Keine „Rechtsfolgenlösung“ für Drogenhändler!

Über die „Rechtsfolgenlösung“ – erfunden vom Großen Senat für Strafsachen des Bundgerichtshofs vor knapp 40 Jahren – hatte ich an anderer Stelle bereits berichtet. Kürzlich war der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 19.08.2020, 5 StR 219/20) einmal mehr veranlasst, sich zu den Voraussetzungen und Grenzen der „Rechtsfolgenlösung“ zu äußern. Und siehe da: offenbar hat man dort für mehrfach vorbestrafte Drogenhändler genauso viel bzw. wenig Verständnis wie für sexuell motivierte Kannibalen!

Arm yourself, because no-one else here will save you!
(Chris Cornell – You know my name)

Ausgangspunkt des im Ergebnis tödlichen Streits war ein misslungenes Drogengeschäft in den Niederlanden. In dessen Folge sah sich der Angeklagte eines Abends drei kräftig gebauten, aber unbewaffneten, Männern gegenüber, die von ihm aufgrund dieses Geschäfts die Zahlung von 20.000,- Euro verlangten. Als der Angeklagte erklärte, diesen Betrag nicht zahlen zu wollen, erwiderte der spätere Geschädigte, der Angeklagte werde sehen, was er davon habe. Dies dürften seine letzten Worte gewesen sein, denn zum weiteren Ablauf heißt es in der Revisionsentscheidung: „Spätestens jetzt entschloss sich der durch die zahlenmäßig überlegene Gruppe eingeschüchterte Angeklagte dazu, die mitgeführte Waffe zu ziehen. Er war in Sorge, man könne gegen ihn körperlich vorgehen, und wollte eine Schlägerei um jeden Preis vermeiden. Ihm war aber klar, dass keiner der drei unmittelbar zu einem konkreten Angriff ansetzte. In dieser Situation zog er die Pistole, machte wenige Schritte um seine überraschten Gegner herum und schoss zweimal gezielt auf Kr., um diesen zu töten. Dabei war ihm klar, dass der Angriff sein Opfer und dessen Begleiter völlig unvorbereitet traf. Ihm kam es aber gerade darauf an, etwaigen Attacken seitens der ihm überlegenen Gruppe mit Hilfe eines durch den plötzlichen Einsatz der Schusswaffe erzielten Überraschungseffekts zuvorzukommen und eine Gegenwehr von vorneherein auszuschalten. Kr. verstarb an den Folgen der beiden Treffer noch vor Ort.“

Cannabis kann tödlich sein!

Das Landgericht Hamburg hatte den Angeklagten wegen heimtückisch begangenen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Zu der zeitigen Freiheitsstrafe war die Kammer in Anwendung der „Rechtsfolgenlösung“ gekommen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der BGH diese Strafe auf. Zur Begründung heißt es u.a., dass auf die „Rechtsfolgenlösung „nicht voreilig ausgewichen werden dürfe“. Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen habe „nichts daran geändert, dass im Regelfall für eine heimtückisch begangene Tötung auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen ist.“ Durch die Entscheidung sei „nicht allgemein ein Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle“ eingeführt worden. Es müssten vielmehr „schuldmindernde Umstände besonderer Art vorliegen, die in ihrer Gewichtung gesetzlichen Milderungsgründen vergleichbar sind“.

Trotz „Rechtsfolgenlösung“ – die lebenslange Freiheitsstrafe bleibt der Normalfall!

Diese Umstände hatte die Kammer daraus herzuleiten versucht, dass der Angeklagte vom Geschädigten und dessen Begleitern erpresst worden sei und sich auch nicht an die Polizei habe wenden können, ohne sich selbst dem Risiko einer (erneuten) Strafverfolgung auszusetzen. Zudem habe sich der Angeklagte zumindest im Grenzbereich einer Affekttat bzw. einer Entschuldigung gem. § 33 StGB befunden, weshalb eine lebenslange Freiheitsstrafe, wie sie § 211 Abs. 1 StGB vorsieht, unverhältnismäßig erscheine.

Den 5. Senat überzeugte dies nicht. Bei Anwendung der „Rechtsfolgenlösung“ habe das Landgericht „teilweise den falschen Maßstab angelegt und teilweise wichtige Umstände der Tat außer Acht gelassen“. Hierzu heißt es: „Ganz entscheidend gegen eine derart strafmildernde Berücksichtigung der konkreten Drucksituation spricht das strafbare Vorverhalten des Angeklagten, das letztlich dem Konflikt zugrunde lag und vom Landgericht bei der Abwägung verschiedener Gesichtspunkte nicht ausreichend in seiner Bedeutung erfasst worden ist. Obwohl der Angeklagte unter zweifacher einschlägiger Bewährung stand, hat er eine strafbare Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (vgl. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 27 StGB) begangen, indem er Ku. in die Niederlande begleitete und ihm einen Drogenlieferanten für den Erwerb angesichts des Kaufpreises ersichtlich über dem Grenzwert einer nicht geringen Menge liegender und zum Weiterverkauf bestimmter Drogen für etwa 12.000 Euro vermittelte. Da Konflikte um die Qualität des Rauschgifts oder etwaige Rückzahlungen für das kriminelle Drogenmilieu nicht untypisch sind, lag die Ursache für die nachfolgende Entwicklung zunächst allein in einer Straftat des Angeklagten. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte sei deshalb an der weiteren Entwicklung „nicht gänzlich schuldlos“ gewesen, verkennt das Gewicht seines vorwerfbaren Vorverhaltens. […] Entgegen der Auffassung des Landgerichts war es dem Angeklagten in dieser Situation auch ohne weiteres zuzumuten, sich staatlicher Hilfe gegen den Erpressungsversuch zu versichern, auch wenn er sich damit womöglich dem Risiko erneuter Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Denn dies hatte er letztlich selbst verschuldet. Ein unzulässiger Zwang zur Selbstbelastung geht mit dieser Wertung nicht einher. Stattdessen hat sich der Angeklagte – trotz einschlägig negativer Vorerfahrungen mit Kr. – nicht nur bewusst selbst in Gefahr begeben, indem er sich auf ein Treffen mit diesem einließ, sondern durch die (nach § 52 WaffG strafbare) gezielte Mitnahme einer geladenen Schusswaffe zu dieser potentiell gefährlichen Situation auch deren späteren Einsatz vorbereitet. Dass das heimtückische Handeln des Angeklagten – wie das Landgericht meint – angesichts der Überzahl seiner Gegner in gewisser Weise „unausweichlich“ gewesen wäre, erschließt sich angesichts dieses Vorverhaltens nicht ohne weiteres.“

Außerdem habe das Landgericht außer Acht gelassen, dass der bereits mehrfach wegen Gewaltverbrechen vorbestrafte Angeklagte mit – nach neuerer Rechtsprechung strafschärfender – Tötungsabsicht gehandelt habe (vgl. dazu BGH, 10.01.2018, 2 StR 150/15) und dass die Schüsse in der belebten Innenstadt geeignet gewesen seien, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit ganz besonders gravierend zu stören.

Für die Praxis folgt daraus, dass es für die „Rechtsfolgenlösung“ nicht allein auf das Vorliegen „schuldmindernder Umstände besonderer Art“ ankommt, sondern auch auf das Nichtvorliegen schulderhöhender Umstände, von denen der BGH hier eine ganze Reihe ausgemacht hat. Die Anwendung der „Rechtsfolgenlösung“ auf Morde in kriminellen Kreisen dürfte daher regelmäßig nicht in Betracht kommen.

§ 217 StGB ist verfassungswidrig!

In den vergangenen Monaten ist das Thema Sterbehilfe/Suizidbegleitung juristisch in Bewegung gekommen. Nachdem zunächst der Bundesgerichtshof im Sommer vergangenen Jahres entschieden hatte, dass die Unterstützung und Begleitung einer frei- und eigenverantwortlichen Selbsttötung nach der bis zum 09.12.2015 geltenden Rechtslage nicht strafbar war, hat das Bundesverfassungsgericht am 26.02.2020 nachgelegt. Der seit dem 10.12.2015 geltende § 217 StGB ist verfassungswidrig, das Verbot der „Geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ ist nichtig!

