Über die „Rechtsfolgenlösung“ – erfunden vom Großen Senat für Strafsachen des Bundgerichtshofs vor knapp 40 Jahren – hatte ich an anderer Stelle bereits berichtet. Kürzlich war der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 19.08.2020, 5 StR 219/20) einmal mehr veranlasst, sich zu den Voraussetzungen und Grenzen der „Rechtsfolgenlösung“ zu äußern. Und siehe da: offenbar hat man dort für mehrfach vorbestrafte Drogenhändler genauso viel bzw. wenig Verständnis wie für sexuell motivierte Kannibalen!
Ausgangspunkt des im Ergebnis tödlichen Streits war ein misslungenes Drogengeschäft in den Niederlanden. In dessen Folge sah sich der Angeklagte eines Abends drei kräftig gebauten, aber unbewaffneten, Männern gegenüber, die von ihm aufgrund dieses Geschäfts die Zahlung von 20.000,- Euro verlangten. Als der Angeklagte erklärte, diesen Betrag nicht zahlen zu wollen, erwiderte der spätere Geschädigte, der Angeklagte werde sehen, was er davon habe. Dies dürften seine letzten Worte gewesen sein, denn zum weiteren Ablauf heißt es in der Revisionsentscheidung: „Spätestens jetzt entschloss sich der durch die zahlenmäßig überlegene Gruppe eingeschüchterte Angeklagte dazu, die mitgeführte Waffe zu ziehen. Er war in Sorge, man könne gegen ihn körperlich vorgehen, und wollte eine Schlägerei um jeden Preis vermeiden. Ihm war aber klar, dass keiner der drei unmittelbar zu einem konkreten Angriff ansetzte. In dieser Situation zog er die Pistole, machte wenige Schritte um seine überraschten Gegner herum und schoss zweimal gezielt auf Kr., um diesen zu töten. Dabei war ihm klar, dass der Angriff sein Opfer und dessen Begleiter völlig unvorbereitet traf. Ihm kam es aber gerade darauf an, etwaigen Attacken seitens der ihm überlegenen Gruppe mit Hilfe eines durch den plötzlichen Einsatz der Schusswaffe erzielten Überraschungseffekts zuvorzukommen und eine Gegenwehr von vorneherein auszuschalten. Kr. verstarb an den Folgen der beiden Treffer noch vor Ort.“
Das Landgericht Hamburg hatte den Angeklagten wegen heimtückisch begangenen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Zu der zeitigen Freiheitsstrafe war die Kammer in Anwendung der „Rechtsfolgenlösung“ gekommen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der BGH diese Strafe auf. Zur Begründung heißt es u.a., dass auf die „Rechtsfolgenlösung „nicht voreilig ausgewichen werden dürfe“. Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen habe „nichts daran geändert, dass im Regelfall für eine heimtückisch begangene Tötung auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen ist.“ Durch die Entscheidung sei „nicht allgemein ein Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle“ eingeführt worden. Es müssten vielmehr „schuldmindernde Umstände besonderer Art vorliegen, die in ihrer Gewichtung gesetzlichen Milderungsgründen vergleichbar sind“.
Diese Umstände hatte die Kammer daraus herzuleiten versucht, dass der Angeklagte vom Geschädigten und dessen Begleitern erpresst worden sei und sich auch nicht an die Polizei habe wenden können, ohne sich selbst dem Risiko einer (erneuten) Strafverfolgung auszusetzen. Zudem habe sich der Angeklagte zumindest im Grenzbereich einer Affekttat bzw. einer Entschuldigung gem. § 33 StGB befunden, weshalb eine lebenslange Freiheitsstrafe, wie sie § 211 Abs. 1 StGB vorsieht, unverhältnismäßig erscheine.
Den 5. Senat überzeugte dies nicht. Bei Anwendung der „Rechtsfolgenlösung“ habe das Landgericht „teilweise den falschen Maßstab angelegt und teilweise wichtige Umstände der Tat außer Acht gelassen“. Hierzu heißt es: „Ganz entscheidend gegen eine derart strafmildernde Berücksichtigung der konkreten Drucksituation spricht das strafbare Vorverhalten des Angeklagten, das letztlich dem Konflikt zugrunde lag und vom Landgericht bei der Abwägung verschiedener Gesichtspunkte nicht ausreichend in seiner Bedeutung erfasst worden ist. Obwohl der Angeklagte unter zweifacher einschlägiger Bewährung stand, hat er eine strafbare Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (vgl. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 27 StGB) begangen, indem er Ku. in die Niederlande begleitete und ihm einen Drogenlieferanten für den Erwerb angesichts des Kaufpreises ersichtlich über dem Grenzwert einer nicht geringen Menge liegender und zum Weiterverkauf bestimmter Drogen für etwa 12.000 Euro vermittelte. Da Konflikte um die Qualität des Rauschgifts oder etwaige Rückzahlungen für das kriminelle Drogenmilieu nicht untypisch sind, lag die Ursache für die nachfolgende Entwicklung zunächst allein in einer Straftat des Angeklagten. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte sei deshalb an der weiteren Entwicklung „nicht gänzlich schuldlos“ gewesen, verkennt das Gewicht seines vorwerfbaren Vorverhaltens. […] Entgegen der Auffassung des Landgerichts war es dem Angeklagten in dieser Situation auch ohne weiteres zuzumuten, sich staatlicher Hilfe gegen den Erpressungsversuch zu versichern, auch wenn er sich damit womöglich dem Risiko erneuter Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Denn dies hatte er letztlich selbst verschuldet. Ein unzulässiger Zwang zur Selbstbelastung geht mit dieser Wertung nicht einher. Stattdessen hat sich der Angeklagte – trotz einschlägig negativer Vorerfahrungen mit Kr. – nicht nur bewusst selbst in Gefahr begeben, indem er sich auf ein Treffen mit diesem einließ, sondern durch die (nach § 52 WaffG strafbare) gezielte Mitnahme einer geladenen Schusswaffe zu dieser potentiell gefährlichen Situation auch deren späteren Einsatz vorbereitet. Dass das heimtückische Handeln des Angeklagten – wie das Landgericht meint – angesichts der Überzahl seiner Gegner in gewisser Weise „unausweichlich“ gewesen wäre, erschließt sich angesichts dieses Vorverhaltens nicht ohne weiteres.“
Außerdem habe das Landgericht außer Acht gelassen, dass der bereits mehrfach wegen Gewaltverbrechen vorbestrafte Angeklagte mit – nach neuerer Rechtsprechung strafschärfender – Tötungsabsicht gehandelt habe (vgl. dazu BGH, 10.01.2018, 2 StR 150/15) und dass die Schüsse in der belebten Innenstadt geeignet gewesen seien, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit ganz besonders gravierend zu stören.
Für die Praxis folgt daraus, dass es für die „Rechtsfolgenlösung“ nicht allein auf das Vorliegen „schuldmindernder Umstände besonderer Art“ ankommt, sondern auch auf das Nichtvorliegen schulderhöhender Umstände, von denen der BGH hier eine ganze Reihe ausgemacht hat. Die Anwendung der „Rechtsfolgenlösung“ auf Morde in kriminellen Kreisen dürfte daher regelmäßig nicht in Betracht kommen.