Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“? Stellt der (nur) bedingte Tötungsorsatz einen Strafmilderungsgrund dar? Oder darf der direkte Tötungsvorsatz strafschärfend berücksichtigt werden? Diese Fragen stellen sich beim Totschlag (§ 212 StGB). Und zwar sowohl im Hinblick auf die Strafrahmenwahl (minder schwerer Fall gem. § 213 StGB?) als auch bei der eigentlichen Strafzumessung (§ 46 StGB)!

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Bis vor wenigen Jahren galt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung folgendes: „Hat das Tatgericht im Rahmen der Strafzumessung ausdrücklich strafschärfend gewertet, dass es dem Angeklagten unbedingt darauf angekommen sei, seine Ehefrau zu töten, und er nicht nur mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe, so verstößt dies gegen das Doppelverwertungsverbot gem. § 46 Abs. 3 StGB .“ (BGH, 10.01.2018, 1 StR 3/15). Der 2. Strafsenat, so heißt es bei Fischer (StGB 66. Auflage, § 212, Rn. 18a), habe „diese Rechtsprechung aufgebeben“. Das klingt auf den ersten Blick merkwürdig. Seit wann gibt ein Senat die Rechtsprechung der übrigen auf?

Zum Sachverhalt teilt die Entscheidung (BGH, 10.01.2018, 2 StR 150/15) mit: „Nach den Feststellungen des Schwurgerichts beschloss der 74 Jahre alte Angeklagte am 22. Oktober 2013, seine erheblich jüngere und Trennungsabsichten hegende Ehefrau zu töten. In Ausführung dieses Tatentschlusses griff er sie auf der Kellertreppe des gemeinsamen Wohnanwesens an und schlug ihr einen Gegenstand gegen den Kopf, wodurch sie zu Fall kam und die Kellertreppe hinabstürzte. Nunmehr ergriff der Angeklagte einen etwa 2,8 Kilogramm schweren Feuerlöscher und schlug damit in Tötungsabsicht mindestens fünf Mal wuchtig auf den Kopf seiner am Boden liegenden Ehefrau ein. Sie erlitt durch diese mehrfachen, massiven Gewalteinwirkungen multiple offene Schädel-Hirn-Verletzungen. Weitere stumpfe Gewalteinwirkungen gegen den Oberkörper des Tatopfers führten zu zahlreichen Rippenbrüchen, die zu einer mehrfachen Durchsetzung der Brusthöhle und zu Einblutungen in die Lunge führten. Die Ehefrau des Angeklagten verstarb aufgrund der erlittenen massiven Verletzungen innerhalb weniger Minuten.“

Das Schwurgericht des LG Köln hatte bei der Prüfung der Frage, ob die Tat als ein (sonst) minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne des § 213 StGB anzusehen ist, zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er „den Tod seiner Ehefrau absichtlich und zielgerichtet herbeiführen wollte“. Auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne hatte das Schwurgericht neben der brutalen Tatausführung strafschärfend „die Tatsache“ berücksichtigt, dass der Angeklagte seine Ehefrau „absichtlich getötet hat“.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs kam zu dem – zweifellos richtigen – Ergebnis, dass er das Urteil auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung wegen Verstoßes gegen das Doppelverwertungsverbot hätte aufheben müssen.

Ist Tötungsabsicht der gesetzliche „Normalfall“?

Weil er das – offenbar in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt – nicht wollte, leitete ein Anfrageverfahren gemäß § 132 Abs. 3 GVG ein, in dem er ankündigte entscheiden zu wollen, dass bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt die Feststellung von Tötungsabsicht zu Lasten des Angeklagten strafschärfend berücksichtigt werden kann. Zum Ergebnis dieser Anfrage teilt das Urteil (s.o.) mit: „Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben in ihren Antwortbeschlüssen mitgeteilt, dass sie der durch den Senat formulierten Anfrage, dass beim vorsätzlichen Tötungsdelikt die Feststellung von Tötungsabsicht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden könne, grundsätzlich zustimmen und entgegenstehende eigene Rechtsprechung aufgeben.“ Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten: direkter Tötungsvorsatz kann grundsätzlich im Rahmen einer Einzelfallprüfung als strafschärfender Umstand herangezogen werden!