Legitimes Ziel, falsche Herangehensweise: § 217 StGB ist verfassungswidrig!

Die Entscheidung des Bundverfassungsgerichts war seit langem mit Spannung erwartet worden, die Verfahren waren seit 2015 bzw. 2016 anhängig. Bereits im April 2019 hatten zwei mündliche Verhandlungstermine stattgefunden. Dass die Entscheidung erst jetzt gefallen ist, hängt damit zusammen, dass sich der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts sehr ausführlich mit der Materie beschäftigt hat. Wer die Entscheidung liest, findet die rechtshistorische Entwicklung vom römischen Recht über das Reichsstrafgesetzbuch von 1870, die Große Strafrechtskommission der 1950er Jahre, den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1970 sowie weitere Gesetzinitiativen aus den letzten Jahrzehnten. Dazu gibt es eine Darstellung der Rechtslage in anderen Staaten (Schweiz, Niederlanden, Belgien, Kanada und Oregon). Zahlreiche Stellungnahmen, u.a. des Deutschen Bundestages und der Bayerischen Landesregierung, des Kommissariats der deutschen Bischöfe, der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bundesärztekammer, des Marburger Bundes, des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe – Bundesverband e.V., der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., der Deutschen PalliativStiftung, der Deutsche Stiftung Patientenschutz, des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes e.V. sowie der Humanistischen Union, des Humanistischen Verbandes Deutschland – Bundesverband e.V. und des Deutschen Anwaltsvereins e.V. wurden eingeholt und mehr als ein Dutzend „sachkundige Dritte“ vom Senat angehört, darunter Psychiater, Psychologen, Pharmakologen, Palliativmediziner, Pflegedirektoren und Leiter von Pflegeinrichtungen.

Gutes Recht braucht seine Zeit – in diesem Fall mehrere Jahre!

Die unter Berücksichtigung all dessen getroffene Entscheidung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folge ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches sowohl das Recht auf Selbsttötung umfasse als auch die Freiheit, sich bei der Selbsttötung von Dritten helfen zu lassen. Dieses Recht sei nicht auf bestimmte Situationen oder Zustände beschränkt, wie etwa schwere oder unheilbare Krankheitszustände. Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gem. § 217 StGB habe zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen „faktisch weitgehend entleert“ sei. Die daraus für sterbewillige Menschen folgende Belastung sei unangemessen, weil sie eine „vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung“ bedeute. Durch das in § 217 StGB geregelte Verbot sei der Entschluss zur Selbsttötung einem „unwiderleglichen Generalverdacht mangelnder Freiheit und Reflexion“ unterstellt. Dadurch werde „die verfassungsprägende Grundvorstellung des Menschen als eines in Freiheit zu Selbstbestimmung und Selbstentfaltung fähigen Wesens in ihr Gegenteil verkehrt“ – viel deutlicher kann man dem Gesetzgeber nicht die Leviten lesen.

Bedeutet das jetzt, dass Deutschland zu einem Paradies für Sterbewillige, gar die schwächelnde Autoindustrie durch eine boomende Sterbebegleitungsindustrie ersetzt wird? Höchstwahrscheinlich nicht, denn das der Gesetzgeber infolge der Entscheidung untätig bleibt, ist nicht zu erwarten. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung legitimen Gemeinwohlzwecken diene und ist auch geeignet sei, diese zu erreichen. Mit anderen Worten: auch das Bundesverfassungsgericht sieht die mit der Möglichkeit einer professionellen Suizidbegleitung verbundenen Probleme. Psychische Erkrankungen, unrealistische Vorstellungen und Ängste infolge unzureichender Aufklärung sowie die Gefahr sozialen Drucks sind nur einige von ihnen. Daten aus Oregon hätten ergeben, dass von den Personen, die im Jahr 2017 ärztlich assistierten Suizid begingen, 55,2 % als Grund ihrer Entscheidung die Sorge vor den Belastungen für ihre Familie, Freunde und Pfleger nannten – wahrlich ein Grund zur Sorge!

Depression, Angst, sozialer Druck oder autonome Entscheidung?

Wohl deshalb hat der Senat folgende „Segelanweisung“ formuliert: „Der Gesetzgeber darf […] einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen. Der Einzelne darf – auch jenseits konkreter Einflussnahmen durch Dritte – nicht der Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausgesetzt sein. Zwar kann Willensfreiheit nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst. Da der Schutz des Lebens dem Einzelnen von der Verfassung als nicht rechtfertigungsbedürftiger Selbstzweck zugesagt ist und er auf der unbedingten Anerkennung der Person in ihrer bloßen Existenz beruht, darf und muss der Gesetzgeber aber gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten von Seiten Dritter rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Entsprechend kann er Vorkehrungen treffen, dass Personen nicht in schweren Lebenslagen in die Situation gebracht werden, sich mit solchen Angeboten auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen.“

Video-Verhöre kaum möglich?

Vor ein paar Tagen fiel mir zufällig die „Schweriner Volkszeitung“ vom 23.01.2020 in die Hände. Auf der ersten Seite prangte die Überschrift „Video-Verhöre kaum möglich“, versehen mit der Unterzeile „Seit 1. Januar neue Vorschriften bei Vernehmungen von Mordverdächtigen / Polizei sieht sich ungenügend gerüstet“. So etwas erregt naturgemäß meine Aufmerksamkeit. Ist – zumindest in Mecklenburg-Vorpommern – die Umsetzung der neu geregelten Bild-Ton-Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung in Gefahr?

Video-Verhöre kaum möglich?

Es existieren, so der Artikel, landesweit derzeit 5 Videovernehmungsräume bei der Polizei, 14 weitere seien „im Aufbau“. Das entspricht einer Fertigstellungsquote von guten 26%. Bei einem Gesetz, das am 23.08.2017 veröffentlicht wurde, ist das wahrlich kein Ruhmesblatt für das Innenministerium. Das nordöstlichste aller deutschen Justizministerien scheint, wenn man dem Artikel glauben darf, besser aufgestellt zu sein: alle vier Staatsanwaltschaften sollen zumindest über „funktionierende Übergangslösungen“ verfügen.

Die Regelung, in Kraft getreten am 1.1.2020, wurde am 23.8.2017 veröffentlicht!

Über die Gründe für die derzeitige Situation lässt sich der „Schweriner Volkszeitung“ nichts entnehmen. Möglicherweise haben die Verantwortlichen ja die Gesetzesbegründung gelesen und daraus den Schluss gezogen, dass man sich nicht sonderlich beeilen müsse. Denn ausweislich des Regierungsentwurfs (dort S. 27 unten) stellt § 136 Absatz 4 StPO nur eine „Ordnungsvorschrift“ dar. Für mich ehrlicherweise überraschend: Verstöße gegen diese Norm sollen nach dem gesetzgeberischen Willen weitgehend folgenlos bleiben! Im Gesetzentwurf heißt es dazu: „Bei Vorhandensein einer Videoaufzeichnung kann der Nachweis der Einhaltung der Vernehmungsformalitäten grundsätzlich leichter erbracht werden. Ist keine Videoaufzeichnung vorhanden, gelten die hergebrachten Grundsätze für die Feststellung der Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten im Freibeweisverfahren; der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt grundsätzlich nicht (statt aller Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Auflage 2015, § 136 Rn. 23; § 136a Rn. 32). Aus dem Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann folglich nicht der Schluss gezogen werden, dass die Vernehmungsförmlichkeiten nicht eingehalten wurden oder ihre Einhaltung nicht mehr feststellbar sei. Auch im Übrigen führt das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung grundsätzlich nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage im weiteren Verfahren, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung vorgelegen haben.“

Nur eine „Ordnungsvorschrift“ – der neue § 136 Abs. 4 StPO!

Ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt abzuwarten. Als Verteidiger wird man trotz der Gesetzesbegründung kaum umhinkommen, bei Verstößen gegen § 136 Abs. 4 StPO in geeigneten Fällen Verwertungswiderspruch zu erheben. Ob’s was nützt ist freilich ungewiss…

„Nur eine Frau“ – Ehrenmord, Blutrache & Co.

Am Mittwoch, den 29.01.2020 um 20:15 zeigt die ARD den Kinofilm „Nur eine Frau“ von Sherry Hormans, der – wenn auch in abgewandelter Form – vom gewaltsamend Tod der damals 23-jährigen Hatun Aynur Sürücü im Jahre 2005 erzählt. Die junge Frau hatte sich von ihrem Ehemann getrennt und sich mit ihren Eltern überworfen, woraufhin einer ihrer Brüder (damals 19 Jahre alt) sie an einer Bushaltestelle in Berlin erschoss. Es ging also nicht um Blutrache, sondern um eine sog. Ehrenmord.

In juristischer Hinsicht stellt sich in Fällen wie dem oben beschriebenen regelmäßig die Frage, ob und wie viele Mordmerkmal vorliegen. Wenn der Täter sein Opfer unter bewusster Ausnutzung des Überraschungsmoments tötet, liegt Heimtücke vor. Damit ist die Tat als Mord qualifiziert, der Täter ist gemäß § 211 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Damit hat es allerdings noch längst nicht sein Bewenden, denn wenn ein zweites Mordmerkmal hinzutritt, droht ihm noch schlimmeres Unheil, nämlich die Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“ im Sinne von § 57a StGB.

Das zweite Mordmerkmal, das regelmäßig in Betracht kommt, ist die Begehung der Tat aus „niedrigen Beweggründen“. Zur Erinnerung: „Beweggründe sind im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB niedrig, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verachtenswert sind.“ (BGH, 22.03.2017, NStZ 2018, 527). Geht man davon aus, dass der Bruder von Hatun Sürücü, um bei diesem Fall zu bleiben, sich um der Familienehre willen nicht nur berechtigt, sondern möglicherweise sogar verpflichtet fühlte, seine „ehrlose“ Schwester zu töten, stellt sich die Frage, aus wessen Sicht zu bestimmen ist, was „sittlich auf tiefster Stufe steht“. Klar ist: einen allgemein akzeptierten Konsens wird man vielen Fällen aufgrund der Heterogenität der Gesellschaft und der verschiedenen kulturellen und religiösen Prägungen und Vorstellungen nicht ermitteln können. Die „allgemeine sittliche Wertung“ übernehmen daher letztlich die Gerichte, in buchstäblich letzter Instanz der Bundesgerichtshof. Und der hat dazu unlängst (BGH, 28.11.2017, 5 StR 480/17, NStZ 2018, 92) wieder entschieden: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe zu entnehmen, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt . Vor diesem Hintergrund kann die Verwurzelung eines Täters in einem anderen Kulturkreis und in einer bestimmten Glaubensform nur ganz ausnahmsweise die Ablehnung der subjektiven Seite niedriger Beweggründe rechtfertigen.“ Damit ist klar: bei der Frage, was ein „niedriger Beweggrund“ ist, gibt es eine Art „bundesrepublikanische Leitkultur“, die sich am Grundgesetz (insbesondere der Menschenwürde, dem Recht auf Leben und der Gleichberechtigung von Mann und Frau) orientiert.

„Nur eine Frau“ – Ehrenmord, Blutrache & Co.

Vor diesem Hintergrund ist zu differenzieren: beruht die Tatmotivation (Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht) auf „einem (berechtigten) Gefühl erlittenen schweren Unrechts und entbehren sie damit nicht eines beachtlichen, jedenfalls einleuchtenden Grundes, spricht dies gegen eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation“. Ein Beispiel hierfür wäre die Tötung eines Mörders durch den Sohn des Opfers, sofern diesen bei Begehung seiner Tat der Tod seines Vaters noch erheblich belastet.

Wenn sich der Täter hingegen „seiner persönlichen Ehre und der Familienehre wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt“, steht sein Motiv in der Regel „sittlich auf tiefster Stufe“ (BGH, 10.01.2006, 5 StR 341/05, NStZ 2006, 286). Das ist bei „Ehrenmorden“ zum Nachteil von Frauen, die wie Hatun Sürücü nicht mehr wollen als ein selbst bestimmtes Leben zu führen, regelmäßig der Fall.

Der besonders schwere Fall des Totschlags

Der besonders schwere Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB) ist ein Exot und kommt in der Praxis ungefähr so häufig vor wie eine Sonnenfinsternis. Dennoch gibt es ihn, wie eine aktuelle Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.01.2020, 5 StR 407/19) beweist. Also schauen wir uns dieses seltene Phänomen einmal aus der Nähe an.

Der besonders schwere Fall des Totschlags ist ein Exot!

Das Besondere am besonders schweren Fall des Totschlags ist seine Rechtsfolge – die lebenslange Freiheitsstrafe. Damit wird ein Totschläger – ausnahmsweise – wie ein Mörder bestraft. Nach der Rechtsprechung (BGH, 07.08.2018, 3 StR 47/18) sind die Voraussetzungen entsprechend hoch: „Ein besonders schwerer Fall des Totschlags setzt voraus, dass das in der Tat zum Ausdruck kommende Verschulden des Täters außergewöhnlich groß ist. Es muss ebenso schwer wiegen wie das eines Mörders. Dafür genügt nicht schon die bloße Nähe der die Tat oder den Täter kennzeichnenden Umstände zu gesetzlichen Mordmerkmalen. Es müssen vielmehr schulderhöhende Gesichtspunkte hinzukommen, die besonders gewichtig sind.“

In dem jüngst entschiedenen Fall sah der 5. Strafsenat diese Voraussetzungen als erfüllt an. In der Pressemitteilung des BGH heißt es zum tatsächlichen Geschehen: „Nach den Urteilsfeststellungen töteten die stark alkoholisierten und daher in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Angeklagten den als „Squeezer“-Sänger bekannten Musiker und Moderator Jim R. im Januar 2016 in einem Berliner Hostel mit brutalen Schlägen und Tritten. Tatmotiv waren Wut und Empörung der Angeklagten darüber, dass ihnen ihr Zimmergenosse sexuelle Avancen gemacht hatte.“

Bemerkenswert ist, dass die Angeklagten mit zeitigen Freiheitsstrafen von 13 bzw. 14 Jahren „davongekommen“ sind. Damit wir uns nicht falsch verstehen: das ist beileibe kein „Pappenstiel“ , das sind ganz erhebliche Strafen. Aber dem drohenden „Lebenslang“ sind die Angeklagten entgangen, und das ist alles andere als selbstverständlich. Die (nur) alkoholbedingte erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB führt nämlich nicht mehr automatisch zu der – hier gewährten – Strafrahmenverschiebung. Näheres hierzu erfahren wir möglicherweise, wenn die Entscheidung in Gänze veröffentlicht ist.

Sittlich auf tiefster Stufe – der „niedrige Beweggrund“

Die Tötung aus „niedrigen Beweggründen“ ist – neben der Heimtücke – das praxisrelevanteste Mordmerkmal. Und aus diesem Grund ist die Prüfung, ob eine Tatmotivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“, auch immer wieder Gegenstand von Examensklausuren. Zugleich ist es dasjenige Mordmerkmal, bei dem man am ehesten, wie es Strafverteidiger seit langem regelmäßig tun, den Vorwurf fehlender Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz) erheben kann.

