Der Countdown für die Bild-Ton-Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung läuft. Ab dem 01.01.2020 ist gemäß § 136 Abs. 4 Nr. 1 StPO die richterliche Vernehmung des Beschuldigten auf Video aufzuzeichnen, wenn dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen. Über den Verweis in § 163a StPO gilt auch für Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft und die Polizei.
Der Gesetzgeber selbst spricht von einer „behutsamen Anpassung der Dokumentationsmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren an den aktuellen Stand der Technik“. Ich würde sagen: „ein seit Jahrzehnten überfälliger Schritt“ trifft es besser! Wobei man im Hinblick die erstrebte Verbesserung der Wahrheitsfindung keine überzogenen Erwartungen haben sollte: schweigende oder lügende Beschuldigte wird es auch weiterhin geben. Dagegen ist auch nichts zu erinnern, denn der Beschuldigte darf das! Gegen schlechte Vernehmungen (fehlende oder falsche Belehrungen, suggestive, unpräzise oder unvollständige Fragen etc.) hilft auch keine Videoaufzeichnung. Allenfalls ist zu hoffen, dass sich die Vernehmungspersonen in Zukunft durch die Erwartung, dass ihr Tun in Gänze aufgezeichnet und in öffentlicher Hauptverhandlung vorgeführt wird, disziplinieren lassen. Indes: aus einem Dackel wird kein Windhund, nur weil man ihn beim Laufen filmt!
Schauen wir uns die Rechtslage ab dem 01.01.2020 an. Der „neue“ § 136 Abs. 1 StPO wird wie folgt lauten:
Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn
1. dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen, oder
2. die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten, insbesondere von
a) Personen unter 18 Jahren oder
b) Personen, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.“
Über die gesetzgeberischen Absichten hinter dieser Regelung gibt die BT-Drucksache 18/11277 Auskunft. Dort heißt es: „Die vorgeschlagene Erweiterung der audiovisuellen Dokumentationsmöglichkeiten von Vernehmungen soll in erster Linie der Verbesserung der Wahrheitsfindung dienen. Eine Videoaufzeichnung gibt den Verlauf einer Vernehmung authentisch wieder und ist dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll daher überlegen. Die in kommunikativen Prozessen naturgemäß auftretenden Wahrnehmungsmängel können auf einer Videoaufnahme leichter aufgespürt und nachvollzogen werden als in einem schriftlichen Protokoll, dessen Inhalt durch die Wahrnehmung des mitschreibenden Vernehmungsbeamten gefiltert und damit grundsätzlich fehleranfällig ist. Für diesen stellt die Mitschrift eine zusätzliche Belastung dar; er kann sich nunmehr bei längeren und fortgesetzten Vernehmungen durch Ansehen der Aufzeichnung den Verlauf der vorangegangenen Vernehmung und den Inhalt der Aussage des Beschuldigten besser vor Augen führen als anhand des schriftlichen Protokolls. Zunächst weniger wichtige Aspekte der Aussage, die keinen Eingang in das Inhaltsprotokoll gefunden haben, im weiteren Verlauf der Ermittlungen infolge neuer Erkenntnisse jedoch Bedeutung erlangen, sind festgehalten und reproduzierbar. Dies gilt auch für körpersprachliche Signale, deren Interpretation vielleicht erst im Laufe des Ermittlungsverfahrens an Bedeutung gewinnt. Damit leistet die audiovisuelle Aufzeichnung im Ermittlungsverfahren einen erheblichen Beitrag für die Verbesserung der Sachverhaltsaufklärung.
Auch für eine etwaige Hauptverhandlung bietet die audiovisuelle Vernehmung Vorteile, indem zeitraubenden Streitigkeiten darüber, ob, wann und wie etwas gesagt wurde, von vorneherein der Boden entzogen ist. Insoweit besteht die Möglichkeit, dem Beschuldigtenseine eigene Aussage anhand einer Videoaufzeichnung anstatt wie bisher anhand des – notwendigerweise unvollständigen und gefilterten – Inhaltsprotokolls vorzuhalten. Dies kann im Einzelfall die Ladung der früheren Vernehmungspersonen entbehrlich machen und somit das Verfahren beschleunigen und insbesondere die Vernehmungspersonen entlasten. Daneben dient die Dokumentation dem Schutz des Beschuldigten vor unsachgemäßen und – im Sinne des § 136aStPO – rechtswidrigen Vernehmungsmethoden. Eine korrekte Vorgehensweise bei der Einhaltung von Formalitäten ist nachträglich überprüfbar, etwa bei der Frage, ob der Beschuldigte belehrt worden ist. Der erleichterte Nachweis der Vernehmungsförmlichkeiten stärkt insoweit allerdings nicht nur die Rechte des zu Vernehmenden, sondern schützt auch die Vernehmungspersonen vor falschen Anschuldigungen. Die Vorschriften entfalten daher eine Schutzwirkung in jede Richtung und schützen die redlichen Vernehmungspersonen ebenso wie die nichtsachgerecht vernommenen Beschuldigten.“
Ich bin sehr gespannt, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter mit der neuen Regelung umgehen werden. Und auch darauf, wie oft und mit welcher Begründung (äußere Umstände bzw. besondere Dringlichkeit, s.o.) gegebenenfalls von einer Aufzeichnung abgesehen wird. Ein Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung soll nach der Gesetzesbegründung jedenfalls „grundsätzlich nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage im weiteren Verfahren“ führen, „auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung vorgelegen haben“. Ob dies auch für den Fall gilt, dass aus Bequemlichkeit oder Ignoranz bewusst gegen die Verpflichtung zur Aufzeichnung verstoßen wird, bleibt vorläufig offen.