§ 217 StGB ist verfassungswidrig!

In den vergangenen Monaten ist das Thema Sterbehilfe/Suizidbegleitung juristisch in Bewegung gekommen. Nachdem zunächst der Bundesgerichtshof im Sommer vergangenen Jahres entschieden hatte, dass die Unterstützung und Begleitung einer frei- und eigenverantwortlichen Selbsttötung nach der bis zum 09.12.2015 geltenden Rechtslage nicht strafbar war, hat das Bundesverfassungsgericht am 26.02.2020 nachgelegt. Der seit dem 10.12.2015 geltende § 217 StGB ist verfassungswidrig, das Verbot der „Geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ ist nichtig!

Legitimes Ziel, falsche Herangehensweise: § 217 StGB ist verfassungswidrig!

Die Entscheidung des Bundverfassungsgerichts war seit langem mit Spannung erwartet worden, die Verfahren waren seit 2015 bzw. 2016 anhängig. Bereits im April 2019 hatten zwei mündliche Verhandlungstermine stattgefunden. Dass die Entscheidung erst jetzt gefallen ist, hängt damit zusammen, dass sich der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts sehr ausführlich mit der Materie beschäftigt hat. Wer die Entscheidung liest, findet die rechtshistorische Entwicklung vom römischen Recht über das Reichsstrafgesetzbuch von 1870, die Große Strafrechtskommission der 1950er Jahre, den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1970 sowie weitere Gesetzinitiativen aus den letzten Jahrzehnten. Dazu gibt es eine Darstellung der Rechtslage in anderen Staaten (Schweiz, Niederlanden, Belgien, Kanada und Oregon). Zahlreiche Stellungnahmen, u.a. des Deutschen Bundestages und der Bayerischen Landesregierung, des Kommissariats der deutschen Bischöfe, der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bundesärztekammer, des Marburger Bundes, des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe – Bundesverband e.V., der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., der Deutschen PalliativStiftung, der Deutsche Stiftung Patientenschutz, des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes e.V. sowie der Humanistischen Union, des Humanistischen Verbandes Deutschland – Bundesverband e.V. und des Deutschen Anwaltsvereins e.V. wurden eingeholt und mehr als ein Dutzend „sachkundige Dritte“ vom Senat angehört, darunter Psychiater, Psychologen, Pharmakologen, Palliativmediziner, Pflegedirektoren und Leiter von Pflegeinrichtungen.

Gutes Recht braucht seine Zeit – in diesem Fall mehrere Jahre!

Die unter Berücksichtigung all dessen getroffene Entscheidung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folge ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches sowohl das Recht auf Selbsttötung umfasse als auch die Freiheit, sich bei der Selbsttötung von Dritten helfen zu lassen. Dieses Recht sei nicht auf bestimmte Situationen oder Zustände beschränkt, wie etwa schwere oder unheilbare Krankheitszustände. Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gem. § 217 StGB habe zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen „faktisch weitgehend entleert“ sei. Die daraus für sterbewillige Menschen folgende Belastung sei unangemessen, weil sie eine „vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung“ bedeute. Durch das in § 217 StGB geregelte Verbot sei der Entschluss zur Selbsttötung einem „unwiderleglichen Generalverdacht mangelnder Freiheit und Reflexion“ unterstellt. Dadurch werde „die verfassungsprägende Grundvorstellung des Menschen als eines in Freiheit zu Selbstbestimmung und Selbstentfaltung fähigen Wesens in ihr Gegenteil verkehrt“ – viel deutlicher kann man dem Gesetzgeber nicht die Leviten lesen.

Bedeutet das jetzt, dass Deutschland zu einem Paradies für Sterbewillige, gar die schwächelnde Autoindustrie durch eine boomende Sterbebegleitungsindustrie ersetzt wird? Höchstwahrscheinlich nicht, denn das der Gesetzgeber infolge der Entscheidung untätig bleibt, ist nicht zu erwarten. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung legitimen Gemeinwohlzwecken diene und ist auch geeignet sei, diese zu erreichen. Mit anderen Worten: auch das Bundesverfassungsgericht sieht die mit der Möglichkeit einer professionellen Suizidbegleitung verbundenen Probleme. Psychische Erkrankungen, unrealistische Vorstellungen und Ängste infolge unzureichender Aufklärung sowie die Gefahr sozialen Drucks sind nur einige von ihnen. Daten aus Oregon hätten ergeben, dass von den Personen, die im Jahr 2017 ärztlich assistierten Suizid begingen, 55,2 % als Grund ihrer Entscheidung die Sorge vor den Belastungen für ihre Familie, Freunde und Pfleger nannten – wahrlich ein Grund zur Sorge!

Depression, Angst, sozialer Druck oder autonome Entscheidung?

Wohl deshalb hat der Senat folgende „Segelanweisung“ formuliert: „Der Gesetzgeber darf […] einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen. Der Einzelne darf – auch jenseits konkreter Einflussnahmen durch Dritte – nicht der Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausgesetzt sein. Zwar kann Willensfreiheit nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst. Da der Schutz des Lebens dem Einzelnen von der Verfassung als nicht rechtfertigungsbedürftiger Selbstzweck zugesagt ist und er auf der unbedingten Anerkennung der Person in ihrer bloßen Existenz beruht, darf und muss der Gesetzgeber aber gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten von Seiten Dritter rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Entsprechend kann er Vorkehrungen treffen, dass Personen nicht in schweren Lebenslagen in die Situation gebracht werden, sich mit solchen Angeboten auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen.“

Video-Verhöre kaum möglich?

Vor ein paar Tagen fiel mir zufällig die „Schweriner Volkszeitung“ vom 23.01.2020 in die Hände. Auf der ersten Seite prangte die Überschrift „Video-Verhöre kaum möglich“, versehen mit der Unterzeile „Seit 1. Januar neue Vorschriften bei Vernehmungen von Mordverdächtigen / Polizei sieht sich ungenügend gerüstet“. So etwas erregt naturgemäß meine Aufmerksamkeit. Ist – zumindest in Mecklenburg-Vorpommern – die Umsetzung der neu geregelten Bild-Ton-Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung in Gefahr?

Video-Verhöre kaum möglich?

Es existieren, so der Artikel, landesweit derzeit 5 Videovernehmungsräume bei der Polizei, 14 weitere seien „im Aufbau“. Das entspricht einer Fertigstellungsquote von guten 26%. Bei einem Gesetz, das am 23.08.2017 veröffentlicht wurde, ist das wahrlich kein Ruhmesblatt für das Innenministerium. Das nordöstlichste aller deutschen Justizministerien scheint, wenn man dem Artikel glauben darf, besser aufgestellt zu sein: alle vier Staatsanwaltschaften sollen zumindest über „funktionierende Übergangslösungen“ verfügen.

Die Regelung, in Kraft getreten am 1.1.2020, wurde am 23.8.2017 veröffentlicht!

