SOS – Schwätzer ohne Sachverstand

Im letzten Beitrag hatte ich über die zunehmende Knappheit an qualifizierten psychiatrischen Sachverständigen berichtet. Heute will ich erzählen, was ich unlängst mit einem Sachverständigen erlebt habe, der mir bis dato unbekannt war – und um den ich zukünftig einen großen Bogen machen werde. Ein SOS – Schwätzer ohne Sachverstand!

Das Verfahren liegt erst einige Monate zurück und spielte sich ausnahmsweise nicht im Schwurgericht ab, sondern in einer normalen großen Strafkammer, die in einer ungewöhnlichen Besetzung verhandelte. Sowohl der Vorsitzende, der mittlerweile pensioniert ist, als auch ich waren durch die Vertretungskette in die Kammer gelangt. Lediglich die zweite Beisitzerin gehörte zur Originalbesetzung. Der Grund hierfür lag darin, dass der Angeklagte gemäß § 126a StPO einstweilig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und die Frist des § 121 StPO abzulaufen drohte, während zwei Drittel der Kammermitglieder im Urlaub weilten.

Vorgeworfen wurde Angeklagten eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil seiner Ehefrau, begangen im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit infolge einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Nach Durchführung der Beweisaufnahme stand fest, dass sich die Ehefrau von ihm hatte trennen wollen, womit er nicht einverstanden war. Um sie umzustimmen, bat er einen gemeinsamen Bekannten darum, zwischen ihm und seiner Ehefrau zu vermitteln. Zu diesem Zweck trafen sich die drei Personen in einer Bäckerei. Nachdem sich das Gespräch nicht in die von ihm gewünschte Richtung entwickelt hatte, geriet der Angeklagte in Wut und fügte seiner Ehefrau mit einem stumpfen Messer eine kleine Verletzung an der Wange zu. Anschließend stürmte er aus der Bäckerei und verschwand.

Es folgte – gleichsam als Abschluss der Beweisaufnahme – der Auftritt des psychiatrischen Sachverständigen, der anfangs durchaus sympathisch wirkte. Er berichtete von der Untersuchung des Angeklagten und dessen Angaben zu seinem Lebenslauf. Aufgewachsen sei der Angeklagte im Irak. Seine Familie sei dort so wohlhabend gewesen, dass er nicht habe arbeiten müssen. Dennoch habe sich der Angeklagte – aus welchen Gründen auch immer – gemeinsam mit seiner Ehefrau auf den Weg nach Europa gemacht. In der Türkei habe er eine Zeit lang in einer Autowerkstatt gearbeitet, bevor er über die Balkanroute nach Deutschland gelangt sei.

SOS – Schwätzer ohne Sachverstand?

Zur psychiatrischen Einordnung sei vorauszuschicken, dass das mit der Diagnose Persönlichkeitsstörung ja nicht so einfach sei. Zum einen sei die Abgrenzung zwischen Persönlichkeitsakzentuierung und Persönlichkeitsstörung im Einzelfall schwierig. Zum anderen müsse der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit dahingehend bewertet werden, ob das Eingangskriterium einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB erfüllt sei. Ich nickte innerlich und war mir sicher, das Ergebnis zu kennen: Persönlichkeitsakzentuierung ja, Persönlichkeitsstörung nicht sicher feststellbar, also kein Eingangskriterium und damit volle Schuldfähigkeit und keine Unterbringung gem. § 63 StGB. Derartiges erwarteten offensichtlich auch die übrigen Juristen im Saal, denen unisono die Gesichtszüge entglitten, also der Sachverständige sein Ergebnis präsentierte: ausgeprägte Persönlichkeitsstörung von der Qualität einer schweren anderen seelischen Abartigkeit, Steuerungsfähigkeit sicher erheblich vermindert, der Angeklagte sei allgemeingefährlich und ein Fall für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Der Vorsitzende befragte der Sachverständigen und konfrontierte ihn damit, dass der Angeklagte unbestraft und selbst nach Angaben seiner Ehefrau zuvor nie gewalttätig gewesen sei. Das ändere nichts, so der Sachverständige. Als mir das Wort erteilt wurde, versuchte ich, den Spieß umzudrehen und fragte, woran den nun die Persönlichkeitsstörung positiv festzumachen sei. Antwort: an der Tat und dem Umstand, dass der Angeklagte noch nie in seinem Leben gearbeitet habe, was Ausdruck seiner ausgeprägten Dissozialität sei. Meinen Einwand, dass dies ja wohl nicht ganz stimme – Stichwort Autowerkstatt in der Türkei – schob der Sachverständige lächelnd beiseite. Das sei ja nur von kurzer Dauer gewesen. Ich ließ nicht locker und wies darauf hin, dass der Angeklagte Irak ja eigenen Angaben zufolge nicht habe arbeiten müssen und dass er Deutschland gegenwärtig nicht arbeiten dürfe. Das einzige was sich änderte, war der Tonfall des Sachverständigen, der nun einen deutlich genervten Klang bekam.

