„Nur eine Frau“ – Ehrenmord, Blutrache & Co.

Am Mittwoch, den 29.01.2020 um 20:15 zeigt die ARD den Kinofilm „Nur eine Frau“ von Sherry Hormans, der – wenn auch in abgewandelter Form – vom gewaltsamend Tod der damals 23-jährigen Hatun Aynur Sürücü im Jahre 2005 erzählt. Die junge Frau hatte sich von ihrem Ehemann getrennt und sich mit ihren Eltern überworfen, woraufhin einer ihrer Brüder (damals 19 Jahre alt) sie an einer Bushaltestelle in Berlin erschoss. Es ging also nicht um Blutrache, sondern um eine sog. Ehrenmord.

In juristischer Hinsicht stellt sich in Fällen wie dem oben beschriebenen regelmäßig die Frage, ob und wie viele Mordmerkmal vorliegen. Wenn der Täter sein Opfer unter bewusster Ausnutzung des Überraschungsmoments tötet, liegt Heimtücke vor. Damit ist die Tat als Mord qualifiziert, der Täter ist gemäß § 211 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Damit hat es allerdings noch längst nicht sein Bewenden, denn wenn ein zweites Mordmerkmal hinzutritt, droht ihm noch schlimmeres Unheil, nämlich die Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“ im Sinne von § 57a StGB.

Das zweite Mordmerkmal, das regelmäßig in Betracht kommt, ist die Begehung der Tat aus „niedrigen Beweggründen“. Zur Erinnerung: „Beweggründe sind im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB niedrig, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verachtenswert sind.“ (BGH, 22.03.2017, NStZ 2018, 527). Geht man davon aus, dass der Bruder von Hatun Sürücü, um bei diesem Fall zu bleiben, sich um der Familienehre willen nicht nur berechtigt, sondern möglicherweise sogar verpflichtet fühlte, seine „ehrlose“ Schwester zu töten, stellt sich die Frage, aus wessen Sicht zu bestimmen ist, was „sittlich auf tiefster Stufe steht“. Klar ist: einen allgemein akzeptierten Konsens wird man vielen Fällen aufgrund der Heterogenität der Gesellschaft und der verschiedenen kulturellen und religiösen Prägungen und Vorstellungen nicht ermitteln können. Die „allgemeine sittliche Wertung“ übernehmen daher letztlich die Gerichte, in buchstäblich letzter Instanz der Bundesgerichtshof. Und der hat dazu unlängst (BGH, 28.11.2017, 5 StR 480/17, NStZ 2018, 92) wieder entschieden: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe zu entnehmen, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt . Vor diesem Hintergrund kann die Verwurzelung eines Täters in einem anderen Kulturkreis und in einer bestimmten Glaubensform nur ganz ausnahmsweise die Ablehnung der subjektiven Seite niedriger Beweggründe rechtfertigen.“ Damit ist klar: bei der Frage, was ein „niedriger Beweggrund“ ist, gibt es eine Art „bundesrepublikanische Leitkultur“, die sich am Grundgesetz (insbesondere der Menschenwürde, dem Recht auf Leben und der Gleichberechtigung von Mann und Frau) orientiert.

„Nur eine Frau“ – Ehrenmord, Blutrache & Co.

Vor diesem Hintergrund ist zu differenzieren: beruht die Tatmotivation (Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht) auf „einem (berechtigten) Gefühl erlittenen schweren Unrechts und entbehren sie damit nicht eines beachtlichen, jedenfalls einleuchtenden Grundes, spricht dies gegen eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation“. Ein Beispiel hierfür wäre die Tötung eines Mörders durch den Sohn des Opfers, sofern diesen bei Begehung seiner Tat der Tod seines Vaters noch erheblich belastet.

Wenn sich der Täter hingegen „seiner persönlichen Ehre und der Familienehre wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt“, steht sein Motiv in der Regel „sittlich auf tiefster Stufe“ (BGH, 10.01.2006, 5 StR 341/05, NStZ 2006, 286). Das ist bei „Ehrenmorden“ zum Nachteil von Frauen, die wie Hatun Sürücü nicht mehr wollen als ein selbst bestimmtes Leben zu führen, regelmäßig der Fall.

