Zeugenaussagen – irren ist menschlich!

„Herr Subatzus, eines muss ich Ihnen sagen: Der Zeugenbeweis gehört abgeschafft!“ – so sprach vor mittlerweile über 10 Jahren ein seinerzeit bereits pensionierter Vorsitzender Richter am Landgericht zu mir. Und der Mann meinte es ernst: wann immer in seiner Zivilkammer eine Zeugenvernehmung unumgänglich wurde, wurde die Sache auf den Einzelrichter übertragen: „Den Unfug müssen wir uns nicht auch noch zu Dritt anhören!“ Es war übrigens derselbe, der von den „alten Zeiten“ schwärmte, als Richter und Anwälte sich angeblich ab 15 Uhr auf dem Tennisplatz trafen und Vergleiche beim anschließenden Bier im Clubheim geschlossen wurden…

Erinnerung verblasst durch Zeitablauf!

Dass der Zeugenbeweis abgeschafft wird, werden wir wohl nicht mehr erleben, denn bis alle Menschen mit einer Art „blackbox“ herumlaufen, die unser Denken und Handeln aufzeichnet und bei Bedarf ausgelesen werden kann, wird es hoffentlich noch ein paar Jahrhunderte dauern. Und bis dahin werden wir alle, egal ob Staatsanwalt, Richter oder Rechtsanwalt, auch mit den Unzulänglichkeiten dieses Beweismittels leben müssen. Wichtig ist jedoch, dass wir sie uns alle immer wieder ins Gedächtsnis rufen!

Ich hatte kürzlich en passant von einem Verfahren berichtet, bei dem zwei jungen Männern vorgeworfen worden war, in Lüneburg auf eine Personengruppe geschossen und einen Mann durch zwei Treffer verletzt zu haben. Das Ergebnis der Beweisaufnahme lässt sich – leicht vereinfacht – in etwa so zusammenfassen: Einer der beiden Angeklagten war der Fahrer eines PKW, von dem aus oder aus dessen Nähe in schneller Folge die Schüsse abgegeben worden waren. Im PKW fanden sich insbesondere am Dachhimmel der Beifahrerseite zahlreiche Schmauchspuren, also Partikel, die im Zündsatz von Pistolenmunition vorkommen. Ebenfalls auf der Beifahrerseite fand man 11 Patronenhülsen im Kaliber 9mm Luger, von denen ein Sachverständiger feststellen konnte, dass sie alle aus derselben Selbstladepistole verfeuert worden waren. Die im Rücken und im Bein des Opfers gefundenen Geschossteile wiederum passten zu diesen Hülsen. Auf der Fahrerseite gab es keine Hülsen und nur ein einziges kleines Schmauchteilchen. Wer der Beifahrer gewesen war, ließ sich nicht feststellen, der zweite Angeklagte hatte ein Alibi. Zwei Zeuginnen berichteten uns, ein ehemaliger Freund habe ihnen gegenüber wiederholt behauptet, er habe die Schüsse abgegeben, und sich darüber amüsiert, dass die falschen Männer angeklagt seien. Dieser Freund wiederum war nicht angeklagt und berief sich als Zeuge auf sein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO. Klingt eindeutig, oder?

Wer mit einer Waffe bedroht wird, erinnert selten das Gericht des Täters!

Damit es nicht zu einfach wurde, gab es ja noch die „Opferzeugen“, also die Mitglieder jener Personengruppe, auf die oder in deren Richtung geschossen worden war. Bei ihren Aussagen mischten sich offensichtliche Belastungstenden – Anlass der Auseinadersetzung waren angeblich Drogengeschäfte, mit denen natürlich niemand etwas zu tun haben wollte – und Erinnerungsdefizite. Manche wollten nur Schüsse aus der Fahrerseite gesehen haben, andere Schüsse aus Fahrer- und Beifahrerseite. Manche meinten, der Fahrer habe eine Waffe aus dem Fenster gehalten, geschossen habe aber möglicherweise nur der Beifahrer, andere erinnerten über ein Jahr nach der Tat eine Pistole, die sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach der Tat nicht erwähnt hatten. Kurz, es ging munter drunter und drüber. Damit wir uns nicht falsch verstehen: so lustig, wie es in dieser Zusammenfassung möglicherweise klingt, war die Sache keineswegs. Eine Schießerei auf offener Straße mit 11 Schüssen aus einer 9mm-Pistole ist eine ernste und hochgefährliche Angelegenheit, für die mir persönlich der Humor fehlt. Und natürlich mühten wir uns an den Zeugen ab, machten ihnen Vorhaltungen, ermahnten Sie wiederholt zur Wahrheit – vergebens. Ich will nicht verhehlen, dass es für meine Kollegen und mich bisweilen frustrierend ist, wenn sie die Suche nach der Wahrheit als mission impossible herausstellt. In diesem Fall aber war das Scheitern sozuagen vorprogrammiert, denn aufgrund der Umstände – Dunkelheit, Überausschungsmoment, Schnelligkeit des Ablaufs – war mit belastbaren Zeugenaussagen von Anfang an nicht zu rechnen. Warum? Sehen Sie sich diesen Beitrag an, bevor sie weiterlesen!