Der Vorsitzende zog die Befragung nun wieder an sich und begann mit einem längeren Monolog, dessen Kernaussage sich ungefähr wie folgt zusammenfassen lässt: Aufgrund seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung könne er schon aufgrund der Herkunft des Angeklagten mit Gewissheit sagen, dass Gewalt gegen die trennungswillige Ehefrau nicht Ausdruck einer psychischen Störung, sondern sozialadäquates Verhalten sei. In der Levante würden alle Männer, egal welcher ethnischen Herkunft und welches Glaubens, Christen, Juden, Muslime und Jesiden, ihre Ehefrauen züchtigen, wenn diese sich ihnen widersetzen. Ich wusste kaum noch, wo ich hinschauen sollte…

Gewalt als sozialadäquates Verhalten?

Erwartungsgemäß blieb der Sachverständige bei seiner Einschätzung und wir hatten ein Problem: wer schon einmal versucht hat, in einem Urteil von der Einschätzung des Sachverständigen unter Berufung auf eigene Sachkunde abzuweichen, wird im Regelfall keine Lust verspüren, derartiges zu wiederholen. Also verständigten wir uns darauf, die Oberärztin zu befragen, die in der Maßregelvollzugseinrichtung für den Angeklagten zuständig war. Auch der Sachverständige war von dieser Entscheidung angetan, zumindest behauptete er das.

Am nächsten Hauptverhandlungstag erschien diese Oberärztin und nahm im Zeugenstand Platz. Der Vorsitzende bat sie, der Verlauf der einstweiligen Unterbringung zu schildern und die aktuelle Diagnose mitzuteilen. Die Oberärztin berichtete über ein völlig unauffälliges Verhalten des Angeklagten über die letzte viereinhalb Monate hinweg, eine psychiatrische Diagnose sei aus ihrer Sicht nicht zu stellen. Von einer Persönlichkeitsstörung könne keine Rede sein, die einstweilige Unterbringung sei aus ihrer Sicht eine Fehlentscheidung.

Der einzige im Saal, der Fragen an die Zeugin stellte, was der psychiatrische Sachverständige, der im Anschluss mit schneidender Stimme erklärte, er bleibe bei seiner Einschätzung und anschließend schnaubend den Sitzungssaal verließ. Danach ging das Verfahren schnell und ruhig zu Ende. Der Angeklagte bekam eine Bewährungsstrafe, das Urteil wurde von keiner Seite angegriffen.

Arbeitshilfe zum Affekt (sog. „Saß-Kriterien“)

Die Heranziehung der „Saß-Kriterien“ zur Beurteilung des Vorliegens und des Ausmaßes eines Affekts bzw. einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne von § 20 StGB ist vom BGH anerkannt (BGH, 13.07.2016, 1 StR 128/16).

Die Arbeitshilfe zum Affekt ist ein 1-seitiges pdf-Dokument. Sie steht unter dem Motto „Das Wichtigste in Kürze“ und darf von jedermann und jederfrau nach Lust und Laune unverändert (!) verwendet und weitergegeben werden. Alle Angaben sind ohne Gewähr, feedback sowie Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge sind jederzeit willkommen!