Vielleicht doch ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot?

Im konkreten Fall („Feuerlöscher“) hätte sich meines Erachtens aber noch eine andere Frage gestellt, die der 2. Senat – möglicherweise im Überschwang der Gefühle angesichts des erfolgreichen Anfrageverfahrens – in seinem Urteil nicht thematisiert: Darf der direkte Tötungsvorsatz sowohl bei der Strafrahmenwahl (hier: Versagung eines minder schweren Falls) als auch bei der Strafzumessung im engeren SInne zum Nachteil der Angeklagten berücksichtigt werden?

Ich habe da gewisse Zweifel, um das vorsichtig auszudrücken, und denke dabei an eine Entscheidung des 5. Strafsenats (BGH, 12.05.2016, 5 StR 102/16): „Hingegen beanstandet der Generalbundesanwalt zurecht, dass das Landgericht die Vollendungsnähe und Gefährlichkeit des Versuchs, auf die es bereits zur Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB abgestellt hat, bei der konkreten Strafzumessung erneut herangezogen hat, indem es dort die durch die Verletzungen hervorgerufene akute Lebensgefahr strafschärfend berücksichtigt hat. Es verstößt gegen den Rechtsgedanken des § 46 Abs. 3 StGB, innerhalb des wegen der Erfolgsnähe nicht verschobenen Strafrahmens diese nochmals zu Lasten des Angeklagten zu gewichten.“

Ähnlich hat sich der 1. Strafsenat (BGH, 17.02.2016, 1 StR 12/16) geäußert: „Zwar mag die Wertung der Strafkammer rechtlich noch vertretbar sein, dem Angeklagten wegen der Nähe zur Tatvollendung eine Versuchsmilderung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB zu versagen. Soweit die Strafkammer vor dem Hintergrund dieser getroffenen Strafrahmenwahl allerdings zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Gesundheit der im Haus schlafenden Personen erheblich gefährdet gewesen sei, ist diese Erwägung nicht rechtsfehlerfrei. Das Landgericht lässt dabei unberücksichtigt, dass der Strafzumessung der – über § 21 StGB gemilderte – gesetzliche Normalstrafrahmen für eine vollendete Tatbegehung nach § 211 StGB zugrunde liegt. Innerhalb dieses Strafrahmens neuerlich die Erfolgsnähe aufgrund der erheblichen Gefährdung der im Haus schlafenden Personen und damit gerade ein bestimmendes Merkmal des Tatbestands zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen, ist mit § 46 Abs. 3 StGB unvereinbar.“

Der Tötungsvorsatz und die „Hemmschwellentheorie“

Mord und Totschlag sind sog. Vorsatzdelikte, d.h. Mörder und Totschläger kann nur derjenige sein, der bei Begehung der Tat mit Tötungsvorsatz gehandelt hat. Heutzutage hat Vorsatz mit planerischem Vorgehen nur am Rande etwas zu tun. Wer eine lange geplante Tat ausführt, handelt vorsätzlich. Aber auch ohne Planung, also spontan, kann man sowohl Mord als auch Totschlag begehen. Das war nicht immer so: nach dem Strafgesetzbuch von 1871 war Mörder, wer „die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat“, während der Totschläger „die Tödtung nicht mit Ueberlegung ausgeführt hat“. In beiden Fällen musste der Täter vorsätzlich gehandelt haben, ohne dass gesetzlich geregelt war, was dies voraussetzt.

In Deutschland unterscheiden Juristen drei Formen des Vorsatzes: wer sein Opfer töten will, handelt mit Tötungsabsicht („dolus directus 1. Grades“). Derjenige, der sicher davon ausgeht, dass sein Opfer versterben wird, aber kein Interesse an dessen Tod hat, handelt mit direktem Tötungsvorsatz („dolus directus 2. Grades“). Wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Wollenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein, handelt mit bedingtem Tötungsvorsatz („dolus eventualis“ – Eventualvorsatz) (BGH, 24.04.2019, 2 StR 377/18, zitiert nach juris). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.

