Traumberuf Richter?

Vor einiger Zeit habe ich Beiträge über die Einstellungsvoraussetzungen für den Richterdienst und zum Thema Einstiegsgehälter veröffentlicht. Beide sind auf reges Interesse gestoßen. Darüber hinaus interessieren sich Referendarinnen und Referendare – völlig zu Recht – zunehmend auch für Arbeitsbedingungen, Aufstiegsmöglichkeiten und die viel beschworene „work-life-balance“. Traumberuf Richter? Die Antwort hängt davon ab, wovon man bzw. frau träumt!

Traumberuf Richter?

Fakt ist: der Richterberuf verlangt gerade jungen Kolleginnen und Kollegen manches ab – vor allem Geduld und Nervenstärke. Denn die „Probezeit“ dauert nicht etwa wie bei einem Arbeitsverhältnis 6 Monate, sondern mehrere Jahre. Zum „Richter auf Lebenszeit“ kann gemäß § 10 Abs. 1 DRiG ernannt werden, „wer nach Erwerb der Befähigung zum Richteramt mindestens drei Jahre im richterlichen Dienst tätig gewesen ist.“ Auf diese Zeit kann gemäß § 10 Abs. 2 DRiG u.a. eine Tätigkeit als Rechtsanwalt angerechnet werden, wobei die Betonung auf „kann“ liegt.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Arbeitstag als Richter. Es war der 1. Dezember 2008, und zufällig war an diesem Tag eine Versammlung der Proberichter und Proberichterinnen des Landgerichtsbezirks Lüneburg anberaumt. Die damalige Präsidentin, eine sehr resolute Dame, sprach einige einführende Worte. Im Anschluss daran meldete sich ein junger Kollege, dem offensichtlich dieselbe Frage auf der Seele brannte, wie mir. Er fragte, wie es sich denn mit dieser Anrechnungsmöglichkeit verhalte, schließlich sei er mehrere Jahre Rechtsanwalt gewesen. Das Lächeln auf dem Gesicht der Präsidentin verschwand schlagartig, ein energisches Kopfschütteln und der Satz „Sowas machen wir hier nicht!“ folgten. Ich war konsterniert. Glücklicherweise wusste ich damals noch nicht, dass meine Probezeit 4 Jahre dauern würde – natürlich wurde auch bei mir nicht ein einziger Tag meiner fast 5-jährigen Anwaltstätigkeit angerechnet.
Aber 4 Jahre müssen beileibe nicht das Maximum sein. § 12 Abs. 2 DRiG regelt: „Spätestens fünf Jahre nach seiner Ernennung ist der Richter auf Probe zum Richter auf Lebenszeit oder unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Staatsanwalt zu ernennen.“ 3 bis 5 Jahre Probezeit also – wenn das nichts ist!

Richter: Traumberuf mit mehrjähriger Probezeit!

Hinzu kommt: während dieser Probezeit wird der Proberichter bzw. die Proberichterin – jedenfalls in Niedersachsen – immer wieder, mitunter auch kurzfristig, innerhalb des Landgerichtsbezirks versetzt. Und so ein Landgerichtsbezirk ist groß. Zu „meinem“ gehören die Amtsgerichte in Lüneburg, Winsen (Luhe), Dannenberg (Elbe), Soltau und Celle. Die Entfernung zwischen Lüneburg und Celle beträgt gut 90 Kilometer, die Fahrzeit mit dem Auto dementsprechend rund 1,5 Stunden. Wohnt man bzw. frau gar in Hamburg, verlängert sich die Entfernung zum Dienstort Celle auf rund 120 Kilometer. Nein, einen „Firmenwagen“ gibt es selbstverständlich nicht. In Sachen Klimaschutz ist die Justiz schon lange ein Vorbild!