„In feindlicher Willensrichtung“ – alles aus Liebe?

Heimtückisch tötet, wer „in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt“. Was aber bedeutet „feindliche“ bzw. „feindselige“ Willensrichtung“? Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 19.06.2019, 5 StR 128/19, www.bundesgerichtshof.de) gibt Auskunft.

„Nach den Feststellungen des Schwurgerichts tötete der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 2018 seine schlafende Ehefrau, indem er ihr mit einem schweren Hammer neun wuchtige Schläge gegen den Kopf versetzte.“ Das klingt erstmal ziemlich heimtückisch, weil Schlafende – so der BGH seit rund 50 Jahren – regelmäßig „ihre Arglosigkeit mit in den Schlaf nehmen“.

Hammer gegen Kopf = in feindlicher Willensrichtung?

Das Landgericht Dresden fand dennoch einen Weg an der Rechtsfolge des § 211 StGBlebenslange Freiheitsstrafe – vorbei und verhängte eine Freiheitsstrafe von „nur“ 13 Jahren. Es argumentierte, der Angeklagte habe in dem Glauben getötet, zum Besten seines Opfers zu handeln. Damit fehle es an einer Tötung in feindlicher Willensrichtung und somit an der Heimtücke, der Angeklagte habe „nur“ einen Totschlag gem. § 212 StGB begangen. Einziges Tatmotiv des Angeklagten sei gewesen, seiner Ehefrau durch die Tötung ein Leben im finanziellen Ruin zu ersparen, insbesondere die für wahrscheinlich gehaltene Wohnungskündigung und die Sperrung des Stromanschlusses bei Wegfall seiner Einkünfte ohne Aussicht, eine neue Stellung zu erhalten. Andere – naheliegende – Möglichkeiten wie die Stellung eines erneuten Insolvenzantrages, den Gang zur Schuldnerberatung, verbunden mit einer weitgehenden Offenbarung der finanziellen Verhältnisse gegenüber seiner Ehefrau, habe er nicht ernsthaft erwogen, so das Landgericht.

Wie es dem Angeklagten und der Verteidigung gelungen ist, das Schwurgericht von einer derart altruistischen Motivation zu überzeugen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich war bei der Hauptverhandlung nicht zugegen. Belassen wir es dabei: die Feststellungen zu treffen, ist die ureigenste Aufgabe und Verantwortung des Tatrichters. Und dessen Schlussfolgerungen müssen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (BGH, 10.04.2019, 1 StR 646/18, zitiert nach juris).

Diesen Grundsätzen folgend hat der BGH die Feststellungen bestehen lassen. Zur Frage der feindlichen Willensrichtung ist er trotzdem anderer Auffassung als das Landgericht. Dazu heißt es im Urteil: „Einer heimtückischen Tötung kann die feindselige Willensrichtung […] grundsätzlich nur dann fehlen, wenn sie dem ausdrücklichen Willen des Getöteten entspricht oder – aufgrund einer objektiv nachvollziehbaren und anzuerkennenden Wertung – mit dem mutmaßlichen Willen des zu einer autonomen Entscheidung nicht fähigen Opfers geschieht. Ansonsten hat ein Schuldspruch wegen Mordes zu erfolgen. Anschließend ist zu prüfen, ob aufgrund ganz besonderer schuldmindernder Gesichtspunkte in Anwendung der Grundsätze der Entscheidung des Großen Senats ausnahmsweise eine Berücksichtigung des besonderen Tatmotivs auf der Rechtsfolgenseite geboten ist. Nach diesen Maßstäben und den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Schwurgerichts liegt nahe, dass der Angeklagte seine Ehefrau in feindseliger Willensrichtung und damit heimtückisch getötet hat. Trotz ihrer körperlichen und seelischen Gebrechen war die Getötete nach den Feststellungen des Landgerichts nicht derart beeinträchtigt, dass sie zu einer autonomen Willensbildung und -äußerung nicht mehr in der Lage gewesen wäre. Dass die Tötung – auch in dieser besonders brutalen Form – mit ihrer Einwilligung geschehen wäre, ist ebenfalls nicht festgestellt.“