Zeugenaussagen – irren ist menschlich!

Willkommen zurück! WIe haben Ihnen die Versuche gefallen? Der mit der jungen Frau, die nach dem Weg fragt: Oranges Oberteil? Weißes Blüschen mit blauen Blümchen? Offene Haare?
Dann der „Überfall“: die Zeugen stehen bzw. sitzen nach der „Tat“ zusammen und reden offenbar über den Vorfall, tauschen Erinnerungen aus und ergänzen sie. Ganz wie im echten Leben. Mit „echten“, d.h. unverfälschten Erinnerungen braucht man nach diesem Austausch nicht mehr zu rechnen. Trotzdem ergeben sich fast 30 Jahre Unterschied bei der Altersschätzung. In der Hauptverhandlung heißt es dann später in 9 von 10 Fällen: „Ich habe mich mit niemandem darüber unterhalten. Warum sollte ich?“
Interesant auch der Gedächtnisforscher Hans Markovic, der meint, etwa die Hälfte aller Aussagen vor Gericht sei weit von der Wahrheit entfernt und das auch erklärt. „Stresshormone überschwemmen das Gehirn und führen dazu, dass man auch seine Wahrnehmung sehr eng ausrichtet, und alles in der Peripherie wird mehr oder weniger ausgeblendet, das bedeutet, dass unter Stress Wahrnehmung häufig sehr eingeschränkt ist.“ Das leuchtet mir ein und erklärt zwanglos das oben geschilderte Durcheinander bei den „Opferzeugen“. Und schließlich die „Wiedererkennung“ – ja, ich weiß, das war keine sequentielle Wahllichtbildvorlage nach RiStBV Nr. 18, das war halt für’s Fernsehen. Trotzdem beeindruckend, oder? Jeder zweite „Wiedererkenner“ lag falsch!

Sie wollen mehr? Wie wäre es mit diesem Beitrag aus der ARD-Reihe „Quarks“? Oder mit diesem Spiegel-Artikel? Für Fans des Privatfernsehens hätte ich noch etwas von Pro7 aus der Reihe Galileo.

Und was folgt nun daraus für die gerichtliche Praxis? Zeugenaussagen, die nicht durch objektive Indizien (Spuren, Videoaufzeichnungen etc.) bestätigt werden, muss man mit großer Vorsicht begegnen. Das gilt für Verkehrsunfälle, für Wirtshausschlägereien und natürlich auch für Schwurgerichtsverfahren. Als Staatsanwalt muss man sich schon im Ermittlungsverfahren mit der Frage befassen, wie Zeugenaussagen zustande gekommen sind und welchen Beweiswert sie haben. Einfach nur den Akteninhalt kopieren, einfügen und „wesentliches Ergebnis der Ermittlungen“ draufschreiben ist zu wenig – das könnte auch die Polizei!
Für Richterinnen und Richter heißt es immer auf’s Neue: fragen, nachhaken und sich immer darüber im Klaren sein, dass viele Zeugen absichtlich oder (vermutlich häufiger) unabsichtlich dummes Zeug erzählen. Sich darüber zu ärgern, bringt die Wahrheitsfindung auch nicht voran!
Und für Verteidiger gilt: machen Sie in geeigneten Fällen darauf aufmerksam, dass schon aufgrund der äußeren Umstände durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit von Zeugenaussagen bestehen. Versuchen Sie, gerade Schöffen sowie junge Richter und Staatsanwälte für das Thema „Fehleranfälligkeit von Zeugenaussagen“ zu sensibilisieren.

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