Die erste Station der, von manchen älteren Kollegen spöttisch als „Kinderlandverschickung“ bezeichneten, Proberichterzeit ist häufig eine Zivilkammer beim Landgericht. Es folgen eine Tätigkeit beim Amtsgericht und eine weitere bei der Staatsanwaltschaft – jeweils rund 12 Monate lang, bei der Staatsanwaltschaft gerne auch deutlich länger. Vor allem der „Absturz“ vom selbständig agierenden Amtsrichter zum weisungsgebundenen Staatsanwalt, der sich erst sein „kleines“ und später dann sein „großes Zeichnungsrecht“ erarbeiten muss, sorgt nicht selten für Kopfschmerzen und schlechte Laune. Linderung verspricht die Aussicht auf die irgendwann anstehende „Verplanung“, also die Ernennung zum Richter bzw. zur Richterin auf Lebenszeit. Aber: eine passende Planstelle zu ergattern, ist gar nicht so einfach. Natürlich gibt es Menschen, die sich in Dannenberg, Soltau oder Celle wohlfühlen und sich vorstellen können, dort nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu leben. Erfahrungsgemäß trifft dass aber nicht auf jede(n) zu. Also pendeln viele Kollegen und Kolleginnen auch nach ihrer Ernennung auf Lebenszeit jahrelang täglich von Hamburg nach Lüneburg, von Lüneburg nach Uelzen, von Winsen nach Dannenberg usw.

Zum Thema „Aufstiegsmöglichkeiten“ ist zu sagen, dass man sich auch in der Justiz durchaus „hocharbeiten“ kann. Allerdings ist das deutlich schwieriger und auch weniger lukrativ als in der freien Wirtschaft. Der Flaschenhals für diejenigen, die sich für höhere Aufgaben bewerben wollen, ist die sog. „Erprobung“, eine sechsmonatige Abordnung an das Oberlandesgericht. Über den Zeitpunkt und die Reihenfolge der Erprobung wacht u.a. der Richterrat, was zur Folge hat, dass eine bestimmte Reihenfolge („Wer ist als Nächste(r) dran“?) eingehalten wird. Einfach mal karrieremäßig Gas geben und langsamere Kollegen rechts überholen, kann man also vergessen. Hat man die Erprobung erfolgreich hinter sich gebracht, kann man sich auf Beförderungsstellen bewerben. Indes: finanziell sind die Unterschiede zwischen den Besoldungsgruppen R1 (z.B. als Richter am Amtsgericht oder als Richterin am Landgericht) und R2 (z.B. Vorsitzender Richter am Landgericht oder Richterin am Oberlandesgericht) überschaubar – wir reden in Niedersachsen über eine Differenz von rund 600 € brutto im Monat! Ob sich das lohnt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Wechsel zu einem vom Wohnort weit entfernten Gericht wird angesichts steigender Fahrtkosten jedenfalls rasch zum Nullsummenspiel.

Richter: Traumberuf mit eingeschränkten Aufstiegsmöglichkeiten!

Über die Frage der „work-life-balance“ will ich mich an dieser Stelle nur kurz verhalten, denn das Thema ist sensibel. Richterinnen und Richter haben keine festen wöchentlichen Arbeitszeiten, sondern sind kraft Geschäftsverteilungsplan für bestimmte Verfahren zuständig. Dementsprechend hängt viel von einer halbwegs gerechten „Binnenverteilung“ ab, und noch mehr von der persönlichen Arbeitsweise und Arbeitsgeschwindigkeit. Ich für meinen Teil kann mich mittlerweile nicht mehr beklagen. In meinen ersten Jahren als Proberichter und auch als „frisch verplanter“ Richter hatte ich allerdings teilweise auch Arbeitszeiten im Grenzbereich dessen, was das Arbeitszeitgesetz für Arbeitnehmer zulässt.

