehilfe kann straflos sein! Trotz dieser Entscheidung bleibt die Rechtslage unklar, nicht zuletzt weil seit dem 10.12.2015 § 217 StGB die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ verbietet. Dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz ist indes umstritten!
Revisionsrechtlich zu prüfen war ein freisprechendes Urteil des Landgerichts Hamburg vom 08.11.2017, das die Beteiligung des Angeklagten an der Selbsttötung zweier Frauen am 10.11.2012 – also vor Inkrafttreten von § 217 StGB – zum Gegenstand hatte. Nach den Feststellungen des Landgerichts Hamburg hatten sich die Frauen im Alter von 81 bzw. 85 Jahren im Zustand „uneingeschränkter Einsichts- und Urteilsfähigkeit“ dazu entschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Sie wollten ihre irdische Existenz aufgrund zunehmender gesundheitlicher Beschwerden und abnehmender Lebensqualität beenden. Der Angeklagte, approbierter Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, hatte die beiden Frauen bezüglich ihrer Urteils-und Einsichtsfähigkeit und der Wohlerwogenheit ihres Suizidbeihilfewunsches begutachtet. Außerdem hatte er ihnen auf ihren Wunsch hin dabei geholfen, die für den Suizid notwendigen Medikamente in Wasser aufzulösen. Nachdem sie die Medikamente eingenommen hatten, war er bis zum ihrem Tod bei ihnen geblieben, ohne den Versuch zu unternehmen, sie zu retten. Strafbar gemacht hat er sich dadurch nicht!
Nur „straflose Beihilfe zum eigenverantwortlichen Suizid“!
Nach Auffassung des 5. Strafsenats „stellt sich sein Handeln insoweit als straflose Beihilfe zum eigenverantwortlichen Suizid dar“. Für die Abgrenzung einer straflosen Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung eines anderen, gegebenenfalls auf dessen ernsthaftes Verlangen, komme es darauf an, wer das zum Tod führende Geschehen zuletzt beherrsche. Entscheidend sei insoweit, dass die Suizidentinnen den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausgeführt hätten, indem sie die in Wasser aufgelösten Medikamente tranken „und damit das zum Tod führende Geschehen bis zuletzt selbst beherrschten“. Hätte hingegen der Angeklagte die Tatherrschaft gehabt, so hätte er sich des Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), des Totschlag (§ 212 StGB) oder gar des Mordes (§ 211 StGB) schuldig machen können.
Keine Tötung in mittelbarer Täterschaft!
Dem Angeklagten könnten die Selbsttötungshandlungen der Frauen auch nicht nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft („Werkzeug gegen sich selbst“) zugerechnet werden. Voraussetzung hierfür sei, dass sich der Suizident – vom „Suizidhelfer“ erkannt – in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage befunden habe. Hier müssten indes konkrete Umstände festgestellt werden, z.B. die Minderjährigkeit des Opfers, krankheits- sowie intoxikationsbedingte Defizite oder das Beruhen des Selbsttötungsentschlusses auf Zwang, Drohung oder Täuschung durch den Täter. An derartigen Umstände fehlte es im vorliegenden Fall.
Keine Strafbarkeit wegen (versuchter) Tötung durch Unterlassen!
Eine Bestrafung des Angeklagten wegen vollendeter Tötung durch Unterlassen komme „schon aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht“. Denn das Unterlassen von Rettungshandlungen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Frauen durch den Angeklagten sei für deren Tod nicht kausal gewesen. Ursächlichkeit liege bei den (unechten) Unterlassungsdelikten vor, wenn bei Vornahme der pflichtgemäßen Handlung der tatbestandsmäßige Schadenserfolg mit dem für die Bildung der richterlichen Überzeugung erforderlichen Beweismaß der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre („Vermeidbarkeitstheorie“). Der Nachweis, dass der Tod bei sofortiger Einleitung ärztlicher Rettungsmaßnahmen hätte verhindert oder hinausgeschoben werden können, sei nicht erbracht.
Der Angeklagte habe sich auch nicht wegen eines versuchten Tötungsdelikts durch Unterlassen strafbar gemacht, da ihn keine Garantenstellung für das Leben der beiden Frauen getroffen habe. Ein „Arzt-Patientinnen-Verhältnis“ im eigentlichen Sinne, das als Grundlage für eine Garantenstellung in Betracht hätte kommen können, habe nicht bestanden. Der Angeklagte habe die Frauen nicht behandeln, sondern beim Sterben begleiten sollen. Auch eine Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichem Tun (Ingerenz) habe nicht bestanden. Das Überlassen der Medikamente komme als Anknüpfungspunkt nicht in Betracht, weil offen geblieben sei, woher die Frauen die Medikamente bezogen hätten. Auch sonst sei dem Angeklagten keine Pflichtwidrigkeit vorzuwerfen.
Keine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung!
Schließlich habe das Landgericht auch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§323c Abs.1 StGB) zutreffend verneint. Zwar stelle ein Selbstmordversuch „bei natürlicher Betrachtung“ auch weiterhin einen Unglücksfall im Sinne des §323c Abs.1 StGB dar. Dem Angeklagten sei jedoch nicht zuzumuten gewesen, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Frauen Rettungsmaßnahmen zu ergreifen, weil diese im Hinblick auf ihren geplanten Suizid knapp eine Woche zuvor eine schriftliche Erklärung verfasst gehabt und darin ausdrücklich und unmissverständlich jegliche Rettungsmaßnahmen nach Eintritt ihrer Handlungsunfähigkeit untersagt hätten. Zu einer „dem erklärten Willen zuwiderlaufenden Hilfeleistung“ verpflichtete §323c Abs.1 StGB den Angeklagten nicht.
Wie ist das Urteil einzuordnen?
Die Entscheidung des BGH liegt auf einer Linie mit der Rechtsprechung anderer Obergerichte, z.B. dem Bundesverwaltungsgericht, das bereits vor zweieinhalb Jahren entschieden hat: „Ausgehend davon umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln.“ (BVerwG, 02.03.2017, 3 C 19/15, NJW 2017, 2215).
Wie ist die aktuelle Rechtslage?
Seit dem 10.12.2015 gilt § 217 StGB („Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“), der Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe vorsieht. Die Selbsttötung zu fördern bedeutet, dem Sterbewilligen eine Gelegenheit hierzu zu gewähren, verschaffen oder vermitteln. Geschäftsmäßig im Sinne der Vorschrift handelt, „wer die Gewährung, Verschaffung oder Vermittlung der Gelegenheit zur Selbsttötung zu einem dauernden oder wiederkehrenden Bestandteil seiner Tätigkeit macht, unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht und unabhängig von einem Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit.“ (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/5373 vom 01.07.2015). Der Gesetzgeber hat also haupt- und ehrenamtliche „Sterbehelfer“ im Visier, weil er befürchtet, „durch die zunehmende Verbreitung des assistierten Suizids könnte der „fatale Anschein einer Normalität“ und einer gewissen gesellschaftlichen Adäquanz, schlimmstenfalls sogar der sozialen Gebotenheit der Selbsttötung entstehen und damit auch Menschen zur Selbsttötung verleitet werden, die dies ohne ein solches Angebot nicht täten.“ Das vorläufig letzte Wort hat das demnächst das Bundesverfassungsgericht, das bereits im April 2019 über Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB verhandelt hat. Sterbehilfe in Deutschland – Rechtssicherheit sieht anders aus!
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