Die Tötung im Affekt

Die Tötung im Affekt ist ein schillernder Begriff. Auch (und gerade) juristische Laien benutzen ihn gern, wenn auch zumeist falsch. Eine frühere Nachbarin pflegte über den Zustand ihrer Ehe zu sagen : „Irgendwann bringe ich ihn um. Das ist dann im Affekt – dafür kriege ich höchstens 5 Jahre. Das ist es mir wert!“. Von den sog. „Saß-Kriterien“ (siehe unten) hatte sie natürlich noch nie gehört. Dementsprechend war ihr auch nicht klar, dass die Ankündigung einer Tat gegen das Vorliegen eines Affekts spricht. Glücklicherweise ist ihr Mann eines Tages an einem Krebsleiden verstorben…

„Irgendwann bringe ich ihn um. Das ist dann im Affekt – dafür kriege ich höchstens 5 Jahre. Das ist es mir wert!“.

Lassen wir zum Einstieg den Bundesgerichtshof zu Wort kommen, in diesem Fall den 2. Strafsenat (BGH, 07.06.2017, 2 StR 474/16): „Hinsichtlich der Auswirkung einer affektiven Erregung auf das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht ist auch zu berücksichtigen, dass eine affektive Erregung bei den meisten Tötungsdelikten den Normalfall darstellt und für Verdeckungstötungen typisch ist.“ Mit anderen Worten: die weitaus meisten Mörder und Totschläger töten nicht kaltblütig mit der Pistole in der rechten und einem Wodka-Martini (geschüttelt, nicht gerührt) in der linken Hand. In der Regel wird die Tathandlung von starken Gefühlsregungen (Wut, Hass, Angst etc.) begleitet, sehr häufig bilden diese Emotionen auch das Tatmotiv. Und weil die Tötung im Affekt ganz normal ist, hat der Affekt zumeist auch keine Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit!

Die kaltblütige Tötung ist eine absolute Ausnahme!

Zu einer rechtlich relevanten Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit führt affektive Erregung nur, wenn „sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und damit zu einem Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB geführt hat“ (BGH, 28.02.2013, 4 StR 357/12). Wenn dies der Fall ist, „sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein; es muss also festgestellt werden, in welcher Weise sich die psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat“ (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18). Bei der Beurteilung dieser Fragen wird sich das Schwurgericht in aller Regel durch einen psychiatrischen Sachverständigen beraten lassen und sodann unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung über die Schuldfähigkeit entscheiden (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226).

Diese Aufgabenverteilung zwischen Sachverständigem und Gericht gibt uns Juristen Anlass, einen Blick in die psychiatrische Fachliteratur zu werfen, wenn wir die Sprache und die grundsätzlichen Überlegungen „unserer“ Sachverständigen zum Thema Tötung im Affekt richtig verstehen und einordnen können wollen. Ich habe mir zu diesem Zweck ein Standardwerk geliehen, nämlich Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage von 2009. Mein Dank hierfür gilt Herrn Schmitz, Chefarzt und Vollzugsleiter in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg.

Werfen wir einen Blick in die psychiatrische Literatur!

Venzlaff/Foerster weisen zunächst darauf hin, dass der Begriff „Bewusstseinsstörung“ von Medizinern und Juristen unterschiedlich verstanden wird. Bewusstseinsstörungen im medizinischen Sinnen hätten oft körperliche Ursachen (Alkohol- oder Medikamentenintoxikation, delirante Zustände oder zerebralorganische Krampfleiden). Derartige Zustände seien als Symptome der jeweiligen Grunderkrankung zu verstehen und dem juristischen Eingangkriterium „krankhafte seelische Störung“ zuzuordnen. Unter einer Bewusstseinsstörung im juristischen Sinne sei hingegen „eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionalen Erlebens“ gemeint, „also „Zustände, die auch als Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinseinengung benannt werden können“. Das Adjektiv „tiefgreifend“ solle „zum Ausdruck bringen, dass eine solche Störung über den Spielraum des Normalen, also eine „übliche“ Zornaufwallung, hinausgeht und einen solchen Grad erreicht, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört (§ 20 StGB) bzw. erheblich erschüttert (§ 21 StGB) ist.“