Nach alledem fragen Sie sich jetzt vielleicht, warum ich eigentlich Richter geworden und es noch immer gerne bin? Ganz einfach, ich liebe die Aufgabe, gerechte Entscheidungen zu treffen. Und ich bin gerne unabhängig. Lassen sie mich das erklären: gemäß Art. 97 Abs. 1 GG und § 25 DRiG ist der Richter „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“. Das bedeutet, dass ich als Richter, soweit es die Rechtsfindung betrifft, weisungsfrei bin. Welche Fälle ich zu bearbeiten habe, regelt der Geschäftsverteilungsplan. Wie ich sie zu bearbeiten habe, ergibt sich aus dem Gesetz. Einen Vorgesetzten, der mir Arbeit zuweist und mir Vorgaben macht, wie und bis wann ich sie zu erledigen habe, gibt es nicht. Vor allem kann mir niemand vorschreiben, wie ich einen Fall zu entscheiden habe. Das ist völlig anders als bei Arbeitnehmern, wie z.B. angestellten Rechtsanwälten oder Unternehmensjuristen, die dem sog. Weisungsrecht nach § 106 GewO unterliegen und damit „Befehlsempfänger“ sind.

Traumberuf Richter: ich muss nicht nicht verar… lassen!

Zur Unabhängigkeit im weitere Sinne gehört auch, dass ich – anders als etwa ein Rechtsanwalt – nicht auf das Wohlwollen meiner Kunden angewiesen bin. Ein Rechtsanwalt, der seinem Mandanten nicht glaubt und das Gefühl hat, von diesem instrumentalisiert zu werden, hat ein Problem. Wenn er zu intensiv und zu kritisch nachfragt, läuft er Gefahr, das Mandat zu verlieren. Verzichtet er auf derartige Nachfragen, droht das böse Erwachen spätestens in der Beweisaufnahme vor Gericht. Beides habe ich in meiner Zeit als Rechtsanwalt mehr als einmal erlebt. Das war übrigens auch der ausschlaggebende Punkt für mich, den Beruf zu wechseln: ich hatte keine Lust mehr, mich von meinen eigenen Mandanten belügen zu lassen. Natürlich werde ich als Richter auch belogen, aber – und das macht den Unterschied – ich kann dem Lügner zumeist intensiv auf den Zahn fühlen, ohne mir über das Thema „Kundenzufriedenheit“ Gedanken machen zu müssen! 

Der zweite Aspekt, den ich am Richterberuf großartig finde: ich bin nicht nur Berater und Interessenvertreter, sondern Entscheider. Und das macht einen gewaltigen Unterschied! Als Rechtsanwalt kann man allenfalls versuchen, die Entscheidung im Sinne des Mandanten zu beeinflussen – manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg. Mitunter weiß man (oder glaubt man zu wissen), dass eine Entscheidung falsch ist, und kann doch nichts dagegen tun, z.B. weil der Mandant das Kostenrisiko eines Rechtsmittels scheut. Oder weil es kein Rechtsmittel mehr gibt. Als Richter dagegen höre ich mir die Argumente an und mache dann das, was ich nach reiflicher Überlegung für richtig halte. Wer damit nicht einverstanden ist, mag Rechtsmittel einlegen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: mit der Entscheidungsbefugnis geht natürlich ein erhebliches Maß an Verantwortung einher, und es gibt immer wieder Entscheidungen, die alles andere als einfach sind. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, warum ausgerechnet ich zur Entscheidung berufen bin. Dennoch meine ich, dass es für diejenigen, die wirklich an Gerechtigkeit interessiert sind, keine bessere Position gibt, als die des Entscheiders. Wer hingegen behauptet, er sei Rechtsanwalt geworden, um für Gerechtigkeit zu streiten, muss sich fragen lassen, ob die Betonung auf „Gerechtigkeit“ liegt oder vielleicht doch eher auf „streiten“. Oder fehlte es am Ende nur an den Einstellungsvoraussetzungen für den Richterberuf?

Traumberuf Richter: Elternzeit bei vollem Gehalt gibt’s leider nur woanders!