Über die Gründe für die derzeitige Situation lässt sich der „Schweriner Volkszeitung“ nichts entnehmen. Möglicherweise haben die Verantwortlichen ja die Gesetzesbegründung gelesen und daraus den Schluss gezogen, dass man sich nicht sonderlich beeilen müsse. Denn ausweislich des Regierungsentwurfs (dort S. 27 unten) stellt § 136 Absatz 4 StPO nur eine „Ordnungsvorschrift“ dar. Für mich ehrlicherweise überraschend: Verstöße gegen diese Norm sollen nach dem gesetzgeberischen Willen weitgehend folgenlos bleiben! Im Gesetzentwurf heißt es dazu: „Bei Vorhandensein einer Videoaufzeichnung kann der Nachweis der Einhaltung der Vernehmungsformalitäten grundsätzlich leichter erbracht werden. Ist keine Videoaufzeichnung vorhanden, gelten die hergebrachten Grundsätze für die Feststellung der Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten im Freibeweisverfahren; der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt grundsätzlich nicht (statt aller Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Auflage 2015, § 136 Rn. 23; § 136a Rn. 32). Aus dem Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann folglich nicht der Schluss gezogen werden, dass die Vernehmungsförmlichkeiten nicht eingehalten wurden oder ihre Einhaltung nicht mehr feststellbar sei. Auch im Übrigen führt das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung grundsätzlich nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage im weiteren Verfahren, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung vorgelegen haben.“

Nur eine „Ordnungsvorschrift“ – der neue § 136 Abs. 4 StPO!

Ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt abzuwarten. Als Verteidiger wird man trotz der Gesetzesbegründung kaum umhinkommen, bei Verstößen gegen § 136 Abs. 4 StPO in geeigneten Fällen Verwertungswiderspruch zu erheben. Ob’s was nützt ist freilich ungewiss…

Der besonders schwere Fall des Totschlags

Der besonders schwere Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB) ist ein Exot und kommt in der Praxis ungefähr so häufig vor wie eine Sonnenfinsternis. Dennoch gibt es ihn, wie eine aktuelle Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.01.2020, 5 StR 407/19) beweist. Also schauen wir uns dieses seltene Phänomen einmal aus der Nähe an.

Der besonders schwere Fall des Totschlags ist ein Exot!

Das Besondere am besonders schweren Fall des Totschlags ist seine Rechtsfolge – die lebenslange Freiheitsstrafe. Damit wird ein Totschläger – ausnahmsweise – wie ein Mörder bestraft. Nach der Rechtsprechung (BGH, 07.08.2018, 3 StR 47/18) sind die Voraussetzungen entsprechend hoch: „Ein besonders schwerer Fall des Totschlags setzt voraus, dass das in der Tat zum Ausdruck kommende Verschulden des Täters außergewöhnlich groß ist. Es muss ebenso schwer wiegen wie das eines Mörders. Dafür genügt nicht schon die bloße Nähe der die Tat oder den Täter kennzeichnenden Umstände zu gesetzlichen Mordmerkmalen. Es müssen vielmehr schulderhöhende Gesichtspunkte hinzukommen, die besonders gewichtig sind.“

In dem jüngst entschiedenen Fall sah der 5. Strafsenat diese Voraussetzungen als erfüllt an. In der Pressemitteilung des BGH heißt es zum tatsächlichen Geschehen: „Nach den Urteilsfeststellungen töteten die stark alkoholisierten und daher in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Angeklagten den als „Squeezer“-Sänger bekannten Musiker und Moderator Jim R. im Januar 2016 in einem Berliner Hostel mit brutalen Schlägen und Tritten. Tatmotiv waren Wut und Empörung der Angeklagten darüber, dass ihnen ihr Zimmergenosse sexuelle Avancen gemacht hatte.“

Bemerkenswert ist, dass die Angeklagten mit zeitigen Freiheitsstrafen von 13 bzw. 14 Jahren „davongekommen“ sind. Damit wir uns nicht falsch verstehen: das ist beileibe kein „Pappenstiel“ , das sind ganz erhebliche Strafen. Aber dem drohenden „Lebenslang“ sind die Angeklagten entgangen, und das ist alles andere als selbstverständlich. Die (nur) alkoholbedingte erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB führt nämlich nicht mehr automatisch zu der – hier gewährten – Strafrahmenverschiebung. Näheres hierzu erfahren wir möglicherweise, wenn die Entscheidung in Gänze veröffentlicht ist.

Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Heute will ich meine geneigte Leserschaft zu einem Ausflug ins Strafvollstreckungsrecht einladen. Es geht um die Frage, ob die für eine Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB erforderliche günstige Sozialprognose bei Verurteilten, bei denen eine Suchtproblematik (Alkohol und/oder Betäubungsmittel) besteht, vom Vorhandensein eines Therapieplatzes abhängt. Oder verkürzt gefragt: Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Das Gesetz beantwortet diese Frage nicht ausdrücklich. In § 57 Abs. 1 Nummer 3 StGB ist nur geregelt, dass eine Aussetzung des Strafrestes erfolgt, wenn dies „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. Die Weisung, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, ist in § 56c Abs. 3 StGB ausdrücklich vorgesehen mit der Maßgabe, dass der Verurteilte hierzu seine Einwilligung erteilen muss.

Mehrfach wöchentlich lese ich Stellungnahmen von Justizvollzugsbediensteten, in denen es heißt, eine bedingte Entlassung des Verurteilten werde mit der Maßgabe befürwortet, dass sich dieser direkt in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung begebe. Nicht selten – und einfach zu entscheiden – sind Konstellationen, in denen der Verurteilte entweder keine Kostenzusage oder kein Therapieplatz vorzuweisen hat. In diesen Fällen wird – von wenigen Ausnahmen, wie der Anbindung an ein Substitutionsprogramm, abgesehen – eine Reststrafenaussetzung mangels günstiger Sozialprognose ohnehin nicht in Betracht kommen.

Schwieriger wird es, wenn sich der Verurteilte mithilfe des Suchberaters in der JVA mit Erfolg um Kostenzusage und Therapieplatz bemüht hat. Wobei schwierig vor allem in menschlicher Hinsicht gilt, kommen doch Verurteilte in dieser Situation sehr häufig mit der Erwartung zur Anhörung, dass die Reststrafenaussetzung angesichts der von Ihnen geleisteten „Vorarbeit“ nur noch eine Formsache sei. Wenn man ihm dann eröffnet, dass dem keineswegs so ist, blickt man nicht selten in ein betretenes Gesicht. Weist man dann noch darauf hin, dass der Verurteilte eine stationäre Therapie doch auch im Anschluss an die Haftzeit absolvieren könne, schlägt einem oftmals blanken Unverständnis entgegen. Sätze wie: „Brauche ich nicht, ich bin doch schon seit Monaten clean!“ oder „Nach meiner Entlassung aus der Haft habe ich wirklich besseres zu tun!“ sind die typischen Reaktionen, die den tatsächlichen Stellenwert der – angeblich unbedingt gewollten – Therapie allzu deutlich erkennen lassen.

