Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) – Teil 1

Zuletzt hatte ich darüber berichtet, ob und wie sich die Alkoholisierung des Täters auf die Strafhöhe auswirkt. Nun soll es um die zweite mögliche Konsequenz einer Rauschtat gehen, nämlich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB). In Teil 1 sollen zunächst die Voraussetzungen der Anordnung dieser Maßregel dargestellt werden. Teil 2 wird sich in Kürze mit den Chancen und Risiken beschäftigen, die § 64 StGB dem Angeklagten bietet.

„… und wenn es dunkel wird, greifen sie zum Glas!“ (Herbert Grönemeyer)

In § 64 S. 1 StGB heißt es: „Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Wenn die Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) vorliegen, muss das Gericht sie anordnen. Zwar steht in § 64 S. 1 StGB „soll“, doch der Bundesgerichtshof meint, es handele sich nicht um eine „Ermessensvorschrift im engeren Sinne“ (BGH, 13.06.2018, 1 StR 132/18, StV 209, 269). Im Folgenden sind die Voraussetzungen näher dargestellt:

Die erste Voraussetzung für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist ein „Hang“. Ein Hang ist weniger als eine Sucht bzw. eine Abhängigkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, 11.04.2019, 4 StR 69/19) gilt insoweit: „Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint . Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienenden Beschaffungstaten . Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus . Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist.“ Auch Täter, die kein „tägliches Konsummuster“ zeigen, können einen Hang haben, denn „Intervalle der Abstinenz stehen der Annahme eines Hanges nicht entgegen“ (BGH, 05.09.2019, 3 StR 181/19). Es kann genügen, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt.“ Man sieht: ein Hang im Sinne von § 64 StGB ist relativ schnell erreicht!

Zweite Voraussetzung für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) ist eine im Rausch begangene oder auf den Hang zurückgehende Tat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Täter im Zustand erheblich verminderter oder gar aufgehobener Steuerungsfähigkeit gehandelt hat. Für einen „symptomatischen Zusammenhang“ reicht es aus, „wenn der Hang neben anderen Ursachen zur Tatbegehung beigetragen hat“ (BGH, 06.02.2018, 3 StR 616/17, StV 2019, 263).

Dritte Voraussetzung ist die Wiederholungsgefahr, also die Gefahr weiterer erheblicher hangbedingter Straftaten. Für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) ist die „begründete“ Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer erheblicher Straftaten erforderlich; es muss mit einer Wiederholung „zu rechnen“, dies muss „konkret (zu) besorgen“ sein“. Die bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht.“ (BGH, 22.1.2018, 4 StR 356/18, NStZ-RR 2019, 75). „Erheblich“ im Sinne von § 64 StGB können grundsätzlich Straftaten aller Art sein, nicht jedoch reine Bagatelltaten (z.B. Beleidigungen ohne Drohung oder Tätlichkeiten, geringfügige Diebstähle, Erwerb kleiner Rauschgiftmengen zum Eigenkonsum). Eine Allgemeingefährlichkeit wird bei § 64 StGB – anders als bei § 63 StGB – nicht vorausgesetzt (BGH, 14.04.2010, 2 StR 112/10, NStZ-RR 2010, 238).

„Kiffen macht gleichgültig? Mir doch egal!“

Die vierte Voraussetzung für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) findet sich in § 64 S. 2 StGB. Dort heißt es: „Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.“ Die Beurteilung dieser „Erfolgsaussicht“ erfolgt auf Grundlage einer Einzelfallprognose, bei der das Gericht durch einen psychiatrischen Sachverständigen „sachkundig“ gemacht wird. Prognosegünstige Faktoren (z.B. bekundete Therapiebereitschaft, relativ gute Deutschkenntnisse) sind gegen prognoseungünstige Faktoren (z.B. langjährige Drogenabhängigkeit, wiederholte Inhaftierung, mehrfache erfolglose Langzeittherapien, fehlender sozialer Empfangsraum und berufliche Perspektivlosigkeit) abzuwägen. Auch insoweit gilt: die Entscheidung obliegt nicht dem Sachverständigen, sondern dem Gericht!

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