Die weiteren Ausführungen von Venzlaff/Foerster lassen ein gewisses Unbehagen deutlich erkennen: eine tiefgreifenden Bewusststeinsstörung sei keine psychiatrische Diagnose, die häufig verwendeten Formulierungen „Affekttat oder Affektdelikt“ seien „ohne nähere Differenzierung inhaltsleer und nicht aussagekräftig“. Das „methodische Grundproblem“ liege darin, „dass ein per definitionem sehr kurz dauernder, außergewöhnlicher emotionaler Zustand retrospektiv beschrieben und darüber hinaus quantifiziert werden muss, wie es das Adjektiv „tiefgreifend“ verlangt . Die „besonderen Beurteilungsprobleme“ bestünden darin, dass „die Tatzeitverfassung des Täters bei affektiv akzentuierten Taten weitgehend aus dem subjektiven Erleben des Täters zugänglich“ werde, wobei eine besondere Schwierigkeit darin liege, dass „die Untersuchung möglicherweise erst viele Monate nach der Tat durchgeführt wird“. Ein weitere Schwierigkeit liege darin, dass „mit den Begrifflichkeiten affektiv aktzentuierter Taten“ von den Prozessbeteiligten – also uns Juristen – so umgegangen werde, als handele es sich dabei um „harte“ Daten, obwohl es sich zweifellos um „weiche Kriterien“ handele. Aufgrund dessen könne „der psychiatrische Sachverständige die eindeutigen Antworten, die häufig von ihm erwartet werden, keineswegs immer geben“.

Auch die sog. „Saß-Kriterien“ seien nur „durchaus brauchbare Orientierungshilfen“, aber keine „quantifizierbaren Kriterien“. Es gibt also keinen „cut-off-Wert“, bei dessen Vorliegen von einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung auszugehen ist. Der Wert dieser Merkmalslisten liege „in erster Linie darin, dass dem Sachverständigen damit eine Hilfsmittel an die Hand gegeben ist, bei seiner Einschätzung alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen.“ Die Kriterien seien von ihrer Bedeutung bzw. ihrer Aussagekraft her absteigend sortiert. Im Folgenden sind sie dargestellt:

Kriterien, die nach Saß (1985) für eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Positivkriterien):

  • Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit
  • Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft
  • Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit
  • Konstellative Faktoren
  • Enger Zusammenhang Provokation-Erregung-Tat
  • Abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen
  • Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe
  • Vegetative psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung
  • Charakteristischer Affektauf- und abbau
  • Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung

Kriterien, die nach Saß (1985) gegen eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Negativkriterien):

  • Vorbereitungshandlungen für die Tat
  • Konstellation der Tatsituation durch den Täter
  • Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter
  • Komplexer Handlungsablauf in unterschiedlichen Etappen
  • Länger hingezogenes Tatgeschehen
  • Exakte, detailreiche Erinnerung
  • Vorgestaltung in der Phantasie, Tatankündigung und aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit
Die Tötung im Affekt erfordert eine genaue Betrachtung!

Was bedeutet dass nun für uns Juristen? Weder der „Affekt“ also solcher noch das Eingangskriterium „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ sind psychiatrische Diagnosen oder Kategorien. Aus Sicht der Psychiater werden sie zur Beurteilung von etwas herangezogen, was sich medizinische Laien ausgedacht haben und was in ihrer ärztlichen Gedankenwelt eigentlich nicht existiert. Demenstprechend muss das Gericht – genauso wie die übrigen Beteiligten – damit leben, dass das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen beim Thema Affekt oft vergleichsweise oberflächlich und vage erscheint. Wer schonmal versucht hat, einen erfahrenen forensichen Psychiater beim Thema Affekt zu klaren Aussagen zu drängen oder mit ihm um einzelne Positiv- oder Negativkriterien zu „feilschen“, weiß: genauso gut könnte man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln! Das ist misslich, liegt aber in der Natur der Sache, Stichwort „weiche Kriterien“ (s.o.).