Kein Alkohol ist auch keine Lösung! Ich hab‘ es immer wieder versucht…
(Die Toten Hosen)

Und welchen juristischen Stellenwert hat das Vorhandensein eines Therapieplatzes bei der Beurteilung der Sozialprognose? In einer aktuellen Entscheidung vom 20.12.2019 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle (Download am Ende des Absatzes) ausgeführt: „Die dem Verurteilten erteilte Kostenzusage für die angestrebte Suchttherapie sowie der bereitstehende Therapieplatz sind hinsichtlich der Frage einer Reststrafenaussetzung für sich genommen positiv zu würdigende Umstände. Dies reicht jedoch nicht aus. Denn die Teilnahme an einer stationären Suchttherapie bildet so lange keine tragfähige Grundlage für die nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB für eine Reststrafenaussetzung erforderliche günstige Legalprognose, wie der Erfolg der Therapie ungewiss ist. Um die notwendige Gewissheit zu erlangen, muss die Therapie in der Regel abgeschlossen oder soweit gediehen sein, dass der Erfolg unmittelbar bevorsteht. Im Fall einer stationären Therapie kann es genügen, dass der Verurteilte sie bereits angetreten hat. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Erteilung einer Therapieweisung im konkreten Fall eine tragfähige Grundlage für eine günstige Entlassungsprognose bietet. Dies ist nur gegeben, wenn ein dauerhafter Erfolg der angestrebten Therapie wahrscheinlich ist.“

Damit liegt das Oberlandesgericht Celle auf eine Linie mit dem Kammergericht Berlin, das in seinem Beschluss vom 12.07.2018 (5 Ws 99/18, zitiert nach juris) außerdem verlangt, dass die Therapie die Ursachen der Strafbarkeit insgesamt beseitigt. Ist die Suchtproblematik hingegen nur eine Ursache unter vielen, würde selbst eine erfolgreiche Behandlung nicht ausreichen, um die Erwartung künftiger Straffreiheit zu rechtfertigen.

Folgt man der vorgenannten Entscheidungen, so sind Reststrafenaussetzungen mit Therapieweisung die absolute Ausnahme. Dass dies für Angeklagte und Verteidiger keine frohe Botschaft ist, liegt auf der Hand. Andererseits ist die Strafvollstreckungskammer auch nicht dazu berufen, die frohe Botschaft zu verkünden, sondern dazu, die Sozialprognose eines Verurteilten einzuschätzen. Und leider zeigt die Erfahrung, dass mit dem Haftdruck nicht selten auch die Krankheits- und Behandlungseinsicht nachlässt. Mit den Worten des KG Berlin ausgedrückt: „Gewährleistet wäre bei dem vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Procedere allein dessen Ankunft in der Therapieeinrichtung. Dagegen wären sein dortiger Verbleib und seine aktive Mitwirkung an der Therapie ungewiss.“

Überdies sind viele stationäre Therapieangebote schon für sich genommen zweifelhaft bzw. hinsichtlich ihrer Eignung kaum zu überprüfen. Belastbare Informationen über Ausbildung und Qualifikation von Therapeuten, konkrete Therapieinhalte und die Frequenz von Behandlungsmaßnahmen sind auch für die Strafvollstreckungskammer kaum zu erlangen, denn schließlich handelt es sich typischerweise um privatrechtlich organisierte Träger, die Informationen nach Belieben herausgeben oder verweigern.

Zu schön um wahr zu sein – Suchtfrei in drei Monaten!

Nicht zuletzt sind die meisten stationären Therapieangebote, die von der gesetzlichen Rentenversicherung bezahlt werden, in zeitlicher Hinsicht eng begrenzt, in der Regel auf 3-4 Monate. Setzt man dies ins Verhältnis zur Dauer einer Entwöhnungsbehandlung, die im Rahmen des Maßregelvollzuges nach § 64 StGB durchgeführt wird und die einschließlich der Rehabilitationsphase (Erprobung) typischerweise mindestens zwei Jahre dauert, so wird schnell deutlich, dass gerade bei langjährig abhängigen Verurteilten so gut wie keine Aussicht auf einen dauerhaften Erfolg einer auf wenige Monate beschränkten „Kurztherapie“ besteht. Dies gilt erst recht, wenn neben der Suchterkrankung noch eine dissoziale Persönlichkeit in Rede steht, welche die therapeutische Arbeit erschwert und verlangsamt.

„Don‘t touch me, I kill you!“ – der minder schwere Fall des Totschlags

Vor einigen Monaten hatte ich bereits über eine Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in einem sogenannten „Provokationsfall“ (BGH, 16.01.2019, 4 StR 580/18, NStZ 2019, 408) berichtet. Diese Entscheidung war vor allem im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ instruktiv. Kürzlich hatte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nun ebenfalls einen „Provokationsfall“ zu beurteilen (BGH, 19.11.2019, 2 StR 378/19). In diesem Fall ging es schwerpunktmäßig um das Tatbestandsmerkmal „auf der Stelle zur Tat hingerissen“. Wir nehmen (wieder einmal) zur Kenntnis: „auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!

„Auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!

Zum Sachverhalt teilt der Beschluss folgendes mit: „Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Geschädigte im Vorfeld der Tat eine anfangs verbal geführte Auseinandersetzung mit dem aus Somalia stammenden Angeklagten, indem er ihm am 26. August 2018 gegen 1.45 Uhr beim Verlassen des Festzeltes auf einem Musikfest in B. abfällig zurief: „Geht doch dorthin, wo ihr herkommt“. Sodann „schnipste“ er ihm mit dem Finger die Kappe von dessen Kopf, um ihn weiter zu provozieren. Der Angeklagte geriet in Rage und rief mehrfach „Don‘t touch me, I kill you!“. Im Rahmen der nun folgenden körperlichen Auseinandersetzung schubste der Geschädigte den Angeklagten. Es kam zudem zu gegenseitigen Faustschlägen ins Gesicht. Dabei platzte die Oberlippe des Angeklagten auf. Nachdem die Ehefrau des Geschädigten ihren Ehemann weggezogen hatte, rief der Angeklagte hinterher: „I kill you!“. Er war sehr wütend und wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb suchte er auf dem Gelände vor dem Festzelt nach Gegenständen, um sich zu bewaffnen. Dabei fand er eine Glasflasche, die er so abschlug, dass eine scharfe Schnittkante entstand. Der Angeklagte sammelte seine Begleiter ein und forderte sie auf, ihm zu folgen, um sich moralische Unterstützung zu sichern. Daraufhin rannte er ‒ mehrere Minuten nach der Auseinandersetzung vor dem Zelt ‒ dem Geschädigten hinterher. Als der Angeklagte mit seinen Begleitern den Geschädigten erreicht hatte, umstellten sie diesen. Dessen Frau warnte ihren Ehemann noch mit den Worten „Pass auf, er hat eine Flasche“. Ungeachtet dessen und obwohl einer der Begleiter des Angeklagten diesen noch abzuhalten versuchte, ging der Angeklagte wutentbrannt auf den Geschädigten in der Absicht zu, diesen zu töten. Er schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht und stach zweimal mit dem abgebrochenen Flaschenhals direkt hintereinander in den Oberkörper seines Opfers.“

„Don’t touch me, I kill you!“

Bei diesem Geschehensablauf, so der 2. Strafsenat, „wäre das Landgericht gehalten gewesen, sich mit den Voraussetzungen des § 213 1. Alt. StGB auseinanderzusetzen“. Das ist zweifellos richtig. Wenn man diese Auseinandersetzung mit einem unbefangenen Blick ins Gesetz beginnt, so drängt sich das Vorliegen eines sogenannten Provokationsfalls auf den ersten Blick indes nicht unbedingt auf. Seinem Wortlaut nach verlangt § 213 StGB in der „Provokationsvariante“, dass der Täter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist. Über das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ kommt man in diesem Fall relativ leicht hinweg, denn offenbar ist die Auseinandersetzung vom späteren Geschädigten initiiert worden, der nicht nur verbal („Geht doch dorthin, wo ihr herkommt!“), sondern auch körperlich (vom-Kopf-Schnipsen der Mütze) übergriffig geworden ist. Dass sich der Angeklagte hiergegen – wenn auch etwas unbeholfen –  verbal zur Wehr setzte („Don‘t touch me, I kill you!“), wird man ihm schwerlich als schuldhaftes Verhalten im Sinne einer unverhältnismäßigen und unverständlichen Reaktion vorwerfen können. Auch besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass es sich bei den anschließenden Faustschlägen ins Gesicht des Angeklagten, in deren Folge seine Oberlippe aufplatzte, um eine Misshandlung im Sinne dieser Vorschrift handelt.

