Die Frage nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat stellt sich in praktisch jedem Schwurgerichtsverfahren. Von ihrer Beantwortung hängt eine Menge ab, denn „die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“, so § 46 Abs. 1 S. 1 StGB.
War der Täter bei Begehung der Tat schuldunfähig (§ 20 StGB), so wird er nicht bestraft. Tritt dieser Umstand bereits im Ermittlungsverfahren zutage, so führt die Staatsanwaltschaft kein normales Strafverfahren, sondern ein sog. „Sicherungsverfahren“ (§§ 413 ff. StPO) durch, dessen einziges Ziel die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung – zumeist die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB – ist.
War die Schuldfähigkeit des Angeklagten hingegen „nur“ erheblich vermindert (§ 21 StGB), bleibt es beim „normalen“ Verfahrensgang, jedoch kann die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 gemildert werden. Wenn das Schwurgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, wird der im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangene Mord nicht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern mit einer zeitigen Freiheitsstrafe zwischen 3 und 15 Jahren bestraft. Dass „lebenslang“ nicht – wie oft irrtümlich behauptet wird – mit 15 Jahren Freiheitsstrafe gleichzusetzen ist, ist hier näher dargestellt. Aber nicht nur für den Fall der „Vollverbüßung“ macht dies einen erheblichen Unterschied, sondern auch im Hinblick auf eine vorzeitige Entlassung bei Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. Dazu folgendes Beispiel: Der A wird wegen Mordes im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann diese Strafe nach zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn zwei Drittel verbüßt sind, also nach 8 Jahren. Würde A hingegen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, sind käme gemäß § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB eine bedingte Entlassung erst in Betracht, wenn 15 Jahre verbüßt sind.
Liest man Presseberichte über Mordverfahren, so kann man den unzutreffenden Eindruck gewinnen, dass die Frage der Schuldfähigkeit von psychiatrischen Sachverständigen entschieden wird. Immer wieder heißt es, der Sachverständige Dr. Superschlau habe dem Angeklagten eine „eingeschränkte Schuldfähigkeit attestiert“, was zur Folge habe, dass er nun nicht so hart bestraft werden könne, wie man sich das bei einem Mörder gemeinhin vorstelle. Dabei wird übersehen, dass die einzige Aufgabe eines Sachverständigen darin besteht, dem Gericht die ihm fehlende Sachkunde zu vermitteln. Für alle Fachrichtungen, egal ob Biologe, Chemiker, Toxikologe Ingenieur oder eben Psychiater gilt: der Sachverständige entscheidet gar nichts!
Mit den Worten des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226) und mithin etwas vornehmer formuliert: „Ob bei der Begehung der Tat Schuldunfähigkeit vorlag, ist eine Rechtsfrage, die das Gericht zu beantworten hat. Reicht bei Auftreten von Besonderheiten die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht aus, muss es hierfür einen Sachverständigen hinzuziehen. Auch dann ist die Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund einer festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert oder im Sinne des § 20 StGB aufgehoben war, eine Rechtsfrage, die das Tatgericht unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung zu entscheiden hat. Hat das Tatgericht ein solches Gutachten eingeholt, ist es zwar nicht gehindert, von diesem abzuweichen, da es stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein kann. Auch muss das Tatgericht nicht in jedem Fall, in dem es von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass es die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn es erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können.“
Nimmt man den BGH beim Wort, so könnte eine leidlich erfahrene Schwurgerichtskammer ist manchen Verfahren auf die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen verzichten und sich auf eigene Sachkunde berufen, die sie über die Jahre gewonnen hat, z.B. bei der „an sich geläufigen Frage […], welche Gesichtspunkte generell bei der Prüfung eines schuldmindernden Affekts Gewicht gewinnen können“ (BGH,28.09.2014, 1 StR 317/04, NStZ 2005, 149). Von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, ist jedoch riskant, denn an anderer Stelle ist höchstrichterlich befunden worden, dass „die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit jedenfalls bei Auftreten von Besonderheiten in der Regel nicht ausreicht“ (BGH, 23.02.2011, 5 StR 24/11, zitiert nach juris). „Besonderheiten“ im vorgenannten Fall waren übrigens die „nicht geringe Alkoholisierung des unbestraften und bislang auch sonst nicht durch Gewaltakte aufgefallenen 57-jährigen Angeklagten in Verbindung mit der Impulsivität seiner an dem ihm zuvor unbekannten Tatopfer verübten Tat“. Wer eine Reihe von Mord- und Totschlagsverfahren geführt und entschieden hat, wird diese Umstände möglicherweise gar nicht so besonders finden – vernünftigerweise aber auch weiterhin zu jedem Verfahren einen forensischen Psychiater hinzuziehen.
Für Angeklagte und Verteidiger folgt aus der alleinigen Entscheidungsverantwortlichkeit des Gerichts, dass man sich auf die Einschätzung des Sachverständigen („Ich kann § 21 StGB nicht sicher ausschließen!“) auf keinen Fall verlassen darf. Es kann nicht oft genug betont werden: es kommt allein darauf an, ob das Gericht die Voraussetzungen von § 20 oder 21 StGB als erfüllt ansieht oder nicht! Wobei – auch das soll nicht unerwähnt bleiben – beispielsweise beim Vorliegen einer akuten Psychose für das Gericht wenig Spielraum bleibt. Zumeist wird es „nach eigener kritischer Würdigung des Ausführungen des Sachverständigen anschließen mit der Maßgabe, dass die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Kammer in eigener Verantwortung obliegt“ – und zu dem Ergebnis gelangen, dass die Schuldfähigkeit gemäß § 20 StGB aufgehoben war.
Ganz anders hingegen, wenn der Sachverständige nur zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB kommt. In einem solchem Fall eröffnet das Tatbestandsmerkmal „erheblich“ dem Gericht einen sehr weiten Spielraum, d.h. das Gericht kann dem Sachverständigen darin folgen, dass die Schuldfähigkeit durchaus beeinträchtigt war, gleichzeitig aber entscheiden, dass die Schwelle der Erheblichkeit im Sinne von § 21 aufgrund der überragenden Bedeutung des Rechtsguts „Leben“ nicht erreicht wurde (Rechtsfrage!). Abgerundet mit dem passenden Zitat („Ferner ist bei Taten höchster Schwere bei der Zubilligung der Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit wegen der hohen Hemmschwelle besondere Zurückhaltung geboten.“ – BGH, 07.11.2013, 5 StR 377/13, NStZ 2014, 80) ist diese Entscheidung für die Revision praktisch unangreifbar.