Und es ist sicher auch das Mordmerkmal, dass am meisten an den (Un-)Geist seiner Väter erinnert, denn die Einführung der Mordmerkmale, wie sich noch heute gelten, geht auf die NS-Zeit zurück. Tatsächlich ist § 211 StGB seit 1941 weitgehend unverändert geblieben, wenn man davon absieht, dass es heutzutage weder die Zuchthaus- noch die Todesstrafe (Art. 102 Grundgesetz) gibt. Nach der Gesetzessystematik ist der „niedrige Beweggrund“ als Generalsklausel gedacht und soll diejenigen Fälle erfassen , die sich nicht unter ein anderes Mordmerkmal subsumieren lassen, aber dennoch besonders verachtenswert erscheinen und eine besonders hohe Strafe rechtfertigen. Für die Justiz im Nationalsozialismus war „niedrig“, was der damaligen Weltanschauung und Rassenlehre widersprach. Der „niedrige Beweggrund“ war demnach auch und vor allem ein politisches Mordmerkmal und Werkzeug der Repression.

Der „niedrige Beweggrund“ – ein ursprünglich politisches Mordmerkmal!

Heutzutage gilt naturgemäß ein anderer Maßstab und nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.09.2019, 5 StR 399/19) in Ansehung des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) folgende Definition: „Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Die Beurteilung der Frage, ob ein Beweggrund „niedrig“ ist und – in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag – als verachtenswert erscheint, hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit zu erfolgen. Bei einer Tötung aus Wut, Ärger, Hass oder Rache kommt es darauf an, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen. Wut oder Verärgerung sind als niedrig einzustufen, wenn sie unter Berücksichtigung der Beziehung zwischen Täter und Opfer eines beachtlichen Grundes entbehren. Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt. In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann. Dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen.“

Außer Stande, sich von gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen?

Beim Vorliegen mehrerer verschiedener Motive („Motivbündel“) ist das Merkmal des niedrigen Beweggrundes“ nur erfüllt, wenn „das Hauptmotiv oder die vorherrschenden Motive, welche der Tat ihr Gepräge geben, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verwerflich sind“ (BGH, 12.09.2018, 2 StR 113/18).

In der Praxis haben sich diverse Fallgruppen entwickelt, in denen das Mordmotiv diese Voraussetzungen erfüllen kann. Hierzu gehört die Tötung des Intimpartnerin bzw. des Intimpartners. Im Einzelfall zu klären ist, ob die Tötung Ausdruck eines menschenverachtenden Besitzdenkens ist („Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch kein anderer haben!“ – zweifellos ein niedriger Beweggrund) oder ob sie auf dem Gefühl von Verzweiflung, innerer Ausweglosigkeit und erlittenem Unrecht beruht, was „eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation fraglich erscheinen“ lässt (BGH, 12.06.2013, 5 StR 129/13). Politisch motivierte Tötungen sind regelmäßig „niedrig“ im Sine von § 211 StGB.

Eine weitere bedeutsame Fallgruppe ist die Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers. Diese kann sich darin äußern, dass der Täter meint, nach eigenem Gutdünken über das Leben des Opfers verfügen zu können oder dass er das Opfer in besonders herabsetzender Weise gequält und getötet wird und damit „nicht einmal mehr ansatzweise als Person, sondern nur noch wie ein beliebiges Objekt, mit dem man nach hemmungslosem Gutdünken verfahren kann, behandelt wird.“ (BGH, 22.10.2014, 5 StR 380/14). Auch das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen (im konkreten Fall an einem knapp zweijährigen Kind) ist regemäßig „niedrig“. Hierzu hat der Bundesgerichtshof (BGH, 15.09.2015, 5 StR 222/15) ausgeführt: „Das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen an einem Opfer, das mit der Entstehung der Unzufriedenheit und Angespanntheit des Täters verantwortlich weder personell noch tatsituativ etwas zu tun hat, lässt auf das Vorliegen niedriger Beweggründe schließen: Derjenige, der einen anderen Menschen zum Objekt seiner Wut, Gereiztheit, Enttäuschung oder Verbitterung macht, obschon dieser an der Entstehung solcher Stimmungen nicht den geringsten Anteil hat, bringt mit der Tat eine Gesinnung zum Ausdruck, die Lust an körperlicher Misshandlung zum Inhalt hat. Insbesondere der Aspekt der willkürlichen Opferauswahl rechtfertigt die Einstufung solcher Tötungsakte als Mord; denn eine derartige Degradierung des Opfers zum bloßen Objekt belegt die totale Missachtung des Anspruchs eines jeden Menschen auf Anerkennung seines personalen Eigenwerts. Der den Eigenwert des Opfers negierende Vernichtungswille tritt hier – neben der Art und Weise der Tatausführung – zusätzlich auch in der Wortwahl des Angeklagten zu Tage, der das Kind während seiner Handlungen als Drecksgöre und Balg bezeichnete, mit dem man kein Mitleid haben müsse.“

Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Heute will ich meine geneigte Leserschaft zu einem Ausflug ins Strafvollstreckungsrecht einladen. Es geht um die Frage, ob die für eine Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB erforderliche günstige Sozialprognose bei Verurteilten, bei denen eine Suchtproblematik (Alkohol und/oder Betäubungsmittel) besteht, vom Vorhandensein eines Therapieplatzes abhängt. Oder verkürzt gefragt: Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Das Gesetz beantwortet diese Frage nicht ausdrücklich. In § 57 Abs. 1 Nummer 3 StGB ist nur geregelt, dass eine Aussetzung des Strafrestes erfolgt, wenn dies „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. Die Weisung, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, ist in § 56c Abs. 3 StGB ausdrücklich vorgesehen mit der Maßgabe, dass der Verurteilte hierzu seine Einwilligung erteilen muss.

Mehrfach wöchentlich lese ich Stellungnahmen von Justizvollzugsbediensteten, in denen es heißt, eine bedingte Entlassung des Verurteilten werde mit der Maßgabe befürwortet, dass sich dieser direkt in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung begebe. Nicht selten – und einfach zu entscheiden – sind Konstellationen, in denen der Verurteilte entweder keine Kostenzusage oder kein Therapieplatz vorzuweisen hat. In diesen Fällen wird – von wenigen Ausnahmen, wie der Anbindung an ein Substitutionsprogramm, abgesehen – eine Reststrafenaussetzung mangels günstiger Sozialprognose ohnehin nicht in Betracht kommen.

Schwieriger wird es, wenn sich der Verurteilte mithilfe des Suchberaters in der JVA mit Erfolg um Kostenzusage und Therapieplatz bemüht hat. Wobei schwierig vor allem in menschlicher Hinsicht gilt, kommen doch Verurteilte in dieser Situation sehr häufig mit der Erwartung zur Anhörung, dass die Reststrafenaussetzung angesichts der von Ihnen geleisteten „Vorarbeit“ nur noch eine Formsache sei. Wenn man ihm dann eröffnet, dass dem keineswegs so ist, blickt man nicht selten in ein betretenes Gesicht. Weist man dann noch darauf hin, dass der Verurteilte eine stationäre Therapie doch auch im Anschluss an die Haftzeit absolvieren könne, schlägt einem oftmals blanken Unverständnis entgegen. Sätze wie: „Brauche ich nicht, ich bin doch schon seit Monaten clean!“ oder „Nach meiner Entlassung aus der Haft habe ich wirklich besseres zu tun!“ sind die typischen Reaktionen, die den tatsächlichen Stellenwert der – angeblich unbedingt gewollten – Therapie allzu deutlich erkennen lassen.