Für den am Gesetzeswortlaut hängenden Rechtsanwender möglicherweise überraschend ist hingegen, dass der Angeklagte trotz einer mehrminütigen Unterbrechung des Geschehens, die er mit der Suche und Herrichtung eines Angriffsmittels (abgerochener Flaschenhals) verbrachte, noch „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ gewesen sein soll bzw. könnte. Bereits am Merkmal „auf der Stelle“ kann man im vorliegenden Fall durchaus Zweifel haben, jedenfalls, wenn man dies in räumlicher Hinsicht versteht. Denn nach den Feststellungen rannte der Angeklagte dem späteren Geschädigten, der sich bereits abgewandt hatte, hinterher, um ihn anzugreifen. Für den 2. Senat ist diese Ortsveränderung jedoch ebenso unschädlich wie die zeitliche Unterbrechung. Hierzu heißt es im Beschluss: „Dieser Geschehensablauf belegt zwar einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen der den Zorn des Angeklagten auslösenden Auseinandersetzung und dem eigentlichen Tatgeschehen. Er unterbricht aber nicht den erforderlichen Zusammenhang, der insoweit bestehen muss, als der durch die Provokation und die Misshandlung hervorgerufene Zorn im Zeitpunkt der Tatbegehung noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 ‒ 1 StR 585/18, NStZ 2019, 471). Davon ist hier auszugehen, wenn der Angeklagte ‒ „weiter wutentbrannt“ und auch nicht von seinem zuvor gefassten Tötungsentschluss abzuhalten ‒ auf den Geschädigten zustürmte, ihm mit der Faust ins Gesicht schlug und schließlich mit dem Flaschenhals auf ihn einstach. Dass dies mehrere Minuten nach dem Beginn der Auseinandersetzung geschehen ist, stellt insoweit keine relevante Zäsur dar.“ 

„Alte Hasen“ werden möglicherweise anmerken, dass eine Unterbrechung von mehreren Minuten selbstverständlich unschädlich ist, hat doch der BGH bereits in den 1980er Jahren (BGH, 11.01.1984, 3 StR 443/83, NStZ 1984, 316) entschieden: „Der für die erste Alternative des § 213 StGB erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zwischen unverschuldeter Reizung zum Zorn und Ausführung der Tat ist durch die wenigen dazwischen liegenden Stunden nicht aufgehoben worden.“

„Auf der Stelle“ kann auch „Stunden später“ sein!

Was bleibt ist die Frage, ob es überhaupt zeitliche und örtliche Grenzen für „auf der Stelle gibt zu Tat hingerissen“ gibt? Wie weit darf der provozierte, gefühlsaufgewallte Täter seinen vormaligen Provokateur verfolgen? Vielleicht hunderte von Kilometern weit, womöglich über Ländergrenzen hinweg? Und wie lange darf diese Verfolgung dauern – Stunden, Tage oder gar Wochen? Stellen wir uns (à la „Tatort“) einen Vater vor, dessen Kind missbraucht und getötet worden ist und der den Täter nach mehrtägiger „Jagd“ quer durch Deutschland tränenüberströmt erschießt. Wäre das noch „auf der Stelle“ in Sinne von § 213 StGB?

Der „niedrige Beweggrund“ und die Hinweispflicht

Wenn die Verurteilung auf das schon in der Anklageschrift angenommene Mordmerkmal gestützt werden soll, sich jedoch die Tatsachengrundlage, die dieses nach Auffassung des Gerichts ausfüllt, gegenüber derjenigen ändert, von der die Anklage ausgegangen ist, ist der Angeklagte gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO auf diese Änderung der Sachlage hinzuweisen. Dieser Hinweis muss ihm vom Vorsitzenden erteilt und protokolliert werden. Anderenfalls droht dem Urteil die Aufhebung durch das Revisionsgericht.

Das Vorstehende klingt auf den ersten Blick einfach und einleuchtend. Stellen wir uns vor, dem Angeklagten würde ein Verdeckungsmord zur Last gelegt mit der Maßgabe, dass die zu verdeckende Tat eine Unterschlagung gewesen sei. Im Laufe der Beweisaufnahme käme das Gericht demgegenüber zu der Einschätzung, dass es ihm stattdessen um die Verdeckung einer Körperverletzung, also einer anderen Tat, gegangen wäre. Vermutlich würde niemand ernstlich daran zweifeln, dass eine Verurteilung einen vorherigen Hinweis gemäß § 265 StPO voraussetzt.

Wandeln wir den Fall ab: dem Angeklagten wird ein Mord aus niedrigen Beweggründen zur Last gelegt. Die Anklage geht davon aus, er habe mit der Tötung seiner ehemaligen Lebensgefährtin die Aufdeckung seiner Falschangaben im Sorgerechtsstreit sowie den ihm drohenden Verlust des durch die falschen Angaben erschlichenen gemeinsamen Sorgerechts für den gemeinsamen Sohn verhindern wollen. Zudem habe er der Getöteten jedes Recht abgesprochen, in Zukunft das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn auszuüben. In Abweichung hiervon legt das Schwurgericht in den Urteilsgründen als Beweggrund für die Tötung zugrunde, dass der Angeklagte den Verlust des Sorgerechts auch deshalb habe verhindern wollen, weil dies seine letzte Hoffnung, dem sich bereits abzeichnenden Strafvollzug zu entgehen, zunichtegemacht hätte.

Tatmotiv: Angst vor dem Verlust des Sorgerechts!

