Hinterbliebenengeld – heilt Geld alle Wunden?

Was haben 3.000 fremdverursachte Todesfälle im Straßenverkehr, 1.500 auf ärztliche Behandlungsfehler zurückgehende Todesfälle, 500 Opfer vollendeter Mord- und Totschlagsdelikte sowie rund 1.000 weitere haftungsauslösende Todesfälle gemeinsam? Ganz einfach: sie lösen gemäß § 844 Abs. 3 BGB Ansprüche der Hinterbliebenen aus, gerichtet auf eine angemessene Entschädigung in Geld für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid (sog. „Hinterbliebenengeld“). Das Hinterbliebenengeld soll den sog. „Schockschaden“ ergänzen und insbesondere denjenigen Hinterbliebenen zustehen, bei denen keine psychischen Beeinträchtigungen festgestellt werden können, die „pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom tödlichen Unfall eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind“ (BGH, 27.01.2015. VI ZR 548/12, NJW 2015, 1451). Im Falle des Zusammentreffens soll das Hinterbliebenengeld im „Schockschaden“ aufgehen, so die Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 18/11397).

Die Vorschrift gilt seit dem 22.01.2017, also seit knapp 2 Jahren. In wie vielen Verfahren sie in dieser Zeit angewendet wurde, weiß ich natürlich nicht. Veröffentlicht ist meines Wissens nach bislang nur ein einziges Urteil, nämlich das des LG Tübingen vom 17.05.2019 (3 O 108/18, zitiert nach juris). In dem dortigen Sachverhalt hatte ein PKW-Fahrer einem Motorradfahrer die Vorfahrt genommen und dadurch eine Kollision und dessen Tod verursacht. Geklagt hatten die Witwe und die volljährigen Kinder des Getöteten. Der Witwe sprach das LG Tübingen ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 12.000 € zu, den Kindern jeweils 7.500 €. Dabei stütztes es sich u.a. auf die Gesetzesbegründung, in der es heißt, dass für sog. „Schockschäden“ durchschnittlich etwa 10.000 € zugesprochen würden.

Und was gilt für die Hinterbliebenen der bereits erwähnten 500 Opfer von Mord und Totschlag? Dem Grunde nach haben sie aufgrund der neuen Gesetzeslage ebenfalls einen Zahlungsanspruch gegen den Täter, wenn sie in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zum Getöteten standen. Gemäß § 844 Abs. 3 S. 2 BGB wird ein solches vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.

Was bedeutet das jetzt für die Verfahren vor dem Schwurgericht? In der Gesetzesbegründung ist von „durchschnittlich 4 Hinterbliebenen je Todesfall“ die Rede. Woher diese Zahl stammt? Fragen Sie den Bundestagsabgeordneten Ihres Vertrauens, vielleicht weiß der es! Die Richtigkeit dieser Zahl unterstellt muss jedenfalls davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Adhäsionsanträge und damit auch der Verfahrensumfang zunehmen wird. Dabei wird es nicht nur um einfach gelagerte Sachverhalte gehen, vielmehr wird in vielen Fällen intensiv darüber gestritten werden, ob der Bruder, das Stiefkind oder die On-Off-Lebensabschnittsgefährtin des Getöteten zu diesem in einem „besonderen Näheverhältnis“ stand. Zumal das Gesetz sich darüber ausschweigt, was unter einem solchen zu verstehen ist. Auch die Gesetzesbegründung fällt insoweit dünn aus: „Die Beziehung muss eine Intensität aufweisen wie sie in den in Satz 2 aufgeführten Fällen typischerweise besteht. Die Verbundenheit zwischen dem Getöteten und seinen Hinterbliebenen muss folglich den gesetzlich vermuteten besonderen persönlichen Näheverhältnisses entsprechen.“ Wer sich gelegentlich mit so exotischen Rechtsgebieten wie Familien- oder Erbrecht beschäftigt weiß: das Leben ist bunt, und es gibt gerade im privaten Bereich nichts, was es nicht gibt.

Versteht man das Hinterbliebenengeld als Schmerzensgeldanspruch oder als Teil eines solchen, so dürfte das Gericht gemäß § 406 Abs. 1 StPO nur von einer Entscheidung absehen, wenn es den Antrag für unzulässig oder unbegründet hält. Positiv formuliert dürfte die Erforschung behaupteter „besonderer Näheverhältnisse“ das an Spannung zumeist ohnehin nicht arme Schwurgerichtsverfahren also weiter bereichern. Angesichts der bestehenden Belastung der Gerichte – selbst viele Strafverteidiger sprechen sich mittlerweile für mehr Richterstellen aus – ist das nicht unbedenklich. Problematisch ist ferner, dass zukünftig deutlich mehr Zeugen ein finanzielles Interesse am Ausgang des Verfahrens haben werden, was die Suche nach der Wahrheit nicht leichter machen wird.

Aus anwaltlicher Sicht wird sich die Frage stellen, ob es sich auch für den Mandanten lohnt, einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld einzuklagen. Denn einerseits ist davon auszugehen, dass die zuzusprechenden Beträge bei vorsätzlichen Tötungen höher sind als bei Verkehrsunfällen. Auch 20.000 € oder mehr erscheinen im Einzelfall nicht unrealistisch, wenn das seelisch Leid einer Mutter angesichts des gewaltsamen Verlustes ihres Kindes gelindert werden soll. Andererseits gibt es in Schwurgerichtsverfahren – anders als bei Verkehrsunfällen in Person der Kfz-Haftpflichtversicherung – zumeist keine solventen Schuldner. Der Angeklagte, der die Kosten eines langen und aufwändigen Verfahrens zu tragen und eine langjährige Freiheitstrafe vor sich hat, wird den Hinterbliebenengeldanspruch zumeist nicht erfüllen können.

Vor bösen Überraschungen ist dabei niemand gefeit: unlängst empörte sich ein Adhäsionsklagevertreter, als der Pflichtverteidiger im Adhäsionsverfahren für den vormals vermögenden Angeklagten Prozesskostenhilfe beantragte. Ob das Geld – wie vom Adhäsionsklagevertreter angenommen – zwischenzeitlich beim Wahlverteidiger gelandet war, ließ sich nicht aufklären. Nachdem die Kammer dem Angeklagten aufgegeben hatte, seine Mittellosigkeit durch Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge der letzten 6 Monate zu belegen, nahm er seinen Antrag zurück…