Kein Alkohol ist auch keine Lösung! Ich hab‘ es immer wieder versucht…
(Die Toten Hosen)

Und welchen juristischen Stellenwert hat das Vorhandensein eines Therapieplatzes bei der Beurteilung der Sozialprognose? In einer aktuellen Entscheidung vom 20.12.2019 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle (Download am Ende des Absatzes) ausgeführt: „Die dem Verurteilten erteilte Kostenzusage für die angestrebte Suchttherapie sowie der bereitstehende Therapieplatz sind hinsichtlich der Frage einer Reststrafenaussetzung für sich genommen positiv zu würdigende Umstände. Dies reicht jedoch nicht aus. Denn die Teilnahme an einer stationären Suchttherapie bildet so lange keine tragfähige Grundlage für die nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB für eine Reststrafenaussetzung erforderliche günstige Legalprognose, wie der Erfolg der Therapie ungewiss ist. Um die notwendige Gewissheit zu erlangen, muss die Therapie in der Regel abgeschlossen oder soweit gediehen sein, dass der Erfolg unmittelbar bevorsteht. Im Fall einer stationären Therapie kann es genügen, dass der Verurteilte sie bereits angetreten hat. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Erteilung einer Therapieweisung im konkreten Fall eine tragfähige Grundlage für eine günstige Entlassungsprognose bietet. Dies ist nur gegeben, wenn ein dauerhafter Erfolg der angestrebten Therapie wahrscheinlich ist.“

Damit liegt das Oberlandesgericht Celle auf eine Linie mit dem Kammergericht Berlin, das in seinem Beschluss vom 12.07.2018 (5 Ws 99/18, zitiert nach juris) außerdem verlangt, dass die Therapie die Ursachen der Strafbarkeit insgesamt beseitigt. Ist die Suchtproblematik hingegen nur eine Ursache unter vielen, würde selbst eine erfolgreiche Behandlung nicht ausreichen, um die Erwartung künftiger Straffreiheit zu rechtfertigen.

Folgt man der vorgenannten Entscheidungen, so sind Reststrafenaussetzungen mit Therapieweisung die absolute Ausnahme. Dass dies für Angeklagte und Verteidiger keine frohe Botschaft ist, liegt auf der Hand. Andererseits ist die Strafvollstreckungskammer auch nicht dazu berufen, die frohe Botschaft zu verkünden, sondern dazu, die Sozialprognose eines Verurteilten einzuschätzen. Und leider zeigt die Erfahrung, dass mit dem Haftdruck nicht selten auch die Krankheits- und Behandlungseinsicht nachlässt. Mit den Worten des KG Berlin ausgedrückt: „Gewährleistet wäre bei dem vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Procedere allein dessen Ankunft in der Therapieeinrichtung. Dagegen wären sein dortiger Verbleib und seine aktive Mitwirkung an der Therapie ungewiss.“

Überdies sind viele stationäre Therapieangebote schon für sich genommen zweifelhaft bzw. hinsichtlich ihrer Eignung kaum zu überprüfen. Belastbare Informationen über Ausbildung und Qualifikation von Therapeuten, konkrete Therapieinhalte und die Frequenz von Behandlungsmaßnahmen sind auch für die Strafvollstreckungskammer kaum zu erlangen, denn schließlich handelt es sich typischerweise um privatrechtlich organisierte Träger, die Informationen nach Belieben herausgeben oder verweigern.

Zu schön um wahr zu sein – Suchtfrei in drei Monaten!

Nicht zuletzt sind die meisten stationären Therapieangebote, die von der gesetzlichen Rentenversicherung bezahlt werden, in zeitlicher Hinsicht eng begrenzt, in der Regel auf 3-4 Monate. Setzt man dies ins Verhältnis zur Dauer einer Entwöhnungsbehandlung, die im Rahmen des Maßregelvollzuges nach § 64 StGB durchgeführt wird und die einschließlich der Rehabilitationsphase (Erprobung) typischerweise mindestens zwei Jahre dauert, so wird schnell deutlich, dass gerade bei langjährig abhängigen Verurteilten so gut wie keine Aussicht auf einen dauerhaften Erfolg einer auf wenige Monate beschränkten „Kurztherapie“ besteht. Dies gilt erst recht, wenn neben der Suchterkrankung noch eine dissoziale Persönlichkeit in Rede steht, welche die therapeutische Arbeit erschwert und verlangsamt.

Die Bewerbung als Richterin bzw. Richter

In diesem Beitrag habe ich – natürlich ohne Gewähr – Informationen zusammengestellt, die jungen Volljuristinnen und Volljuristen die Bewerbung als Richterin bzw. Richter erleichtern sollen. Die Einstellungsvoraussetzungen sind derzeit günstig: in vielen Bundesländern können BewerberInnen bereits ab 8 Punkten im zweiten Staatsexamen mit einer Einladung zum Vorstellungsgespräch rechnen. Wer wirklich an Recht und Gerechtigkeit interessiert ist, sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen! Einen Beitrag zur Richterbesoldung finden Sie hier. In weiteren Artikel können Sie sich über den „Traumberuf Richter“ und mögliche Alternativen informieren.

In Niedersachsen sind Bewerbungen für die ordentliche Gerichtsbarkeit über die Oberlandesgerichte in Braunschweig, Celle und Oldenburg einzureichen. Das Niedersächsische Justizministerium hat dazu ein umfangreiches Merkblatt veröffentlicht. Darin heißt es: „Mindestvoraussetzung für die Einladung zum Einstellungsinterview sind 8 Punkte in der zweiten juristischen Staatsprüfung. Berücksichtigt werden können auch Bewerberinnen und Bewerber, die im zweiten Staatsexamen ein befriedigendes Ergebnis erreicht haben, wenn ihre besondere fachliche Qualifikation anderweitig belegt ist, etwa durch nachgewiesene besondere Leistungen im Referendariat oder der ersten Staatsprüfung oder durch nachgewiesene wissenschaftliche Tätigkeit. Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber, die im 2. Staatsexamen ein mindestens befriedigendes Ergebnis erreicht haben, erhalten auf ihre Bewerbung hin stets eine Einladung zu einem Einstellungsinterview.“ Für eine Einstellung in einer der sog. Fachgerichtsbarkeiten (Arbeits-, Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit) gibt es ein gesondertes Merkblatt.

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In Nordrhein-Westfalen wird ein Prädikat (mindestens 9 Punkte) im zweiten Staatsexamen erwartet. Es können aber auch Bewerber, die zwar weniger als 9,0 Punkte, jedoch mehr als 7,75 Punkte im zweiten Staatsexamen erreicht haben, bei dem Auswahlverfahren berücksichtigt werden, wenn sie sich zusätzlich durch besondere persönliche Eigenschaften auszeichnen. Bewerbungen für die ordentliche Justiz sind an die Oberlandesgerichte Düsseldorf, Hamm und Köln zu richten. Über das Einstellungsverfahren informiert eine Broschüre. Die Fachgerichtsbarkeiten führen eigene Bewerbungsverfahren durch, so z.B. das OVG Münster, das ein eigenes Infoblatt herausgegeben hat.

In Hessen laufen Bewerbungen für alle Gerichtszweige über das Hessische Ministerium für Justiz, auf dessen Internetseite ein Bewerbungsformular und eine Einverständniserklärung für die Einsichtnahme in die Personalakten heruntergeladen werden können. Hier gilt ein Mindestwert von 8 Punkten im zweiten Staatsexamen und eine Summe von mindestens 17 Punkten aus beiden Staatsexamen.

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In Hamburg sind Bewerbungen an das Hanseatische Oberlandesgericht zu richten. Hier werden grundsätzlich zwei mindestens vollbefriedigende Staatsexamina vorausgesetzt, ausnahmsweise kann auch ein vollbefriedigendes Examen reichen, wenn im anderen mindestens 8 Punkte erzielt worden sind. Ähnlich sieht es in Bremen aus, auch dort sollen möglichst zwei Prädikatsexamina (mindestens 9 Punkte) nachgewiesen werden, so das dortige Hanseatische Oberlandesgericht.

Auch in Schleswig-Holstein werden grundsätzlich zwei mit Prädikat (mindestens 9 Punkte) abgeschlossene Staatsexamina erwartet, Abweichungen sollen im Einzelfall möglich sein. Bewerbungen nimmt das dortige Ministerium für Justiz, Europa,
Verbraucherschutz und Gleichstellung
entgegen.