Sowohl nach der Anklage als auch nach den Urteilgründen geht es also darum, den drohenden Sorgerechtsverlust abzuwenden. Und dennoch hätte es hier – wie auch in obigem Fall – eines Hinweises gemäß § 265 StPO bedurft, denn nach Auffassung des 1. Strafsenats (BGH, 24.07.2019, 1 StR 185/19) weichen die angeklagten und die festgestellten Motive in diesem Fall „deutlich von einander ab“! Das sehen Sie anders? Dann lassen Sie sich vom BGH überzeugen: „Zwar geht das Urteil in gleicher Weise wie die Anklage davon aus, dass sich der Angeklagte mit der Tötung von K. das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn erhalten wollte. Eine Verbindung zwischen Tötungshandlung und der Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung oder einer günstigeren Strafvollstreckung in einem laufenden Strafverfahren gegen den Angeklagten wird in der Anklageschrift aber nicht hergestellt. Vielmehr wird erstmals in den Urteilsgründen als Grund für die Annahme niedriger Beweggründe darauf abgestellt, dass der Angeklagte die Tat beging, um gestützt auf das bestehende Sorgerecht dem Strafvollzug zu entgehen. Gerade aber deswegen, weil der Angeklagte das Leben der Getöteten derart geringgeschätzt habe, dass es aus seiner Sicht hinter seinen persönlichen Interessen habe zurücktreten müssen, hat das Landgericht die Beweggründe des Angeklagten für die Tötung als niedrig gewertet.“ Anders ausgedrückt: weil sich das Motiv (Strafvollzug vermeiden statt Ausübung des Sorgerechts durch die Mutter verhindern) für das Motiv (Sorgerechtsverlust vermeiden) geändert hat, wäre ein Hinweis gemäß  § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO erforderlich gewesen.

Genau hinschauen: stimmt das festgestellte Motiv mit dem angeklagten überein?

Finden Sie das überzeugend? Wenn Sie Strafverteidiger oder Strafverteidigerin sind, möglicherweise ja. Ein Revisionserfolg ist Balsam für die Seele und eine neue Hauptverhandlung gut für das irdische Fortkommen. Kleiner Test: stellen Sie sich vor, Sie hätten in diesem Fall ausnahmsweise die Nebenklage vertreten und müssten diese Entscheidung jetzt ihrer Mandantschaft erklären. Immer noch überzeugt? Na gut, solche Fragen sind unfair, und es ist letztlich ja auch egal: der BGH hat gesprochen, als Rechtsanwender haben wir uns darauf einzustellen.

Und das bedeutet, dass bei der Suche nach dem Motiv und den Beweggründen für das Motiv bereits bei der Staatsanwaltschaft allergrößte Sorgfalt an den Tag zu legen ist! Es reicht eben – entgegen einer noch immer verbreiteten Meinung – nicht aus, dass jede ernsthaft in Betracht kommende Motivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“ und damit die Voraussetzungen des niedrigen Beweggrundes auf jeden Fall erfüllt sind. Auch die Schwurgerichte werden sich in Vorbereitung der Eröffnungsentscheidung intensiv mit der Frage zu befassen haben, ob sich das angeklagte Motiv einschließlich der dahinterstehenden Beweggründe nach Durchführung der Beweisaufnahme voraussichtlich wirklich so darstellen wird, wie angeklagt. Hält das Gericht eine zumindest teilweise von der Anklage abweichende Motivation für möglich, so kommt bei unveränderter Zulassung der Anklage die Erteilung eines entsprechenden Hinweises im Eröffnungsbeschluss in Betracht, um § 265 StPO Genüge zu tun (Schneider in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage, § 207, Rn. 9).

Indes: da niemand hellsehen kann, wird es immer wieder Fälle geben, in denen sich die Motivation nach Durchführung der Beweisaufnahme überraschenderweise anders darstellt, als dies nach Aktenlage der Fall war. In einem solchen Fall führt schon bei kleinsten Abweichungen kein Weg an einem Hinweis nach § 265 StPO vorbei, will man nicht sehenden Auges eine zumindest teilweise Aufhebung des Urteils riskieren! 

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften, wird es für Rechtsanwender und Betroffene schwierig. Während der Gesetzgeber nicht zuletzt als Reaktion auf den sog. „Fall Mollath“ Maßregelpatienten in kürzeren Abständen (§ 463 Abs. 4 StPO) extern begutachten lassen will und das Bundesverfassungsgericht an die Begründung von Fortdauerentscheidungen hohe Anforderungen stellt, werden psychiatrische Sachverständige mit forensischer Erfahrung immer seltener – und Besserung ist nicht in Sicht!

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften…

Gut gemeint hat es der Gesetzgeber, daran besteht kein Zweifel. Ausgehend davon, dass sowohl die Zahl der gem. § 63 StGB in psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachten Personen als auch deren durchschnittliche Verweildauer im Maßregelvollzug seit Jahren angestiegen ist, sah er die Notwendigkeit einer häufigeren externen Überprüfung. Im Gesetzentwurf (BT-Drucksache 18/7244) heißt es hierzu: „Zur Steigerung der Qualität von Fortdauerentscheidungen soll eine externe Begutachtung künftig grundsätzlich nach jeweils drei Jahren vollzogener Unterbringung nach § 63 StGB erfolgen, nach einer Unterbringungszeit von sechs Jahren alle zwei Jahre. Dies ermöglicht eine objektivere Beurteilung der der Unterbringung zugrundeliegenden diagnostischen und prognostischen Einschätzungen sowie der Entwicklungen im Rahmen der in Anspruch genommenen Therapieangebote im Maßregelvollzug. Die Erhöhung der Frequenz unterstreicht auch den bereits vom Bundesverfassungsgericht betonten Gesichtspunkt, dass das Gutachten nicht durch „Belange der Maßregelvollzugseinrichtung“ beeinflusst werden soll. Mit einer externen Begutachtung wird schon dem bloßen Anschein entgegengetreten, der Inhalt des Gutachtens könne womöglich auch durch das Interesse an der Auslastung der Einrichtung und deren wirtschaftlichen Erfolg mitbestimmt sein, gerade vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren in einigen Ländern Maßregelvollzugseinrichtungen privatisiert worden sind. Zudem weisen Einzelstudien darauf hin, dass unterschiedliche Unterbringungsdauern und Lockerungsentscheidungen wesentlich auch von der jeweiligen Klinik und ihrem Personal abhängen.“

Das klingt vernünftig, aber schon der erste Satz wirft Fragen auf. Eine Erhöhung der Quantität soll regelhaft zu einer Steigerung der Qualität führen?Viel hilft viel!“ – das gilt manchmal, aber nicht immer! Natürlich verstehe ich den gesetzgeberischen Ansatz. Je länger die Unterbringung dauert, desto mehr Bedeutung gewinnt das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten  – Stichwort Verhältnismäßigkeit – und desto engmaschiger und kritischer soll die externe Kontrolle sein. Und um diese Kontrolle zu gewährleisten, regelt das Gesetz (§ 463 Abs. 4 Satz 3 bis 5 StPO) weitere Einzelheiten: „Der Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet, noch soll er das letzte Gutachten bei einer vorangegangenen Überprüfung erstellt haben. Der Sachverständige, der für das erste Gutachten im Rahmen einer Überprüfung der Unterbringung herangezogen wird, soll auch nicht das Gutachten in dem Verfahren erstellt haben, in dem die Unterbringung oder deren späterer Vollzug angeordnet worden ist. Mit der Begutachtung sollen nur ärztliche oder psychologische Sachverständige beauftragt werden, die über forensisch-psychiatrische Sachkunde und Erfahrung verfügen.“

Unabhängig, kompetent und kritisch soll der externe Sachverständige sein!