Das bedeutet: wenn Sie erwägen, jemanden zu töten, weil Sie ihm oder ihr die mögliche Wiederwahl von Donald Trump, eine weitere Zweitliga-Saison des HSV oder die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit ersparen wollen, müssen Sie vorher grundsätzlich fragen, ob der oder die auf diese Weise Umsorgte das für eine gute Idee hält. Anderenfalls handeln sie zwar in tatsächlicher Hinsicht wohlmeinend, rechtlich hingegen in feindlicher Willensrichtung. Und: lassen sie sich das Einverständnis besser schriftlich geben, denn nicht jedes Schwurgericht ist bereit, alles zu glauben!

Zeitumstellung als Tötungsmotiv?

Im Ernst: gespannt sein darf man darauf, ob das neue Tatgericht und ihm ggfs. nachfolgend der BGH im vorliegenden Fall zur Anwendung der sog. „Rechtsfolgenlösung“ kommt, die beim Heimtückemord ausnahmsweise die Verhängung einer zeitigen anstelle der gesetzlich vorgesehen lebenslangen Freiheitsstrafe ermöglicht. Nach den Feststellungen, die ja aufrechterhalten worden sind, erscheint das durchaus möglich.

Wenn der Todesengel kommt…

Immer wieder berichtet die Presse über sog. „Todesengel“, also Männer oder Frauen, die als Angestellte von Kliniken oder Pflegheimen unheilbar kranke Patienten und Patientinnen getötet haben sollen. Häufig bleiben derartige Taten jahrelang unbemerkt, die Zahl der Getöteten ist hoch, die Dunkelziffer noch höher, das Entsetzen der Angehörigen und das Interesse der Öffentlichkeit gewaltig. Bleibt die Frage nach der rechtlichen Einordnung solcher Handlungen – Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder gar Mord (§ 211 StGB)?

Die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) setzt – nomen est omen – voraus, dass der Täter „durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden“ ist. Eigenmächtige Tötungen scheiden also von vorneherein aus. „Ernstlich “ im Sinne des Gesetzes ist ein Tötungsverlangen nur, wenn es auf fehlerfreier Willensbildung beruht. Der Bundesgerichtshof (14.09.2011, 2 StR 145/11, NStZ 2012, 85) verlangt: „Der seinen Tod verlangende Mensch muss dazu die Urteilskraft besitzen, um die Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses zu überblicken und abzuwägen. Dem entsprechend ist einem Tötungsverlangen die Anerkennung im Sinne des Privilegierungstatbestands für den Täter zu versagen, wenn das Opfer durch eine Erkrankung in seiner natürlichen Einsichts- und Willensfähigkeit beeinträchtigt war und es deshalb die Tragweite seines Entschlusses, sich töten zu lassen, nicht überblickte. Unbeachtlich ist aber auch ein Tötungsverlangen in depressiver Augenblicksstimmung, zumindest wenn es nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen wird.“ Nach diesen Grundsätzen wird bei vielen Getöteten ein rechtlich relevantes Tötungsverlangen ausscheiden.