In Mecklenburg-Vorpommern gilt: Die Zweite juristische Staatsprüfung soll in der Regel mit mindestens 8,0 Punkten und die Erste juristische Staatsprüfung mindestens mit der Note befriedigend abgeschlossen sein. Aber: Bewerberinnen und Bewerber, die die Zweite juristische Staatsprüfung mit mindestens 7,0 Punkten abgelegt haben, können eingeladen werden, wenn ihre besondere fachliche Qualifikation anderweitig belegt ist, etwa durch herausragende Leistungen in der Ersten juristischen Staatsprüfung oder im Vorbereitungsdienst oder durch sonstige Zusatzqualifikationen (etwa wissenschaftliche Tätigkeit oder Promotion). Bewerbungen sind zu richten an das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern.

In Brandenburg sollen Bewerberinnen und Bewerber das Erste Juristische Staatsexamen mit mindestens befriedigendem Ergebnis und das Zweite Juristische Staatsexamen mit vollbefriedigendem Ergebnis ab­gelegt haben. Bewerbungen für die ordentliche Gerichtsbarkeit nimmt der Präsident des Brandenburgischen Oberlandesgerichts entgegen. Wenn man der Märkischen Allgemeinen glauben darf, gehen dort bis 2030 mehr als die Hälfte aller Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. Das dürfte sich auf die Einstellungschancen durchaus positiv auswirken.

Berlin verlangt von Bewerberinnen und Bewerbern im Ersten Staatsexamen mindestens 7 Punkte und im Zweiten Staatsexamen mindestens 8 Punkte. Bewerbungen sind an die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung zu richten.

In Sachsen-Anhalt wird vorausgesetzt, dass beide juristische Staatsexamina mit der Gesamtnote „befriedigend“ abgeschlossen und in der Summe über beide Prüfungen mindestens 16,50 Punkte erzielt wurden. Berufserfahrung mit juristischem Bezug kann in gewissem Maße Abweichungen von diesem Grundsatz zulassen. Bewerbungen sind einzureichen beim Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt.

Sachsen verlangt in beiden Staatsexamina jeweils mindestens 8 Punkte und weist ausdrücklich darauf hin, dass „Defizite bei den Examensergebnissen im Hinblick auf die Mindestanforderungen nicht ausgeglichen werden“ können. Wer sich bewerben will, kann das beim Sächsischen Staatsministerium der Justiz tun.

Bewerberinnen und Bewerber in Thüringen sollen in der Summe beider Examina mindestens 15 Punkte erreicht haben sowie beide Examen jeweils mindestens mit dem Prädikat „befriedigend“ abgeschlossen haben. Bewerbungen nimmt das Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz entgegen.

In Bayern werden mindestens 8 Punkte im Zweiten Staatsexamen vorausgesetzt. Dabei weist das Bayerischen Staatsministerium der Justiz, das für Bewerbungen zuständig ist, auf folgendes hin: „Für die Auswahlkonkurrenz sind die bayerischen Examensgrundsätze maßgeblich, die insbesondere den schriftlichen Prüfungsteil mit 75 Prozent, den mündlichen Teil mit 25 Prozent gewichten. Außerbayerische Examensergebnisse müssen durch das Bayerische Landesjustizprüfungsamt entsprechend diesen Grundsätzen umgerechnet werden.“ Mia san mia…

Baden-Württemberg verlangt in beiden Staatsexamina jeweils mindestens 8 Punkte. Bewerbungen sind an das Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg zu richten.

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Eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch setzt in Rheinland-Pfalz in der Regel voraus, dass die Zweite Juristische Staatsprüfung mit mindestens 8 Punkten bestanden wurde. Es handele sich hierbei, so das für Bewerbungen zuständige Ministerium der Justiz, „nicht um ein Ausschlusskriterium, sondern lediglich um eine Orientierungsmarke“.

Im Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz des Saarlandes werden Bewerbungen für den Richterdienst angenommen, wenn in beiden juristischen Staatsprüfungen wenigstens eine Prüfungsgesamtnote von je 7,5 Punkten oder im zweiten Staatsexamen von wenigstens 9,0 Punkten erzielt worden ist.

„Don‘t touch me, I kill you!“ – der minder schwere Fall des Totschlags

Vor einigen Monaten hatte ich bereits über eine Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in einem sogenannten „Provokationsfall“ (BGH, 16.01.2019, 4 StR 580/18, NStZ 2019, 408) berichtet. Diese Entscheidung war vor allem im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ instruktiv. Kürzlich hatte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nun ebenfalls einen „Provokationsfall“ zu beurteilen (BGH, 19.11.2019, 2 StR 378/19). In diesem Fall ging es schwerpunktmäßig um das Tatbestandsmerkmal „auf der Stelle zur Tat hingerissen“. Wir nehmen (wieder einmal) zur Kenntnis: „auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!

„Auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!

Zum Sachverhalt teilt der Beschluss folgendes mit: „Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Geschädigte im Vorfeld der Tat eine anfangs verbal geführte Auseinandersetzung mit dem aus Somalia stammenden Angeklagten, indem er ihm am 26. August 2018 gegen 1.45 Uhr beim Verlassen des Festzeltes auf einem Musikfest in B. abfällig zurief: „Geht doch dorthin, wo ihr herkommt“. Sodann „schnipste“ er ihm mit dem Finger die Kappe von dessen Kopf, um ihn weiter zu provozieren. Der Angeklagte geriet in Rage und rief mehrfach „Don‘t touch me, I kill you!“. Im Rahmen der nun folgenden körperlichen Auseinandersetzung schubste der Geschädigte den Angeklagten. Es kam zudem zu gegenseitigen Faustschlägen ins Gesicht. Dabei platzte die Oberlippe des Angeklagten auf. Nachdem die Ehefrau des Geschädigten ihren Ehemann weggezogen hatte, rief der Angeklagte hinterher: „I kill you!“. Er war sehr wütend und wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb suchte er auf dem Gelände vor dem Festzelt nach Gegenständen, um sich zu bewaffnen. Dabei fand er eine Glasflasche, die er so abschlug, dass eine scharfe Schnittkante entstand. Der Angeklagte sammelte seine Begleiter ein und forderte sie auf, ihm zu folgen, um sich moralische Unterstützung zu sichern. Daraufhin rannte er ‒ mehrere Minuten nach der Auseinandersetzung vor dem Zelt ‒ dem Geschädigten hinterher. Als der Angeklagte mit seinen Begleitern den Geschädigten erreicht hatte, umstellten sie diesen. Dessen Frau warnte ihren Ehemann noch mit den Worten „Pass auf, er hat eine Flasche“. Ungeachtet dessen und obwohl einer der Begleiter des Angeklagten diesen noch abzuhalten versuchte, ging der Angeklagte wutentbrannt auf den Geschädigten in der Absicht zu, diesen zu töten. Er schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht und stach zweimal mit dem abgebrochenen Flaschenhals direkt hintereinander in den Oberkörper seines Opfers.“

„Don’t touch me, I kill you!“

Bei diesem Geschehensablauf, so der 2. Strafsenat, „wäre das Landgericht gehalten gewesen, sich mit den Voraussetzungen des § 213 1. Alt. StGB auseinanderzusetzen“. Das ist zweifellos richtig. Wenn man diese Auseinandersetzung mit einem unbefangenen Blick ins Gesetz beginnt, so drängt sich das Vorliegen eines sogenannten Provokationsfalls auf den ersten Blick indes nicht unbedingt auf. Seinem Wortlaut nach verlangt § 213 StGB in der „Provokationsvariante“, dass der Täter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist. Über das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ kommt man in diesem Fall relativ leicht hinweg, denn offenbar ist die Auseinandersetzung vom späteren Geschädigten initiiert worden, der nicht nur verbal („Geht doch dorthin, wo ihr herkommt!“), sondern auch körperlich (vom-Kopf-Schnipsen der Mütze) übergriffig geworden ist. Dass sich der Angeklagte hiergegen – wenn auch etwas unbeholfen –  verbal zur Wehr setzte („Don‘t touch me, I kill you!“), wird man ihm schwerlich als schuldhaftes Verhalten im Sinne einer unverhältnismäßigen und unverständlichen Reaktion vorwerfen können. Auch besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass es sich bei den anschließenden Faustschlägen ins Gesicht des Angeklagten, in deren Folge seine Oberlippe aufplatzte, um eine Misshandlung im Sinne dieser Vorschrift handelt.