Das ist alles gut und richtig. Allein – woher sollen die Heerscharen von unabhängigen, forensisch erfahrenen Psychiatern und Psychologen kommen, deren Existenz der Gesetzgeber offenbar voraussetzt? Menschen, die sowohl die Expertise als auch das Selbstbewusstsein haben, die Behandler im Maßregelvollzug zu kontrollieren und ihnen, wenn nötig, zu widersprechen?  Die sich beispielsweise zu sagen trauen: „Obwohl der Untergebrachte vor einigen Jahren im Zustand einer akuten Psychose mehrere Menschen getötet hat, halte ich ihn – im Gegensatz zu den behandelnden Ärzten – mittlerweile für ungefährlich und befürworte eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung!“ Bei uns in Lüneburg, das kann ich aus meiner Tätigkeit im Schwurgericht und in der Strafvollstreckungskammer sagen, gibt es derer gegenwärtig noch zwei. Einer der beiden hat das Eintrittsalter der gesetzlichen Rentenversicherung bereits hinter sich gelassen. Versuche mit „auswärtigen“ Sachverständigen, wenn sie denn überhaupt Zeit und Lust hatten, für uns tätig zu werden, brachten sehr gemischte Ergebnisse. Spätestens wenn man versucht, einen erfahren Sachverständigen (einen alten Haudegen und Veteranen des Maßregelvollzuges) zu veranlassen, sein Gutachten nach den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erstatten, stößt man an unüberwindliche Grenzen. Statistische Prognoseinstrumente sind was für Anfänger und Angsthasen…

Die Zeit drängt – es fehlt der Nachwuchs!

Mit anderen Worten: die Lage ist ernst, und sie wird sich absehbar eher verschlechtern als verbessern. Offenbar hat fast niemand mehr Lust, sein Berufsleben als selbständiger forensischer Psychiater zu verbringen. An den Verdienstmöglichkeiten liegt es sicher nicht – woran dann? Das habe ich vor einiger Zeit einen Psychiater gefragt. Seine Antwort war in etwa folgende: Wenn sich jemand dafür entscheidet, Arzt zu werden und mit Medizin studiert, ist die Entscheidung für die Psychiatrie an sich schon exotisch. Wer sich dennoch mit Erfolg in diesem Fach etabliert, kann sich seinen Job quasi aussuchen. Gegen die Tätigkeit als selbständiger Psychiater spricht zum einen, dass man von seinen Auftraggebern – sprich den Gerichten – und deren Launen abhängig ist. Zugegeben, das ist keine schöne Vorstellung, Verteidiger werden mir zustimmen. Und zum anderen, dass  das ärztliche Selbstverständnis (Halbgötter in Weiß) kritische Rückfragen oder gar entschiedenen Widerspruch von medizinischen Laien (Juristen) nicht oder nur sehr schwer erträgt.

Ob das alles so stimmt, kann ich nicht sagen, aber ich fand die Antwort zumindest plausibel. Wenn es auch nur zum Teil stimmt, muss sich Im Interesse sowohl der Untergebrachten als auch der öffentlichen Sicherheit dringend etwas ändern, und zwar bald! Denn Sachverständige lassen sich nicht per Gesetz erschaffen und auch nicht über Nacht ausbilden. Ein Ansatz bestünde möglicherweise darin, die Landeskriminalämter neben Chemikern und Biologen auch Psychiater und Psychologen anstellen zu lassen. Damit wäre zumindest deren wirtschaftliche  Abhängigkeit von einzelnen Richtern bzw. Kammern überwunden. Ob Verteidiger das für eine gute Idee halten, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie ja bessere Vorschläge?

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“? Stellt der (nur) bedingte Tötungsorsatz einen Strafmilderungsgrund dar? Oder darf der direkte Tötungsvorsatz strafschärfend berücksichtigt werden? Diese Fragen stellen sich beim Totschlag (§ 212 StGB). Und zwar sowohl im Hinblick auf die Strafrahmenwahl (minder schwerer Fall gem. § 213 StGB?) als auch bei der eigentlichen Strafzumessung (§ 46 StGB)!

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Bis vor wenigen Jahren galt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung folgendes: „Hat das Tatgericht im Rahmen der Strafzumessung ausdrücklich strafschärfend gewertet, dass es dem Angeklagten unbedingt darauf angekommen sei, seine Ehefrau zu töten, und er nicht nur mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe, so verstößt dies gegen das Doppelverwertungsverbot gem. § 46 Abs. 3 StGB .“ (BGH, 10.01.2018, 1 StR 3/15). Der 2. Strafsenat, so heißt es bei Fischer (StGB 66. Auflage, § 212, Rn. 18a), habe „diese Rechtsprechung aufgebeben“. Das klingt auf den ersten Blick merkwürdig. Seit wann gibt ein Senat die Rechtsprechung der übrigen auf?

Zum Sachverhalt teilt die Entscheidung (BGH, 10.01.2018, 2 StR 150/15) mit: „Nach den Feststellungen des Schwurgerichts beschloss der 74 Jahre alte Angeklagte am 22. Oktober 2013, seine erheblich jüngere und Trennungsabsichten hegende Ehefrau zu töten. In Ausführung dieses Tatentschlusses griff er sie auf der Kellertreppe des gemeinsamen Wohnanwesens an und schlug ihr einen Gegenstand gegen den Kopf, wodurch sie zu Fall kam und die Kellertreppe hinabstürzte. Nunmehr ergriff der Angeklagte einen etwa 2,8 Kilogramm schweren Feuerlöscher und schlug damit in Tötungsabsicht mindestens fünf Mal wuchtig auf den Kopf seiner am Boden liegenden Ehefrau ein. Sie erlitt durch diese mehrfachen, massiven Gewalteinwirkungen multiple offene Schädel-Hirn-Verletzungen. Weitere stumpfe Gewalteinwirkungen gegen den Oberkörper des Tatopfers führten zu zahlreichen Rippenbrüchen, die zu einer mehrfachen Durchsetzung der Brusthöhle und zu Einblutungen in die Lunge führten. Die Ehefrau des Angeklagten verstarb aufgrund der erlittenen massiven Verletzungen innerhalb weniger Minuten.“

Das Schwurgericht des LG Köln hatte bei der Prüfung der Frage, ob die Tat als ein (sonst) minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne des § 213 StGB anzusehen ist, zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er „den Tod seiner Ehefrau absichtlich und zielgerichtet herbeiführen wollte“. Auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne hatte das Schwurgericht neben der brutalen Tatausführung strafschärfend „die Tatsache“ berücksichtigt, dass der Angeklagte seine Ehefrau „absichtlich getötet hat“.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs kam zu dem – zweifellos richtigen – Ergebnis, dass er das Urteil auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung wegen Verstoßes gegen das Doppelverwertungsverbot hätte aufheben müssen.

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Weil er das – offenbar in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt – nicht wollte, leitete ein Anfrageverfahren gemäß § 132 Abs. 3 GVG ein, in dem er ankündigte entscheiden zu wollen, dass bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt die Feststellung von Tötungsabsicht zu Lasten des Angeklagten strafschärfend berücksichtigt werden kann. Zum Ergebnis dieser Anfrage teilt das Urteil (s.o.) mit: „Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben in ihren Antwortbeschlüssen mitgeteilt, dass sie der durch den Senat formulierten Anfrage, dass beim vorsätzlichen Tötungsdelikt die Feststellung von Tötungsabsicht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden könne, grundsätzlich zustimmen und entgegenstehende eigene Rechtsprechung aufgeben.“ Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten: direkter Tötungsvorsatz kann grundsätzlich im Rahmen einer Einzelfallprüfung als strafschärfender Umstand herangezogen werden!