Schließlich will ich auch nicht verhehlen, dass man als Richter bzw. Richterin auf Lebenszeit natürlich ein maximales Maß an Planungssicherheit hat. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist vergleichsweise gut. In finanzieller Hinsicht allerdings droht die Justiz auch diesbezüglich ins Hintertreffen zu geraten, wenn sich das Modell durchsetzt, von dem ich vor einigen Tagen bei SPIEGEL ONLINE gelesen habe. Im Kampf und hochqualifizierte Fachkräfte, so die Meldung, können die Angestellten von Hewlett Packard Enterprise (HPE) ab sofort eine sechsmonatige Elternzeit nehmen – bei voller Weiterbezahlung ihres Gehaltes! Der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wird mit den Worten zitiert: Fachkräfte sind heute viel knapper als im letzten Jahrzehnt. Es dauert inzwischen viel länger, offene Stellen zu besetzen. Und viel häufiger misslingt es.“ Damit meint er natürlich nur die IT-Branche und nicht die Justiz. Oder?

Die Urteilsabsetzungsfrist

„Iudex non calculat“ lautet ein alter römischrechtlicher Grundsatz. Frei übersetzt: der Richter rechnet nicht. Ursprünglich war damit gemeint, dass nicht die Zahl der Beweismittel den Ausschlag gegen soll, sondern deren Qualität. Das nennt man heutzutage Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Dass der Richter nicht rechnen können muss, wie manche Zivilrechtskollegen unter Hinweis auf § 319 ZPO mit einem Augenzwinkern behaupten, ist kein überlieferter Grundsatz und trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Im Gegenteil: Fehler bei der Berechnung der Urteilsabsetzungsfrist können für das Urteil tödlich sein!

Die Urteilsabsetzungsfrist – von wegen „iudex non calculat“!

Diese Erfahrung mussten unlängst die Kollegen Landgerichts Hamburg machen, denen der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.11.2019, 5 StR 542/19) in einer Schwurgerichtssache ein „sehr sorgfältig begründetes Urteil“ bescheinigte. Allein: es war zu spät, nämlich erst einen Tag nach Ablauf der Absetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO unterschrieben und zur Akte gebracht worden. Die Urteilsverkündugng war am Montag, den 3. Juni 2019 gewesen, die in diesem Fall neunwöchige Absetzungsfrist hätte am Montag, den 5. August 2019, geendet. An einem „nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand“, der eine Fristüberschreitung ausnahmsweise gerechtfertigt hätte, fehlte es. Die Kammer hatte sich schlicht über das Datum des Fristablaufs geirrt, mit der Folge, dass das ansonsten offenbar handwerklich gut gemachte Urteil komplett aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wurde!

Wichtig für Verteidiger: eine zulässig erhobene Verspätungsrüge setzt gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO voraus, dass das Datum der Urteilsverkündung, die Zahl der Hauptverhandlungstage, der Fristablauf und der Zeitpunkt, an dem das Urteil zu den Akten gelangt ist, vorgetragen werden!

548 Seiten Urteil und eine Totalaufhebung

Ein Eingehungsbetrug, 104 Hauptverhandlungstage über mehr als 3 Jahre, 548 Seiten Urteil und eine Totalaufhebung – so lässt sich eine kürzlich veröffentlichte Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.10.2019, 4 StR 37/19) zusammenfassen.

Wie schreibt man ein Urteil (besser nicht)?