Wichtig – und gerade in jüngster Zeit immer wieder Gegenstand von Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs – ist außerdem, dass der Vorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung vorliegen muss; fasst der Täter den Vorsatz erst später („dolus subsequens“), kommt eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht in Betracht. Dieser Umstand führte u.a. zur Aufhebung des Urteils im „Berliner Autoraserfall“. Der Bundesgerichtshof (BGH, 01.03.2018, 4 StR 399/17, NStZ 2018, 409) hatte erkannt: „Dass der Tötungsvorsatz ab einem Zeitpunkt vorlag, als die tödliche Kollision bereits nicht mehr zu verhindern war, ist für die Annahme eines vorsätzlichen Tötungsdelikts rechtlich bedeutungslos.“

In der Praxis spielen fast nur die Tötungsabsicht und der Eventualvorsatz eine Rolle, wobei letzterer immer wieder Gegenstand leidenschaftlicher Argumentationen ist, vor allem, wenn das Opfer die Tat überlebt hat. Nicht selten weist die Verteidigung in derartigen Fällen als erstes auf das fehlende bzw. nicht sicher feststellbare Tötungsmotiv hin, was indes – selbst wenn sich das Gericht dieser Einschätzung anschließt – nur die Tötungsabsicht, nicht aber den bedingten Tötungsvorsatz entfallen lässt. Denn der Eventualvorsatz zeichnet sich gerade dadurch aus, dass dem Täter der Tod seines Opfers gleichgültig oder gar unerwünscht ist, ein Tötungsmotiv ist nicht erforderlich! Entscheidend für das Gericht ist die im Urteil ausführlich darzustellende „Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände“, d.h. die Persönlichkeit des Täters und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung müssen ebenso erwogen werden wie seine Motivation und nicht zuletzt die konkrete Angriffsweise, denn die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist ein wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes. Das bedeutet für die Praxis: je gefährlicher eine Tathandlung und je offensichtlicher die Gefahr eines tödlichen Ausgangs ist, desto eher wird bedingter Tötungsvorsatz anzunehmen sein. Ein Messerstich in den Hals oder in die Herzregion beispielsweise ist – auch medizinischen Laien bekannt – hochgefährlich. Nicht viel weniger gefährlich kann ein Stich in den Oberschenkel sein, wo ähnlich wie im Hals große Blutgefäße verlaufen, deren Verletzung binnen kurzer Zeit zu einem tödlichen Blutverlust führen kann. Dieses Wissen wird man indes bei vielen Tätern nicht voraussetzen können, denn im Fernsehen stirbt niemand an einem Stich ins Bein…

Eine „Hemmschwellentheorie“, die mitunter als letzter Strohhalm herhalten muss, um den auf der Hand liegenden bedingten Tötungsvorsatz doch noch irgendwie in Frage zu stellen, gibt es übrigens nicht. Was es gibt, ist eine Tötungshemmschwelle, die allerdings bei manchen Menschen offensichtlich nicht sonderlich stark ausgeprägt ist, hätte sie doch anderenfalls die lebensgefährliche Tathandlung unterbunden. Mit den Worten des Bundesgerichtshofs (BGH, 05.04.2018, 1 StR 67/18, NStZ-RR 2018, 371) ausgedrückt gilt: „Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf eine „für Tötungsdelikte deutlich höhere Hemmschwelle“ abgestellt worden ist, erschöpft sich dies in einem Hinweis auf die Bedeutung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) bezüglich der Überzeugungsbildung vom Vorliegen eines (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatzes. Der Bundesgerichtshof hat stets betont, dass durch den Aspekt der „Hemmschwelle“ die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges, auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen nicht in Frage gestellt oder relativiert werden solle.“