Vielleicht doch ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot?

Im konkreten Fall („Feuerlöscher“) hätte sich meines Erachtens aber noch eine andere Frage gestellt, die der 2. Senat – möglicherweise im Überschwang der Gefühle angesichts des erfolgreichen Anfrageverfahrens – in seinem Urteil nicht thematisiert: Darf der direkte Tötungsvorsatz sowohl bei der Strafrahmenwahl (hier: Versagung eines minder schweren Falls) als auch bei der Strafzumessung im engeren SInne zum Nachteil der Angeklagten berücksichtigt werden?

Ich habe da gewisse Zweifel, um das vorsichtig auszudrücken, und denke dabei an eine Entscheidung des 5. Strafsenats (BGH, 12.05.2016, 5 StR 102/16): „Hingegen beanstandet der Generalbundesanwalt zurecht, dass das Landgericht die Vollendungsnähe und Gefährlichkeit des Versuchs, auf die es bereits zur Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB abgestellt hat, bei der konkreten Strafzumessung erneut herangezogen hat, indem es dort die durch die Verletzungen hervorgerufene akute Lebensgefahr strafschärfend berücksichtigt hat. Es verstößt gegen den Rechtsgedanken des § 46 Abs. 3 StGB, innerhalb des wegen der Erfolgsnähe nicht verschobenen Strafrahmens diese nochmals zu Lasten des Angeklagten zu gewichten.“

Ähnlich hat sich der 1. Strafsenat (BGH, 17.02.2016, 1 StR 12/16) geäußert: „Zwar mag die Wertung der Strafkammer rechtlich noch vertretbar sein, dem Angeklagten wegen der Nähe zur Tatvollendung eine Versuchsmilderung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB zu versagen. Soweit die Strafkammer vor dem Hintergrund dieser getroffenen Strafrahmenwahl allerdings zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Gesundheit der im Haus schlafenden Personen erheblich gefährdet gewesen sei, ist diese Erwägung nicht rechtsfehlerfrei. Das Landgericht lässt dabei unberücksichtigt, dass der Strafzumessung der – über § 21 StGB gemilderte – gesetzliche Normalstrafrahmen für eine vollendete Tatbegehung nach § 211 StGB zugrunde liegt. Innerhalb dieses Strafrahmens neuerlich die Erfolgsnähe aufgrund der erheblichen Gefährdung der im Haus schlafenden Personen und damit gerade ein bestimmendes Merkmal des Tatbestands zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen, ist mit § 46 Abs. 3 StGB unvereinbar.“

Zwischen Mordmerkmalen ist Wahlfeststellung möglich!

Die Verurteilung durch das Landgericht Gießen wegen Ermordung der 8-jährigen Johanna im Jahr 1999 ist rechtskräftig so eine heute vom BGH veröffentlichte Pressemitteilung. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten habe der 2. Strafsenat durch Beschluss vom 24. September 2019 ohne weitere Begründung verworfen. Damit bleibt es dabei: zwischen Mordmerkmalen ist Wahlfeststellung möglich!

Zum Tatgeschehen heißt es in der Pressemitteilung: „Nach den Feststellungen des Landgerichts fuhr der heute 42-jährige Angeklagte am Nachmittag des 2. September 1999 durch die Wetterau, um nach einem ihm geeignet erscheinenden Mädchen zu suchen, das er betäuben, an einen abgelegenen Ort verbringen, fesseln und sexuell missbrauchen wollte. Er näherte sich der neben einem Sportplatz spielenden achtjährigen Johanna, betäubte sie mit Chloroform und legte sie in den Kofferraum seines Fahrzeugs. Im Folgenden fesselte er sie, überklebte ihr Augen und Mund mit einem Gewebeklebeband und wickelte sodann ein 15 Meter langes Paketklebeband 28 Mal um ihren Kopf, was zum Ersticken führte. Sexuelle Handlungen an dem Mädchen konnten nicht festgestellt werden. Den Leichnam des Kindes legte der Angeklagte in einem Waldstück ab, wo Spaziergänger im April 2000 die sterblichen Überreste entdeckten. Das Landgericht hat ferner festgestellt, dass der Angeklagte das Paketklebeband um den Kopf des Mädchens gewickelt hatte, um entweder seine fetischistischen Neigungen zu befriedigen, wobei er den Tod des Mädchens billigend in Kauf nahm, oder um das Mädchen aus Sorge, sein gewaltsames Vorgehen könnte entdeckt werden, zu töten.

Das Landgericht habe den Angeklagten deshalb zu Recht wegen Mordes, begangen entweder zur Befriedigung des Geschlechtstriebes oder um eine andere Straftat zu verdecken, § 211 Abs. 2 StGB, in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung verurteilt. Darüber hinaus habe es den Angeklagten wegen Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften, die 2017 anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung beim Angeklagten sichergestellt worden seien, schuldig gesprochen. Das Landgericht habe gegen den Angeklagten eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verhängt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt.

Zwischen Mordmerkmalen ist Wahlfeststellung möglich!

Mit seiner Entscheidung bestätigt der 2. Strafsenat ältere Entscheidungen, denen zufolge eine Verurteilung „bei der alternativen Verwirklichung verschiedener Mordmerkmale rechtlich möglich“ ist , wenn „bei sämtlichen Sachverhaltsvarianten, welche der Tatrichter nach Ausschöpfung aller Beweismittel unter Ausschluß anderweitiger Geschehensabläufe für möglich erachtet, eines der Mordmerkmale erfüllt ist.“ (BGH, 16.12.1998 , 2 StR 340/98, NStZ-RR 1999, 106). Dies soll jedenfalls für sog. täterbezogene Mordmerkmale (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, sonst niedrige Beweggründen, Ermöglichungs- oder Verdeckungsabsicht) gelten (Laubhütte in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auflage, 16. Abschnitt „Straftaten gegen das Leben“).
Hierzu hat der 4. Strafsenat breits vor mehr als 50 Jahren entschieden: „ Die in § 211 Abs. 2 StGB aufgezählten Beweggründe der Tötung (einschließlich der Tötung, um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken) werden vom allgemeinen Rechtsempfinden in gleicher Weise sittlich mißbilligt. Die Verwirklichung jedes einzelnen auf sie bezüglichen Merkmals des § 211 Abs. 2 StGB ist gleichermaßen und aus gleichen Gründen verachtenswert. Demgemäß hat der Gesetzgeber die von ihm aufgeführten Tatbestände als Mord ohne Einschränkung in gleicher Weise als besonders verwerflich angesehen und deshalb mit derselben höchsten und unbedingten Strafe bedroht. Eine gleichgeartete seelische Haltung des Mörders bei den hier in Frage stehenden beiden Beweggründen, die wenigstens einigermaßen gegeben sein muß, ist ebenfalls zu bejahen.“ (BGH, 01.12.1967, 4 StR 523/67, BGHSt 22, 12).