Anlass für die durchaus instruktiven Ausführungen des Senats zur Frage „Wie schreibt man ein Urteil (besser nicht)?“ war ein Urteil des Landgerichts Kaiserslautern, für das die Bundesrichter wenig schmeichelhafte Worte fanden. Um mich nicht dem Vorwurf der Besserwisserei oder gar der Kollegenschelte auszusetzen, will ich mich auf die kommentarlose Wiedergabe eines Auszuges beschränken: „Anhand der ausufernden Sachverhaltsdarstellung lässt sich diese rechtliche Wertung nicht nachvollziehen, da sich das Landgericht in der Mitteilung einer Fülle überflüssiger und für die Entscheidung gänzlich belangloser Einzelheiten verliert, weshalb die Identifikation der für den Schuldspruch maßgeblichen Tatsachen nicht mehr gelingt. Statt die Feststellungen zum Sachverhalt anhand der Merkmale des Betrugstatbestands zu entwickeln, hat sich das Landgericht, ohne eine tatbezogene Strukturierung vorzunehmen, darauf beschränkt, die Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung undifferenziert zu dokumentieren. Bestätigung findet dies nicht zuletzt darin, dass auch die Einlassung des Angeklagten auf 89 Seiten wiedergegeben wird. [..] Dem Verständnis und der Lesbarkeit des Urteils gänzlich abträglich ist zudem die den Fließtext zur Sachverhaltsdarstellung fortlaufend unterbrechende Fülle von insgesamt etwa 200 einkopierten Schriftstücken, Abbildungen u.a., deren Bedeutung für den Schuldspruch ebenfalls nicht erkennbar ist. Insbesondere bleibt aufgrund der gewählten collageartig anmutenden Sachverhaltsdarstellung unklar, ob oder inwieweit die in die Sachverhaltsdarstellung einkopierten Schriftstücke ihrem Inhalt nach festgestellt sein sollen oder ob sie nur der Beweiswürdigung dienen.“

Insbesondere jungen Kolleginnen und Kollegen, die sich an das Abfassen von Strafurteilen erst herantasten, sei die Entscheidung zur Lektüre empfohlen!

Der „niedrige Beweggrund“ und die Hinweispflicht

Wenn die Verurteilung auf das schon in der Anklageschrift angenommene Mordmerkmal gestützt werden soll, sich jedoch die Tatsachengrundlage, die dieses nach Auffassung des Gerichts ausfüllt, gegenüber derjenigen ändert, von der die Anklage ausgegangen ist, ist der Angeklagte gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO auf diese Änderung der Sachlage hinzuweisen. Dieser Hinweis muss ihm vom Vorsitzenden erteilt und protokolliert werden. Anderenfalls droht dem Urteil die Aufhebung durch das Revisionsgericht.

Das Vorstehende klingt auf den ersten Blick einfach und einleuchtend. Stellen wir uns vor, dem Angeklagten würde ein Verdeckungsmord zur Last gelegt mit der Maßgabe, dass die zu verdeckende Tat eine Unterschlagung gewesen sei. Im Laufe der Beweisaufnahme käme das Gericht demgegenüber zu der Einschätzung, dass es ihm stattdessen um die Verdeckung einer Körperverletzung, also einer anderen Tat, gegangen wäre. Vermutlich würde niemand ernstlich daran zweifeln, dass eine Verurteilung einen vorherigen Hinweis gemäß § 265 StPO voraussetzt.

Wandeln wir den Fall ab: dem Angeklagten wird ein Mord aus niedrigen Beweggründen zur Last gelegt. Die Anklage geht davon aus, er habe mit der Tötung seiner ehemaligen Lebensgefährtin die Aufdeckung seiner Falschangaben im Sorgerechtsstreit sowie den ihm drohenden Verlust des durch die falschen Angaben erschlichenen gemeinsamen Sorgerechts für den gemeinsamen Sohn verhindern wollen. Zudem habe er der Getöteten jedes Recht abgesprochen, in Zukunft das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn auszuüben. In Abweichung hiervon legt das Schwurgericht in den Urteilsgründen als Beweggrund für die Tötung zugrunde, dass der Angeklagte den Verlust des Sorgerechts auch deshalb habe verhindern wollen, weil dies seine letzte Hoffnung, dem sich bereits abzeichnenden Strafvollzug zu entgehen, zunichtegemacht hätte.

Tatmotiv: Angst vor dem Verlust des Sorgerechts!