Wo es an einem ernstlichen Tötungsverlangen fehlt – sei es, dass überhaupt kein derartiges Verlangen geäußert worden ist oder dass der Getötete nicht mehr die erforderliche Einsichts- und Willensfähigkeit hatte – kommt eine Strafbarkeit wegen Totschlags (§ 212) oder Mordes (§ 211) in Betracht. Da die Getöteten zumeist nicht wissen, dass Ihnen durch die heimliche Gabe eines falschen oder zu hoch dosierten Medikaments der Tod bevorsteht, kommt das Mordmerkmal der Heimtücke in Betracht. Soweit es sich um bettlägerige oder sonst in ihren körperlichen und/oder geistigen Fähigkeiten erheblich eingeschränkte Opfer handelt, die per se wehrlos sind, stellt die Rechtsprechung beim Tatbestandsmerkmal der „auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit“ auf die Arglosigkeit des sog. „schutzbereiten Dritten“ ab. Mit den Worten des BGH (03.04.2008, 5 StR 525/07, StV 2009, 524) ausgedrückt: „Schutzbereiter Dritter ist jede Person, die den Schutz eines Besinnungslosen vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder es deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut. Voraussetzung ist jedoch, dass die Person den Schutz wirksam erbringen kann, wofür eine gewisse räumliche Nähe und eine überschaubare Anzahl der ihrem Schutz anvertrauten Menschen erforderlich sind.“ Soweit, so klar.

Schwieriger wird es schon beim Tatbestandsmerkmal der „feindlichen Willensrichtung“, denn hier trennen sich die Spreu vom Weizen oder genauer: der Totschläger vom Mörder. Entscheidend ist laut BGH (a.aO.), ob der Täter seine „Vorstellung über Würde und Wert des Lebens eines sterbenden Menschen durchsetzen“ will (dann feindliche Willensrichtung und damit Heimtücke) oder ob er aus individuellem Mitleid mit den schwerkranken Patienten“ handelt (dann keine feindliche Willensrichtung und damit keine Heimtücke).

Ist ersteres der Fall, schließt sich die Frage an, ob die Motivation zugleich ein weiteres Mordmerkmal erfüllt, nämlich einen niedrigen Beweggrund darstellt, also „nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb – in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag – verachtenswert ist“. Allein der Wunsch bzw. die Anmaßung, „Gott gleich über Leben und Tod entscheiden zu wollen“ reicht hierfür nicht aus, denn das tut der Totschläger letztlich auch. Zur Selbstüberhöhung muss also noch etwas besonders verachtenswertes hinzutreten, z.B. dass fremdes Leben ohne Anlass (also ohne die unheilbare Erkrankung) als minderwertig betrachtet wird.

Im Ergebnis entscheidet also regelmäßig die vom Schwurgericht festzustellende Motivation über Mord und Totschlag und damit über lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe.

Die „Rechtsfolgenlösung“ – Mord ja, lebenslang nein?

Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“ So steht es in § 211 Abs. 1 StGB. Die lebenslange Freiheitstrafe ist vom Wortlaut des Gesetzes her also zwingend, anders als beim Totschlag (§§ 212, 213 StGB) kennt das Gesetz keinen „minder schweren Fall“, der die Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe ermöglichen würde. Natürlich gibt es auch beim Mord Milderungsmöglichkeiten, etwa wenn die Schuldfähigkeit des Täters bei Begehung der Tat gemäß § 21 StGB erheblich vermindert war oder wenn die Tat nur versucht wurde (§ 23 Abs. 2 StGB). Für den „Normfall“ aber gilt: Mord gibt lebenslang, d.h. eine Entlassung auf Bewährung ist selbst bei „guter Führung“ und „günstiger Sozialprogose“ frühestens nach 15 Jahren möglich (§ 57a StGB). In vielen Fällen erscheint diese Rechtsfolge durchaus angemessen. Aber es gibt hin und wieder Sachverhalte, bei denen die lebenslange Freiheitsstrafe nicht „passt“, weil sie insbesondere der Rolle des Opfers im dem Konflikt, der in der Tötung mündet, nicht gerecht wird.

Der Fall, der den Bundesgerichtshof in den 1980er Jahren dazu bewegte, sich die sog. „Rechtsfolgenlösung“ auszudenken, hatte sich in etwa wie folgt abgespielt: Der Onkel (und spätere Getötete) vergewaltigte mit vorgehaltener Pistole die Ehefrau seines Neffen (des späteren Mörders). Die Ehe zerbrach, der Neffe litt erheblich unter der Situation. Eines Tages traf er auf seinen Onkel, der sich mit seiner Tat brüstete und drohte, er werde auch ihn „vögeln“ und töten. Der Neffe besorgte sich ebenfalls eine Pistole, überraschte den Onkel beim Kartenspiel und erschoss ihn.