Wichtig für Verteidiger erscheint mir folgendes: der einzige, der den Sachverständigen davon überzeugen kann, dass bei Tatbegehung ein regelrechter „Affektsturm“ im Sinne einer „tiegreifenden Bewusstseinsstörung“ vorgelegen hat, ist regelmäßig der Angeklagte. Mit den Worten von Venzlaff/Foerster ausgedrückt: „Aufgrund der wesentlichen Bedeutung der subjektiven Erlebensweise des Täters ist dem psychiatrischen Sachverständigen eine fundierte Feststellung zum Tatablauf umso besser möglich, je mehr der Täter bereit ist, sich dem Untersucher gegenüber zu öffnen, und je mehr er in der Lage ist, im Untersuchungsgespräch eigenes inneres Erleben differenziert zu schildern“. Auch das ist nicht unproblematisch, weil es den offenen, mitteilungsfreudigen und eloquenten Angeklagten u.U. besser stellt als denjenigen, der sich schwer damit tut, Vertrauen zu fassen und über sein Gefühlsleben zu sprechen. Jedenfalls aber sind Schweigen oder die Einlassung per Verteidigererklärung zumeist nicht das Mittel der Wahl, wenn eine Tötung im Affekt im Sinne von § 21 StGB ernsthaft in Betracht kommt! Ob das er Fall ist, muss man/frau als Verteidiger/Verteidigerin im Einzelfall abschätzen. Zur Erinnerung: eine „übliche Zornaufwallung“ ist per se keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung (s.o.)! Eine „verständliche Jähtat“ kann sich jedoch als minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB darstellen. Dass es keinen minder schweren Fall des Mordes gibt ist problematisch, bedeutet aber nicht, dass beim Mord quasi „ersatzweise“ vorschnell eine tiefgreifenden Bewusstseinsstörung angenommen werden darf, um eine zeitige Freiheitsstrafe zu ermöglichen!

Schuldfähigkeit – die Rolle des Sachverständigen

Die Frage nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat stellt sich in praktisch jedem Schwurgerichtsverfahren. Von ihrer Beantwortung hängt eine Menge ab, denn „die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“, so § 46 Abs. 1 S. 1 StGB.

War der Täter bei Begehung der Tat schuldunfähig (§ 20 StGB), so wird er nicht bestraft. Tritt dieser Umstand bereits im Ermittlungsverfahren zutage, so führt die Staatsanwaltschaft kein normales Strafverfahren, sondern ein sog. „Sicherungsverfahren“ (§§ 413 ff. StPO) durch, dessen einziges Ziel die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung – zumeist die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB – ist.

War die Schuldfähigkeit des Angeklagten hingegen „nur“ erheblich vermindert (§ 21 StGB), bleibt es beim „normalen“ Verfahrensgang, jedoch kann die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 gemildert werden. Wenn das Schwurgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, wird der im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangene Mord nicht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern mit einer zeitigen Freiheitsstrafe zwischen 3 und 15 Jahren bestraft. Dass „lebenslang“ nicht – wie oft irrtümlich behauptet wird – mit 15 Jahren Freiheitsstrafe gleichzusetzen ist, ist hier näher dargestellt. Aber nicht nur für den Fall der „Vollverbüßung“ macht dies einen erheblichen Unterschied, sondern auch im Hinblick auf eine vorzeitige Entlassung bei Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. Dazu folgendes Beispiel: Der A wird wegen Mordes im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann diese Strafe nach zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn zwei Drittel verbüßt sind, also nach 8 Jahren. Würde A hingegen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, sind käme gemäß § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB eine bedingte Entlassung erst in Betracht, wenn 15 Jahre verbüßt sind.

Liest man Presseberichte über Mordverfahren, so kann man den unzutreffenden Eindruck gewinnen, dass die Frage der Schuldfähigkeit von psychiatrischen Sachverständigen entschieden wird. Immer wieder heißt es, der Sachverständige Dr. Superschlau habe dem Angeklagten eine „eingeschränkte Schuldfähigkeit attestiert“, was zur Folge habe, dass er nun nicht so hart bestraft werden könne, wie man sich das bei einem Mörder gemeinhin vorstelle. Dabei wird übersehen, dass die einzige Aufgabe eines Sachverständigen darin besteht, dem Gericht die ihm fehlende Sachkunde zu vermitteln. Für alle Fachrichtungen, egal ob Biologe, Chemiker, Toxikologe Ingenieur oder eben Psychiater gilt: der Sachverständige entscheidet gar nichts!

