Nicht selten wird in der Hauptverhandlung – insbesondere von Seiten der Verteidigung – intensiv und mit großem Einsatz zu ergründen versucht, ob und in welchem Ausmaß der Angeklagte bei Begehung der Tat alkoholisiert war. Ziel dieser Bemühungen ist regelmäßig die Feststellung einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB, weil dann die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden kann (sog. Strafrahmenverschiebung). Auf diese Weise würde sich bei einem begangenen Mord anstelle einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe zwischen 3 und 15 Jahren ergeben. Dass Angeklagte und Verteidiger diese Chance zu nutzen versuchen, ist mehr als nachvollziehbar. Indes: die Hürden sind hoch! Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt vielfach: hohe Strafe trotz Alkoholisierung!
Zunächst muss eine Alkoholisierung festgestellt werden, die von ihrem Ausmaß her überhaupt zu einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit führt. Dazu hat der 1. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH, 21.01.2004, 1 StR 346/03, NJW 2004, 1810) entschieden: „Ob die Steuerungsfähigkeit […] bei Begehung der Tat „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese Anforderungen sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist.“
Fangen wir hinten an: Klar ist, dass die Früchte – aus Sicht des Angeklagten – umso höher hängen, je hochwertiger das durch die Tat verletzte Rechtsgut ist. In Schwurgerichtsverfahren, in denen es um Straftaten gegen das Leben geht, hängen sie demnach besonders hoch. Oder wie es der 5. Senat (BGH, 07.11.2013,5 StR 377/13, NStZ 2014, 80) etwas vornehmer formuliert: „Bei Taten höchster Schwere ist bei der Zubilligung der Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit wegen der hohen Hemmschwelle besondere Zurückhaltung geboten“.
Klar ist ferner, dass man als Angeklagter nicht bereits deshalb auf der sicheren Seite ist, weil der psychiatrische Sachverständige eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit bejaht hat oder zumindest nicht sicher ausschließen mochte. Denn der Sachverständige hat – wie der Name bereits sagt – lediglich die Aufgabe, medizinischen Sachverstand zu vermitteln. Die Entscheidung, ob die Verminderung der Schuldfähigkeit „erheblich“ ist, trifft das Gericht in eigener Verantwortung.
Die Blutalkoholkonzentration (BAK) ist dabei von untergeordneter Bedeutung, denn anders als bei den Straßenverkehrsdelikten gibt es nach der aktuellen Rechtsprechung bei sonstigen Straftaten keine festen „Promillegrenzen“ mehr, bei deren Erreichen bzw. Überschreiten stets von einer erheblich verminderten (oder gar aufgehobenen) Schuldfähigkeit auszugehen wäre. Stattdessen kommt es immer auf die vielbeschworenen Umstände des Einzelfalls an oder – mit den Worten des 1. Senats des BGH ausgedrückt – auf „eine Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild des Täters vor, während und nach der Tat beziehen“. Die BAK ist lediglich ein in diese Gesamtschau einzubeziehendes Indiz, dessen Gewicht umso geringer ist, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostische Kriterien zur Verfügung stehen.
So können die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung auch bei einer Blutalkoholkonzentration schon von unter 2 ‰ begründen, umgekehrt eine solche selbst bei errechneten Maximalwerten von über 3 ‰ auch ausschließen (BGH, 29.05.2012, 1 StR 59/12, NJW 2012, 2672).
Bis hierher war der Weg für den Angeklagten und seinen Verteidiger schon nicht einfach, aber es kommt noch schlimmer. Mit der Feststellung, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat alkoholbedingt erheblich vermindert war, ist noch nicht gewonnen. Denn die Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB steht im Ermessen des Gerichts. D.h. das Gericht kann eine Strafrahmenverschiebung vornehmen oder versagen. Dazu hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs (BGH, 24.07.2017, GSSt 3/17, zitiert nach juris)ausgeführt: „Im Rahmen der bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gebotenen Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände kann eine selbst verschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafrahmenmilderung tragen, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls nicht festgestellt ist.“
Anders ausgedrückt: wenn sich der Täter betrunken hat, obwohl er nicht hätte trinken müssen, wird der verminderte Schuldgehalt kompensiert, denn (BGH a.a.O.)„das selbstverantwortliche Sich-Betrinken des Täters vor der Tat stellt für sich allein einen schulderhöhenden Umstand dar, der im Rahmen der Ermessensausübung nach § 21 StGB regelmäßig Berücksichtigung finden darf, ohne dass dies von einzelfallbezogenen Feststellungen dazu abhängig ist, ob sich auf Grund der jeweiligen persönlichen oder situativen Verhältnisse das Risiko der Begehung von Straftaten infolge der Alkoholisierung (für den Täter) vorhersehbar signifikant erhöht hatte.“
Im Ergebnis bedeutet das, dass regelmäßig nur noch alkoholabhängigen Angeklagten eine Strafrahmenverschiebung gewährt wird, weil ihnen die Alkoholisierung infolge ihrer Abhängigkeitserkrankung nicht vorgeworfen werden kann. Dem „Normaltrinker“ hingegen nützt seine Alkoholisierung in den allermeisten Fällen im Hinblick auf eine mildere Strafe nichts!
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