Der Große Senat für Strafsachen (BGH, 19.05.1981, GSSt 1/81, NJW 1981, 1965) entschied: „Die absolute Strafdrohung für Mord (§ 211 Abs. 1 StGB) schließt Zumessungserwägungen aus. Die verfassungskonforme Rechtsanwendung gebietet ihre Ersetzung durch einen für solche Erwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungsweise mit Entlastungsmomenten zusammentrifft, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheint. Allerdings kann nicht jeder Entlastungsfaktor, der nach § 213 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles zu führen vermag, genügen. § 213 StGB ist dem Tatbestand des Totschlags zugeordnet. Deshalb und weil nach dieser Vorschrift eine Privilegierung verhältnismäßig leicht zu erreichen ist, kann ihr nicht der passende Maßstab entnommen werden. Vielmehr kann das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, daß jener „Grenzfall“ eintritt, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich geminderter Schuld unverhältnismäßig wäre. Eine abschließende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden außergewöhnlichen Umstände ist nicht möglich. Durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motivierte, in großer Verzweiflung begangene, aus tiefem Mitleid oder aus „gerechtem Zorn“ auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten können solche Umstände aufweisen, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben.“

In derartigen Fällen, so die Rechtsprechung bis heute, tritt an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Geschaffen und anerkannt worden ist die „Rechtsfolgenlösung“ ausschließlich für das Mordmerkmal der Heimtücke, also der Tötung unter Ausnutzung des Überraschungsmoments. Eine Ausdehnung auf das Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ hat der BGH in einem sog. „Kannibalen-Fall“ (BGH, 21.02.2018, 5 StR 267/17) abgelehnt und dies wie folgt begründet: „Der Angeklagte handelte nicht aus einer außergewöhnlichen Notlage heraus; er befand sich auch nicht in einer den angeführten Beispielen entsprechenden notstandsnahen Bedrängnis. Vielmehr tötete er primär zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs. Dabei erwächst der gesteigerte Unwert der Tat aus dem groben Missverhältnis von Mittel und Zweck, indem der Täter das Leben eines anderen Menschen der Befriedigung eigener Geschlechtslust unterordnet. In einem solchen Fall ist die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nur dann unverhältnismäßig, wenn der (konkreten) Tat das Merkmal einer besonderen Verwerflichkeit nicht anhaftet. Dies ist hier nicht gegeben. Denn die vom Angeklagten erstrebte sexuelle Befriedigung bezog sich auf den Lustgewinn während des Zerstückelns der Leiche. Sie war damit in spezifischer Weise auf den Tötungsakt selbst bezogen. An der sich hierauf gründenden besonderen Verwerflichkeit der Tötung vermochte im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung auch der Wunsch des Tatopfers, getötet zu werden, nichts zu ändern. Ihm kommt daher eine besondere schuldmindernde Wirkung nicht zu. Das menschliche Leben steht in der Werteordnung des Grundgesetzes – ohne zulässige Relativierung – an oberster Stelle der zu schützenden Rechtsgüter. Hierdurch wird auch die sich aus § 126 StGB ergebene Einwilligungssperre legitimiert. Nur unter den engen – vom Landgericht rechtsfehlerfrei verneinten – Voraussetzungen dieser Vorschrift kann eine Einwilligung bei einer vorsätzlichen Tötung eines Menschen Bedeutung erlangen und die Tat in einem milderen Licht erscheinen lassen. Ein Absehen von der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kommt mithin vorliegend nicht in Betracht. An die Stelle der vom Landgericht für den Mord verhängten Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten tritt daher lebenslange Freiheitsstrafe, auf die der Senat gemäß § 354 Abs. 1 StPO erkannt hat.“

Heimtücke erfordert keine Heimlichkeit!

Das tatbezogene Merkmal der Heimtücke gehört zu den praxisrelevantesten Mordmerkmalen. Heimtückisch handelt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wer „in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt“. