Wenn die Verurteilung auf das schon in der Anklageschrift angenommene Mordmerkmal gestützt werden soll, sich jedoch die Tatsachengrundlage, die dieses nach Auffassung des Gerichts ausfüllt, gegenüber derjenigen ändert, von der die Anklage ausgegangen ist, ist der Angeklagte gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO auf diese Änderung der Sachlage hinzuweisen. Dieser Hinweis muss ihm vom Vorsitzenden erteilt und protokolliert werden. Anderenfalls droht dem Urteil die Aufhebung durch das Revisionsgericht.
Das Vorstehende klingt auf den ersten Blick einfach und einleuchtend. Stellen wir uns vor, dem Angeklagten würde ein Verdeckungsmord zur Last gelegt mit der Maßgabe, dass die zu verdeckende Tat eine Unterschlagung gewesen sei. Im Laufe der Beweisaufnahme käme das Gericht demgegenüber zu der Einschätzung, dass es ihm stattdessen um die Verdeckung einer Körperverletzung, also einer anderen Tat, gegangen wäre. Vermutlich würde niemand ernstlich daran zweifeln, dass eine Verurteilung einen vorherigen Hinweis gemäß § 265 StPO voraussetzt.
Wandeln wir den Fall ab: dem Angeklagten wird ein Mord aus niedrigen Beweggründen zur Last gelegt. Die Anklage geht davon aus, er habe mit der Tötung seiner ehemaligen Lebensgefährtin die Aufdeckung seiner Falschangaben im Sorgerechtsstreit sowie den ihm drohenden Verlust des durch die falschen Angaben erschlichenen gemeinsamen Sorgerechts für den gemeinsamen Sohn verhindern wollen. Zudem habe er der Getöteten jedes Recht abgesprochen, in Zukunft das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn auszuüben. In Abweichung hiervon legt das Schwurgericht in den Urteilsgründen als Beweggrund für die Tötung zugrunde, dass der Angeklagte den Verlust des Sorgerechts auch deshalb habe verhindern wollen, weil dies seine letzte Hoffnung, dem sich bereits abzeichnenden Strafvollzug zu entgehen, zunichtegemacht hätte.
Sowohl nach der Anklage als auch nach den Urteilgründen geht es also darum, den drohenden Sorgerechtsverlust abzuwenden. Und dennoch hätte es hier – wie auch in obigem Fall – eines Hinweises gemäß § 265 StPO bedurft, denn nach Auffassung des 1. Strafsenats (BGH, 24.07.2019, 1 StR 185/19) weichen die angeklagten und die festgestellten Motive in diesem Fall „deutlich von einander ab“! Das sehen Sie anders? Dann lassen Sie sich vom BGH überzeugen: „Zwar geht das Urteil in gleicher Weise wie die Anklage davon aus, dass sich der Angeklagte mit der Tötung von K. das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn erhalten wollte. Eine Verbindung zwischen Tötungshandlung und der Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung oder einer günstigeren Strafvollstreckung in einem laufenden Strafverfahren gegen den Angeklagten wird in der Anklageschrift aber nicht hergestellt. Vielmehr wird erstmals in den Urteilsgründen als Grund für die Annahme niedriger Beweggründe darauf abgestellt, dass der Angeklagte die Tat beging, um gestützt auf das bestehende Sorgerecht dem Strafvollzug zu entgehen. Gerade aber deswegen, weil der Angeklagte das Leben der Getöteten derart geringgeschätzt habe, dass es aus seiner Sicht hinter seinen persönlichen Interessen habe zurücktreten müssen, hat das Landgericht die Beweggründe des Angeklagten für die Tötung als niedrig gewertet.“ Anders ausgedrückt: weil sich das Motiv (Strafvollzug vermeiden statt Ausübung des Sorgerechts durch die Mutter verhindern) für das Motiv (Sorgerechtsverlust vermeiden) geändert hat, wäre ein Hinweis gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO erforderlich gewesen.
Finden Sie das überzeugend? Wenn Sie Strafverteidiger oder Strafverteidigerin sind, möglicherweise ja. Ein Revisionserfolg ist Balsam für die Seele und eine neue Hauptverhandlung gut für das irdische Fortkommen. Kleiner Test: stellen Sie sich vor, Sie hätten in diesem Fall ausnahmsweise die Nebenklage vertreten und müssten diese Entscheidung jetzt ihrer Mandantschaft erklären. Immer noch überzeugt? Na gut, solche Fragen sind unfair, und es ist letztlich ja auch egal: der BGH hat gesprochen, als Rechtsanwender haben wir uns darauf einzustellen.
Und das bedeutet, dass bei der Suche nach dem Motiv und den Beweggründen für das Motiv bereits bei der Staatsanwaltschaft allergrößte Sorgfalt an den Tag zu legen ist! Es reicht eben – entgegen einer noch immer verbreiteten Meinung – nicht aus, dass jede ernsthaft in Betracht kommende Motivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“ und damit die Voraussetzungen des niedrigen Beweggrundes auf jeden Fall erfüllt sind. Auch die Schwurgerichte werden sich in Vorbereitung der Eröffnungsentscheidung intensiv mit der Frage zu befassen haben, ob sich das angeklagte Motiv einschließlich der dahinterstehenden Beweggründe nach Durchführung der Beweisaufnahme voraussichtlich wirklich so darstellen wird, wie angeklagt. Hält das Gericht eine zumindest teilweise von der Anklage abweichende Motivation für möglich, so kommt bei unveränderter Zulassung der Anklage die Erteilung eines entsprechenden Hinweises im Eröffnungsbeschluss in Betracht, um § 265 StPO Genüge zu tun (Schneider in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage, § 207, Rn. 9).
Indes: da niemand hellsehen kann, wird es immer wieder Fälle geben, in denen sich die Motivation nach Durchführung der Beweisaufnahme überraschenderweise anders darstellt, als dies nach Aktenlage der Fall war. In einem solchen Fall führt schon bei kleinsten Abweichungen kein Weg an einem Hinweis nach § 265 StPO vorbei, will man nicht sehenden Auges eine zumindest teilweise Aufhebung des Urteils riskieren!