Sowohl nach der Anklage als auch nach den Urteilgründen geht es also darum, den drohenden Sorgerechtsverlust abzuwenden. Und dennoch hätte es hier – wie auch in obigem Fall – eines Hinweises gemäß § 265 StPO bedurft, denn nach Auffassung des 1. Strafsenats (BGH, 24.07.2019, 1 StR 185/19) weichen die angeklagten und die festgestellten Motive in diesem Fall „deutlich von einander ab“! Das sehen Sie anders? Dann lassen Sie sich vom BGH überzeugen: „Zwar geht das Urteil in gleicher Weise wie die Anklage davon aus, dass sich der Angeklagte mit der Tötung von K. das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn erhalten wollte. Eine Verbindung zwischen Tötungshandlung und der Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung oder einer günstigeren Strafvollstreckung in einem laufenden Strafverfahren gegen den Angeklagten wird in der Anklageschrift aber nicht hergestellt. Vielmehr wird erstmals in den Urteilsgründen als Grund für die Annahme niedriger Beweggründe darauf abgestellt, dass der Angeklagte die Tat beging, um gestützt auf das bestehende Sorgerecht dem Strafvollzug zu entgehen. Gerade aber deswegen, weil der Angeklagte das Leben der Getöteten derart geringgeschätzt habe, dass es aus seiner Sicht hinter seinen persönlichen Interessen habe zurücktreten müssen, hat das Landgericht die Beweggründe des Angeklagten für die Tötung als niedrig gewertet.“ Anders ausgedrückt: weil sich das Motiv (Strafvollzug vermeiden statt Ausübung des Sorgerechts durch die Mutter verhindern) für das Motiv (Sorgerechtsverlust vermeiden) geändert hat, wäre ein Hinweis gemäß  § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO erforderlich gewesen.

Genau hinschauen: stimmt das festgestellte Motiv mit dem angeklagten überein?

Finden Sie das überzeugend? Wenn Sie Strafverteidiger oder Strafverteidigerin sind, möglicherweise ja. Ein Revisionserfolg ist Balsam für die Seele und eine neue Hauptverhandlung gut für das irdische Fortkommen. Kleiner Test: stellen Sie sich vor, Sie hätten in diesem Fall ausnahmsweise die Nebenklage vertreten und müssten diese Entscheidung jetzt ihrer Mandantschaft erklären. Immer noch überzeugt? Na gut, solche Fragen sind unfair, und es ist letztlich ja auch egal: der BGH hat gesprochen, als Rechtsanwender haben wir uns darauf einzustellen.

Und das bedeutet, dass bei der Suche nach dem Motiv und den Beweggründen für das Motiv bereits bei der Staatsanwaltschaft allergrößte Sorgfalt an den Tag zu legen ist! Es reicht eben – entgegen einer noch immer verbreiteten Meinung – nicht aus, dass jede ernsthaft in Betracht kommende Motivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“ und damit die Voraussetzungen des niedrigen Beweggrundes auf jeden Fall erfüllt sind. Auch die Schwurgerichte werden sich in Vorbereitung der Eröffnungsentscheidung intensiv mit der Frage zu befassen haben, ob sich das angeklagte Motiv einschließlich der dahinterstehenden Beweggründe nach Durchführung der Beweisaufnahme voraussichtlich wirklich so darstellen wird, wie angeklagt. Hält das Gericht eine zumindest teilweise von der Anklage abweichende Motivation für möglich, so kommt bei unveränderter Zulassung der Anklage die Erteilung eines entsprechenden Hinweises im Eröffnungsbeschluss in Betracht, um § 265 StPO Genüge zu tun (Schneider in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage, § 207, Rn. 9).

Indes: da niemand hellsehen kann, wird es immer wieder Fälle geben, in denen sich die Motivation nach Durchführung der Beweisaufnahme überraschenderweise anders darstellt, als dies nach Aktenlage der Fall war. In einem solchen Fall führt schon bei kleinsten Abweichungen kein Weg an einem Hinweis nach § 265 StPO vorbei, will man nicht sehenden Auges eine zumindest teilweise Aufhebung des Urteils riskieren!