Für den am Gesetzeswortlaut hängenden Rechtsanwender möglicherweise überraschend ist hingegen, dass der Angeklagte trotz einer mehrminütigen Unterbrechung des Geschehens, die er mit der Suche und Herrichtung eines Angriffsmittels (abgerochener Flaschenhals) verbrachte, noch „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ gewesen sein soll bzw. könnte. Bereits am Merkmal „auf der Stelle“ kann man im vorliegenden Fall durchaus Zweifel haben, jedenfalls, wenn man dies in räumlicher Hinsicht versteht. Denn nach den Feststellungen rannte der Angeklagte dem späteren Geschädigten, der sich bereits abgewandt hatte, hinterher, um ihn anzugreifen. Für den 2. Senat ist diese Ortsveränderung jedoch ebenso unschädlich wie die zeitliche Unterbrechung. Hierzu heißt es im Beschluss: „Dieser Geschehensablauf belegt zwar einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen der den Zorn des Angeklagten auslösenden Auseinandersetzung und dem eigentlichen Tatgeschehen. Er unterbricht aber nicht den erforderlichen Zusammenhang, der insoweit bestehen muss, als der durch die Provokation und die Misshandlung hervorgerufene Zorn im Zeitpunkt der Tatbegehung noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 ‒ 1 StR 585/18, NStZ 2019, 471). Davon ist hier auszugehen, wenn der Angeklagte ‒ „weiter wutentbrannt“ und auch nicht von seinem zuvor gefassten Tötungsentschluss abzuhalten ‒ auf den Geschädigten zustürmte, ihm mit der Faust ins Gesicht schlug und schließlich mit dem Flaschenhals auf ihn einstach. Dass dies mehrere Minuten nach dem Beginn der Auseinandersetzung geschehen ist, stellt insoweit keine relevante Zäsur dar.“ 

„Alte Hasen“ werden möglicherweise anmerken, dass eine Unterbrechung von mehreren Minuten selbstverständlich unschädlich ist, hat doch der BGH bereits in den 1980er Jahren (BGH, 11.01.1984, 3 StR 443/83, NStZ 1984, 316) entschieden: „Der für die erste Alternative des § 213 StGB erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zwischen unverschuldeter Reizung zum Zorn und Ausführung der Tat ist durch die wenigen dazwischen liegenden Stunden nicht aufgehoben worden.“

„Auf der Stelle“ kann auch „Stunden später“ sein!

Was bleibt ist die Frage, ob es überhaupt zeitliche und örtliche Grenzen für „auf der Stelle gibt zu Tat hingerissen“ gibt? Wie weit darf der provozierte, gefühlsaufgewallte Täter seinen vormaligen Provokateur verfolgen? Vielleicht hunderte von Kilometern weit, womöglich über Ländergrenzen hinweg? Und wie lange darf diese Verfolgung dauern – Stunden, Tage oder gar Wochen? Stellen wir uns (à la „Tatort“) einen Vater vor, dessen Kind missbraucht und getötet worden ist und der den Täter nach mehrtägiger „Jagd“ quer durch Deutschland tränenüberströmt erschießt. Wäre das noch „auf der Stelle“ in Sinne von § 213 StGB?

Traumberuf Richter?

Vor einiger Zeit habe ich Beiträge über die Einstellungsvoraussetzungen für den Richterdienst und zum Thema Einstiegsgehälter veröffentlicht. Beide sind auf reges Interesse gestoßen. Darüber hinaus interessieren sich Referendarinnen und Referendare – völlig zu Recht – zunehmend auch für Arbeitsbedingungen, Aufstiegsmöglichkeiten und die viel beschworene „work-life-balance“. Traumberuf Richter? Die Antwort hängt davon ab, wovon man bzw. frau träumt!

Traumberuf Richter?

Fakt ist: der Richterberuf verlangt gerade jungen Kolleginnen und Kollegen manches ab – vor allem Geduld und Nervenstärke. Denn die „Probezeit“ dauert nicht etwa wie bei einem Arbeitsverhältnis 6 Monate, sondern mehrere Jahre. Zum „Richter auf Lebenszeit“ kann gemäß § 10 Abs. 1 DRiG ernannt werden, „wer nach Erwerb der Befähigung zum Richteramt mindestens drei Jahre im richterlichen Dienst tätig gewesen ist.“ Auf diese Zeit kann gemäß § 10 Abs. 2 DRiG u.a. eine Tätigkeit als Rechtsanwalt angerechnet werden, wobei die Betonung auf „kann“ liegt.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Arbeitstag als Richter. Es war der 1. Dezember 2008, und zufällig war an diesem Tag eine Versammlung der Proberichter und Proberichterinnen des Landgerichtsbezirks Lüneburg anberaumt. Die damalige Präsidentin, eine sehr resolute Dame, sprach einige einführende Worte. Im Anschluss daran meldete sich ein junger Kollege, dem offensichtlich dieselbe Frage auf der Seele brannte, wie mir. Er fragte, wie es sich denn mit dieser Anrechnungsmöglichkeit verhalte, schließlich sei er mehrere Jahre Rechtsanwalt gewesen. Das Lächeln auf dem Gesicht der Präsidentin verschwand schlagartig, ein energisches Kopfschütteln und der Satz „Sowas machen wir hier nicht!“ folgten. Ich war konsterniert. Glücklicherweise wusste ich damals noch nicht, dass meine Probezeit 4 Jahre dauern würde – natürlich wurde auch bei mir nicht ein einziger Tag meiner fast 5-jährigen Anwaltstätigkeit angerechnet.
Aber 4 Jahre müssen beileibe nicht das Maximum sein. § 12 Abs. 2 DRiG regelt: „Spätestens fünf Jahre nach seiner Ernennung ist der Richter auf Probe zum Richter auf Lebenszeit oder unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Staatsanwalt zu ernennen.“ 3 bis 5 Jahre Probezeit also – wenn das nichts ist!

Richter: Traumberuf mit mehrjähriger Probezeit!

Hinzu kommt: während dieser Probezeit wird der Proberichter bzw. die Proberichterin – jedenfalls in Niedersachsen – immer wieder, mitunter auch kurzfristig, innerhalb des Landgerichtsbezirks versetzt. Und so ein Landgerichtsbezirk ist groß. Zu „meinem“ gehören die Amtsgerichte in Lüneburg, Winsen (Luhe), Dannenberg (Elbe), Soltau und Celle. Die Entfernung zwischen Lüneburg und Celle beträgt gut 90 Kilometer, die Fahrzeit mit dem Auto dementsprechend rund 1,5 Stunden. Wohnt man bzw. frau gar in Hamburg, verlängert sich die Entfernung zum Dienstort Celle auf rund 120 Kilometer. Nein, einen „Firmenwagen“ gibt es selbstverständlich nicht. In Sachen Klimaschutz ist die Justiz schon lange ein Vorbild!

Die erste Station der, von manchen älteren Kollegen spöttisch als „Kinderlandverschickung“ bezeichneten, Proberichterzeit ist häufig eine Zivilkammer beim Landgericht. Es folgen eine Tätigkeit beim Amtsgericht und eine weitere bei der Staatsanwaltschaft – jeweils rund 12 Monate lang, bei der Staatsanwaltschaft gerne auch deutlich länger. Vor allem der „Absturz“ vom selbständig agierenden Amtsrichter zum weisungsgebundenen Staatsanwalt, der sich erst sein „kleines“ und später dann sein „großes Zeichnungsrecht“ erarbeiten muss, sorgt nicht selten für Kopfschmerzen und schlechte Laune. Linderung verspricht die Aussicht auf die irgendwann anstehende „Verplanung“, also die Ernennung zum Richter bzw. zur Richterin auf Lebenszeit. Aber: eine passende Planstelle zu ergattern, ist gar nicht so einfach. Natürlich gibt es Menschen, die sich in Dannenberg, Soltau oder Celle wohlfühlen und sich vorstellen können, dort nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu leben. Erfahrungsgemäß trifft dass aber nicht auf jede(n) zu. Also pendeln viele Kollegen und Kolleginnen auch nach ihrer Ernennung auf Lebenszeit jahrelang täglich von Hamburg nach Lüneburg, von Lüneburg nach Uelzen, von Winsen nach Dannenberg usw.