Die „besondere Schwere der Schuld“

Wenn von der „besonderen Schwere der Schuld“ die Rede ist, ist regelmäßig § 57a StGB gemeint. Nach dieser Vorschrift kann der Rest einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind (§ 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB), die Reststrafenaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57a Abs. 1 Nr. Nr. 3 i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB), die verurteilte Person einwilligt (§ 57a Abs. 1 Nr. Nr. 3 i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und – worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll – nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet.

Welches Gericht die Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld zu treffen hat, ist gesetzlich eigentlich dahingehend geregelt, dass gemäß § 462a StPO die Strafvollstreckungskammer zuständig ist. Das ist eine Kammer desjenigen Landgerichts, in dessen Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht (03.06.1992, 2 BvR 1041/88, NJW 1992, 2947) entschieden: „Die Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen der §§ 454, 462 a StPO und des § 74 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GVG sind mit dem Grundgesetz nur dann vereinbar, wenn die für die Bewertung der Schuld gemäß § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erheblichen Tatsachen im Erkenntnisverfahren vom Schwurgericht festgestellt und im Urteil dargestellt werden, wenn das Urteil darüber hinaus auf dieser Grundlage die Schuld – unter dem für die Aussetzungsentscheidung erheblichen Gesichtspunkt ihrer besonderen Schwere – gewichtet und wenn das Vollstreckungsgericht daran gebunden ist.“ Dahinter steckt die Überlegung, dass letztlich nur diejenigen Richter die Schuldschwere beurteilen können, die „die objektiven und subjektiven Faktoren der individuellen Schuld“ anhand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung kennen. Im Ergebnis entscheidet also das Schwurgericht über die Frage, ob eine „besondere Schwere der Schuld“ im Sinne von § 57a StGB vorliegt oder nicht und spricht dies gegebenenfalls im Urteilstenor aus („Die Schuld des Angeklagten wiegt besonders schwer.“).

Unter welchen Voraussetzungen ist nun eine solche Feststellung zu treffen? Der Bundesgerichtshof verlangt eine „zusammenfassende Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit“ anhand von Umständen, „die Gewicht haben“. In Betracht kommen beispielsweise eine besondere Verwerflichkeit der Tatausführung oder der Motive, mehrere Opfer bei einer Tat, die Begehung mehrerer Mordtaten oder – im oder ohne Zusammenhang mit dem Mord begangene – weitere schwere Straftaten (BGH, 22.11.1994, GSSt 2/94, NJW 1995, 407).

Beispiel aus der Praxis gefällig? Kein Problem! In einem Fall, in dem  der Angeklagte seine auf dem Sofa schlafende Ehefrau mit Benzin übergossen, angezündet und auf diese Weise getötet hatte, hat das Landgericht Lüneburg (25.05.2016, 27 Ks 1/16) seine Entscheidung wie folgt begründet: „Die Kammer hat darüber hinaus die besondere Schwere der Schuld im Sinne von § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB festgestellt, weil das gesamte Tatbild einschließlich der Täterpersönlichkeit von den erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Mordfällen so sehr abweicht, dass eine Strafaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach 15 Jahren auch bei dann günstiger Täterprognose unangemessen wäre. Dabei war zu bedenken, dass hier sowohl ein täterbezogenes (niedrige Beweggründe) als auch ein tatbezogenes (grausam) Mordmerkmal erfüllt sind und sich der Angriff außerdem gegen einen schlafenden und damit wehrlosen Menschen richtete. Schulderhöhend wirkte sich ferner das tateinheitlich begangene Brandstiftungsdelikt aus, das bereits für sich genommen einen Verbrechenstatbestand erfüllt und neben dem Rechtsgut Leben auch das Eigentum  – hier des Vermieters des Angeklagten in Brand gesetzten Hauses – schützt. Darüber hinaus spricht gegen den Angeklagten, dass er nach den Feststellungen B.B. über einen Zeitraum von mindestens 18 Jahren, beginnend während ihrer ersten Schwangerschaft, immer wieder geschlagen, getreten, mit dem Tode bedroht und sie in den letzten beiden Jahren vor der Tat von ihren Schwestern, den Nebenklägerinnen, isoliert hat. Dies hatte zur Folge, dass B.B. über Jahre in permanenter Angst vor seinen tätlichen Übergriffen lebte, wobei sich die Angst in den Monaten vor der Tat zu der Gewissheit verdichtete, dass er sie früher oder später umbringen werde. Hinzu kommen die Bedrohungen zum Nachteil der Nebenklägerinnen („Du musst deine Schwester verbrannt sehen! Dich und Deine andere Schwester werde ich in den Wald bringen, vergewaltigen und umbringen!“). Dass er hierfür strafrechtlich nie zur Verantwortung gezogen wurde, beruht auf der Angst und der Scham, die B.B. davon abhielten, ihn anzuzeigen, und der Rücksichtnahme der Nebenklägerinnen auf ihre Schwester. Unter diesen Umständen fällt der Umstand, dass er unbestraft ist, nicht entscheidend ins Gewicht. Zwischen allen Taten einschließlich des Mordes an B.B. besteht ein innerer Zusammenhang, denn das gemeinsame Motiv war die erzwungene Geldbeschaffung durch B.B., die schließlich in den Entschluss mündete, sich ihrer zu entledigen, als ihre Möglichkeiten diesbezüglich erschöpft waren.“ Das Urteil wurde mit der Verwerfung der Revision des Angeklagten durch den Bundesgerichtshof rechtskräftig. Damit ist klar: eine Reststrafenaussetzung nach 15 Jahren wird es für diesen Täter nicht geben!

Offen ist hingegen, wie lange er mindestens wird verbüßen müssen, denn diese Entscheidung fällt nicht in die Zuständigkeit des Schwurgerichts. Die Entscheidung über die Mindestverbüßungsdauer trifft die Strafvollstreckungskammer „auf der Grundlage einer vollstreckungsrechtlichen Gesamtwürdigung des Unrechts- und des Schuldgehalts der mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndeten Taten“ (BVerfG, 22.05.1995, 2 BvR 671/95, NStZ 1996, 53). Dabei sind auch „die progressive Steigerung der mit dem Fortschreiten der Zeit und dem Ansteigen des Lebensalters sich ergebenden Straf- und Vollzugswirkung“ und der  Gesundheitszustand des Verurteilten zu berücksichtigen sowie der Umstand, dass er eine „realisierbare Chance“ haben muss, „der Freiheit wieder teilhaftig zu werden“, wobei es sich nicht nur um einen „von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest“ handeln darf (BVerfGG, a.a.O.). Einen verbindlich Endzeitpunkt der Verbüßungsdauer einer lebenslangen Freiheitsstrafe gibt es nicht.

Zur Berechtigung eines Mindestverbüßungsdauer von 30 Jahren hat das OLG Hamm (13.11.2018, 1 Ws 561/18) ausgeführt: „Taten (und Täter), die einen auch nur annähernd vergleichbaren Grad an Rücksichtslosigkeit, Kaltherzigkeit und Grausamkeit aufweisen, kommen auch in der Spruchpraxis des landesweit für Entscheidungen nach § 57a StGB zuständigen Senats nicht häufig vor.“ Auch eine Vollstreckungszeit von 38 Jahren kann im Einzelfall noch verfassungsgemäß sein (BVerfG, 21.12.1994, 2 BvR1697/93, NJW 1995, 3244).