Mit den Worten des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226) und mithin etwas vornehmer formuliert: „Ob bei der Begehung der Tat Schuldunfähigkeit vorlag, ist eine Rechtsfrage, die das Gericht zu beantworten hat. Reicht bei Auftreten von Besonderheiten die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht aus, muss es hierfür einen Sachverständigen hinzuziehen. Auch dann ist die Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund einer festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert oder im Sinne des § 20 StGB aufgehoben war, eine Rechtsfrage, die das Tatgericht unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung zu entscheiden hat. Hat das Tatgericht ein solches Gutachten eingeholt, ist es zwar nicht gehindert, von diesem abzuweichen, da es stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein kann. Auch muss das Tatgericht nicht in jedem Fall, in dem es von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass es die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn es erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können.“

Nimmt man den BGH beim Wort, so könnte eine leidlich erfahrene Schwurgerichtskammer ist manchen Verfahren auf die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen verzichten und sich auf eigene Sachkunde berufen, die sie über die Jahre gewonnen hat, z.B. bei der „an sich geläufigen Frage […], welche Gesichtspunkte generell bei der Prüfung eines schuldmindernden Affekts Gewicht gewinnen können“ (BGH,28.09.2014, 1 StR 317/04, NStZ 2005, 149). Von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, ist jedoch riskant, denn an anderer Stelle ist höchstrichterlich befunden worden, dass „die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit jedenfalls bei Auftreten von Besonderheiten in der Regel nicht ausreicht“ (BGH, 23.02.2011, 5 StR 24/11, zitiert nach juris). „Besonderheiten“ im vorgenannten Fall waren übrigens die „nicht geringe Alkoholisierung des unbestraften und bislang auch sonst nicht durch Gewaltakte aufgefallenen 57-jährigen Angeklagten in Verbindung mit der Impulsivität seiner an dem ihm zuvor unbekannten Tatopfer verübten Tat“. Wer eine Reihe von Mord- und Totschlagsverfahren geführt und entschieden hat, wird diese Umstände möglicherweise gar nicht so besonders finden – vernünftigerweise aber auch weiterhin zu jedem Verfahren einen forensischen Psychiater hinzuziehen.

Für Angeklagte und Verteidiger folgt aus der alleinigen Entscheidungsverantwortlichkeit des Gerichts, dass man sich auf die Einschätzung des Sachverständigen („Ich kann § 21 StGB nicht sicher ausschließen!“) auf keinen Fall verlassen darf. Es kann nicht oft genug betont werden: es kommt allein darauf an, ob das Gericht die Voraussetzungen von § 20 oder 21 StGB als erfüllt ansieht oder nicht! Wobei – auch das soll nicht unerwähnt bleiben – beispielsweise beim Vorliegen einer akuten Psychose für das Gericht wenig Spielraum bleibt. Zumeist wird es „nach eigener kritischer Würdigung des Ausführungen des Sachverständigen anschließen mit der Maßgabe, dass die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Kammer in eigener Verantwortung obliegt“ – und zu dem Ergebnis gelangen, dass die Schuldfähigkeit gemäß § 20 StGB aufgehoben war.

Ganz anders hingegen, wenn der Sachverständige nur zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB kommt. In einem solchem Fall eröffnet das Tatbestandsmerkmal „erheblich“ dem Gericht einen sehr weiten Spielraum, d.h. das Gericht kann dem Sachverständigen darin folgen, dass die Schuldfähigkeit durchaus beeinträchtigt war, gleichzeitig aber entscheiden, dass die Schwelle der Erheblichkeit im Sinne von § 21 aufgrund der überragenden Bedeutung des Rechtsguts „Leben“ nicht erreicht wurde (Rechtsfrage!). Abgerundet mit dem passenden Zitat („Ferner ist bei Taten höchster Schwere bei der Zubilligung der Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit wegen der hohen Hemmschwelle besondere Zurückhaltung geboten.“BGH, 07.11.2013, 5 StR 377/13, NStZ 2014, 80) ist diese Entscheidung für die Revision praktisch unangreifbar.