Zum Thema „Aufstiegsmöglichkeiten“ ist zu sagen, dass man sich auch in der Justiz durchaus „hocharbeiten“ kann. Allerdings ist das deutlich schwieriger und auch weniger lukrativ als in der freien Wirtschaft. Der Flaschenhals für diejenigen, die sich für höhere Aufgaben bewerben wollen, ist die sog. „Erprobung“, eine sechsmonatige Abordnung an das Oberlandesgericht. Über den Zeitpunkt und die Reihenfolge der Erprobung wacht u.a. der Richterrat, was zur Folge hat, dass eine bestimmte Reihenfolge („Wer ist als Nächste(r) dran“?) eingehalten wird. Einfach mal karrieremäßig Gas geben und langsamere Kollegen rechts überholen, kann man also vergessen. Hat man die Erprobung erfolgreich hinter sich gebracht, kann man sich auf Beförderungsstellen bewerben. Indes: finanziell sind die Unterschiede zwischen den Besoldungsgruppen R1 (z.B. als Richter am Amtsgericht oder als Richterin am Landgericht) und R2 (z.B. Vorsitzender Richter am Landgericht oder Richterin am Oberlandesgericht) überschaubar – wir reden in Niedersachsen über eine Differenz von rund 600 € brutto im Monat! Ob sich das lohnt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Wechsel zu einem vom Wohnort weit entfernten Gericht wird angesichts steigender Fahrtkosten jedenfalls rasch zum Nullsummenspiel.

Richter: Traumberuf mit eingeschränkten Aufstiegsmöglichkeiten!

Über die Frage der „work-life-balance“ will ich mich an dieser Stelle nur kurz verhalten, denn das Thema ist sensibel. Richterinnen und Richter haben keine festen wöchentlichen Arbeitszeiten, sondern sind kraft Geschäftsverteilungsplan für bestimmte Verfahren zuständig. Dementsprechend hängt viel von einer halbwegs gerechten „Binnenverteilung“ ab, und noch mehr von der persönlichen Arbeitsweise und Arbeitsgeschwindigkeit. Ich für meinen Teil kann mich mittlerweile nicht mehr beklagen. In meinen ersten Jahren als Proberichter und auch als „frisch verplanter“ Richter hatte ich allerdings teilweise auch Arbeitszeiten im Grenzbereich dessen, was das Arbeitszeitgesetz für Arbeitnehmer zulässt.

Nach alledem fragen Sie sich jetzt vielleicht, warum ich eigentlich Richter geworden und es noch immer gerne bin? Ganz einfach, ich liebe die Aufgabe, gerechte Entscheidungen zu treffen. Und ich bin gerne unabhängig. Lassen sie mich das erklären: gemäß Art. 97 Abs. 1 GG und § 25 DRiG ist der Richter „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“. Das bedeutet, dass ich als Richter, soweit es die Rechtsfindung betrifft, weisungsfrei bin. Welche Fälle ich zu bearbeiten habe, regelt der Geschäftsverteilungsplan. Wie ich sie zu bearbeiten habe, ergibt sich aus dem Gesetz. Einen Vorgesetzten, der mir Arbeit zuweist und mir Vorgaben macht, wie und bis wann ich sie zu erledigen habe, gibt es nicht. Vor allem kann mir niemand vorschreiben, wie ich einen Fall zu entscheiden habe. Das ist völlig anders als bei Arbeitnehmern, wie z.B. angestellten Rechtsanwälten oder Unternehmensjuristen, die dem sog. Weisungsrecht nach § 106 GewO unterliegen und damit „Befehlsempfänger“ sind.

Traumberuf Richter: ich muss nicht nicht verar… lassen!

Zur Unabhängigkeit im weitere Sinne gehört auch, dass ich – anders als etwa ein Rechtsanwalt – nicht auf das Wohlwollen meiner Kunden angewiesen bin. Ein Rechtsanwalt, der seinem Mandanten nicht glaubt und das Gefühl hat, von diesem instrumentalisiert zu werden, hat ein Problem. Wenn er zu intensiv und zu kritisch nachfragt, läuft er Gefahr, das Mandat zu verlieren. Verzichtet er auf derartige Nachfragen, droht das böse Erwachen spätestens in der Beweisaufnahme vor Gericht. Beides habe ich in meiner Zeit als Rechtsanwalt mehr als einmal erlebt. Das war übrigens auch der ausschlaggebende Punkt für mich, den Beruf zu wechseln: ich hatte keine Lust mehr, mich von meinen eigenen Mandanten belügen zu lassen. Natürlich werde ich als Richter auch belogen, aber – und das macht den Unterschied – ich kann dem Lügner zumeist intensiv auf den Zahn fühlen, ohne mir über das Thema „Kundenzufriedenheit“ Gedanken machen zu müssen! 

Der zweite Aspekt, den ich am Richterberuf großartig finde: ich bin nicht nur Berater und Interessenvertreter, sondern Entscheider. Und das macht einen gewaltigen Unterschied! Als Rechtsanwalt kann man allenfalls versuchen, die Entscheidung im Sinne des Mandanten zu beeinflussen – manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg. Mitunter weiß man (oder glaubt man zu wissen), dass eine Entscheidung falsch ist, und kann doch nichts dagegen tun, z.B. weil der Mandant das Kostenrisiko eines Rechtsmittels scheut. Oder weil es kein Rechtsmittel mehr gibt. Als Richter dagegen höre ich mir die Argumente an und mache dann das, was ich nach reiflicher Überlegung für richtig halte. Wer damit nicht einverstanden ist, mag Rechtsmittel einlegen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: mit der Entscheidungsbefugnis geht natürlich ein erhebliches Maß an Verantwortung einher, und es gibt immer wieder Entscheidungen, die alles andere als einfach sind. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, warum ausgerechnet ich zur Entscheidung berufen bin. Dennoch meine ich, dass es für diejenigen, die wirklich an Gerechtigkeit interessiert sind, keine bessere Position gibt, als die des Entscheiders. Wer hingegen behauptet, er sei Rechtsanwalt geworden, um für Gerechtigkeit zu streiten, muss sich fragen lassen, ob die Betonung auf „Gerechtigkeit“ liegt oder vielleicht doch eher auf „streiten“. Oder fehlte es am Ende nur an den Einstellungsvoraussetzungen für den Richterberuf?

Traumberuf Richter: Elternzeit bei vollem Gehalt gibt’s leider nur woanders!

Schließlich will ich auch nicht verhehlen, dass man als Richter bzw. Richterin auf Lebenszeit natürlich ein maximales Maß an Planungssicherheit hat. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist vergleichsweise gut. In finanzieller Hinsicht allerdings droht die Justiz auch diesbezüglich ins Hintertreffen zu geraten, wenn sich das Modell durchsetzt, von dem ich vor einigen Tagen bei SPIEGEL ONLINE gelesen habe. Im Kampf und hochqualifizierte Fachkräfte, so die Meldung, können die Angestellten von Hewlett Packard Enterprise (HPE) ab sofort eine sechsmonatige Elternzeit nehmen – bei voller Weiterbezahlung ihres Gehaltes! Der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wird mit den Worten zitiert: Fachkräfte sind heute viel knapper als im letzten Jahrzehnt. Es dauert inzwischen viel länger, offene Stellen zu besetzen. Und viel häufiger misslingt es.“ Damit meint er natürlich nur die IT-Branche und nicht die Justiz. Oder?