SOS – Schwätzer ohne Sachverstand

Im letzten Beitrag hatte ich über die zunehmende Knappheit an qualifizierten psychiatrischen Sachverständigen berichtet. Heute will ich erzählen, was ich unlängst mit einem Sachverständigen erlebt habe, der mir bis dato unbekannt war – und um den ich zukünftig einen großen Bogen machen werde. Ein SOS – Schwätzer ohne Sachverstand!

Das Verfahren liegt erst einige Monate zurück und spielte sich ausnahmsweise nicht im Schwurgericht ab, sondern in einer normalen großen Strafkammer, die in einer ungewöhnlichen Besetzung verhandelte. Sowohl der Vorsitzende, der mittlerweile pensioniert ist, als auch ich waren durch die Vertretungskette in die Kammer gelangt. Lediglich die zweite Beisitzerin gehörte zur Originalbesetzung. Der Grund hierfür lag darin, dass der Angeklagte gemäß § 126a StPO einstweilig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und die Frist des § 121 StPO abzulaufen drohte, während zwei Drittel der Kammermitglieder im Urlaub weilten.

Vorgeworfen wurde Angeklagten eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil seiner Ehefrau, begangen im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit infolge einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Nach Durchführung der Beweisaufnahme stand fest, dass sich die Ehefrau von ihm hatte trennen wollen, womit er nicht einverstanden war. Um sie umzustimmen, bat er einen gemeinsamen Bekannten darum, zwischen ihm und seiner Ehefrau zu vermitteln. Zu diesem Zweck trafen sich die drei Personen in einer Bäckerei. Nachdem sich das Gespräch nicht in die von ihm gewünschte Richtung entwickelt hatte, geriet der Angeklagte in Wut und fügte seiner Ehefrau mit einem stumpfen Messer eine kleine Verletzung an der Wange zu. Anschließend stürmte er aus der Bäckerei und verschwand.

Es folgte – gleichsam als Abschluss der Beweisaufnahme – der Auftritt des psychiatrischen Sachverständigen, der anfangs durchaus sympathisch wirkte. Er berichtete von der Untersuchung des Angeklagten und dessen Angaben zu seinem Lebenslauf. Aufgewachsen sei der Angeklagte im Irak. Seine Familie sei dort so wohlhabend gewesen, dass er nicht habe arbeiten müssen. Dennoch habe sich der Angeklagte – aus welchen Gründen auch immer – gemeinsam mit seiner Ehefrau auf den Weg nach Europa gemacht. In der Türkei habe er eine Zeit lang in einer Autowerkstatt gearbeitet, bevor er über die Balkanroute nach Deutschland gelangt sei.

SOS – Schwätzer ohne Sachverstand?

Zur psychiatrischen Einordnung sei vorauszuschicken, dass das mit der Diagnose Persönlichkeitsstörung ja nicht so einfach sei. Zum einen sei die Abgrenzung zwischen Persönlichkeitsakzentuierung und Persönlichkeitsstörung im Einzelfall schwierig. Zum anderen müsse der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit dahingehend bewertet werden, ob das Eingangskriterium einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB erfüllt sei. Ich nickte innerlich und war mir sicher, das Ergebnis zu kennen: Persönlichkeitsakzentuierung ja, Persönlichkeitsstörung nicht sicher feststellbar, also kein Eingangskriterium und damit volle Schuldfähigkeit und keine Unterbringung gem. § 63 StGB. Derartiges erwarteten offensichtlich auch die übrigen Juristen im Saal, denen unisono die Gesichtszüge entglitten, also der Sachverständige sein Ergebnis präsentierte: ausgeprägte Persönlichkeitsstörung von der Qualität einer schweren anderen seelischen Abartigkeit, Steuerungsfähigkeit sicher erheblich vermindert, der Angeklagte sei allgemeingefährlich und ein Fall für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Der Vorsitzende befragte der Sachverständigen und konfrontierte ihn damit, dass der Angeklagte unbestraft und selbst nach Angaben seiner Ehefrau zuvor nie gewalttätig gewesen sei. Das ändere nichts, so der Sachverständige. Als mir das Wort erteilt wurde, versuchte ich, den Spieß umzudrehen und fragte, woran den nun die Persönlichkeitsstörung positiv festzumachen sei. Antwort: an der Tat und dem Umstand, dass der Angeklagte noch nie in seinem Leben gearbeitet habe, was Ausdruck seiner ausgeprägten Dissozialität sei. Meinen Einwand, dass dies ja wohl nicht ganz stimme – Stichwort Autowerkstatt in der Türkei – schob der Sachverständige lächelnd beiseite. Das sei ja nur von kurzer Dauer gewesen. Ich ließ nicht locker und wies darauf hin, dass der Angeklagte Irak ja eigenen Angaben zufolge nicht habe arbeiten müssen und dass er Deutschland gegenwärtig nicht arbeiten dürfe. Das einzige was sich änderte, war der Tonfall des Sachverständigen, der nun einen deutlich genervten Klang bekam.

Der Vorsitzende zog die Befragung nun wieder an sich und begann mit einem längeren Monolog, dessen Kernaussage sich ungefähr wie folgt zusammenfassen lässt: Aufgrund seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung könne er schon aufgrund der Herkunft des Angeklagten mit Gewissheit sagen, dass Gewalt gegen die trennungswillige Ehefrau nicht Ausdruck einer psychischen Störung, sondern sozialadäquates Verhalten sei. In der Levante würden alle Männer, egal welcher ethnischen Herkunft und welches Glaubens, Christen, Juden, Muslime und Jesiden, ihre Ehefrauen züchtigen, wenn diese sich ihnen widersetzen. Ich wusste kaum noch, wo ich hinschauen sollte…

Gewalt als sozialadäquates Verhalten?

Erwartungsgemäß blieb der Sachverständige bei seiner Einschätzung und wir hatten ein Problem: wer schon einmal versucht hat, in einem Urteil von der Einschätzung des Sachverständigen unter Berufung auf eigene Sachkunde abzuweichen, wird im Regelfall keine Lust verspüren, derartiges zu wiederholen. Also verständigten wir uns darauf, die Oberärztin zu befragen, die in der Maßregelvollzugseinrichtung für den Angeklagten zuständig war. Auch der Sachverständige war von dieser Entscheidung angetan, zumindest behauptete er das.

Am nächsten Hauptverhandlungstag erschien diese Oberärztin und nahm im Zeugenstand Platz. Der Vorsitzende bat sie, der Verlauf der einstweiligen Unterbringung zu schildern und die aktuelle Diagnose mitzuteilen. Die Oberärztin berichtete über ein völlig unauffälliges Verhalten des Angeklagten über die letzte viereinhalb Monate hinweg, eine psychiatrische Diagnose sei aus ihrer Sicht nicht zu stellen. Von einer Persönlichkeitsstörung könne keine Rede sein, die einstweilige Unterbringung sei aus ihrer Sicht eine Fehlentscheidung.

Der einzige im Saal, der Fragen an die Zeugin stellte, was der psychiatrische Sachverständige, der im Anschluss mit schneidender Stimme erklärte, er bleibe bei seiner Einschätzung und anschließend schnaubend den Sitzungssaal verließ. Danach ging das Verfahren schnell und ruhig zu Ende. Der Angeklagte bekam eine Bewährungsstrafe, das Urteil wurde von keiner Seite angegriffen.

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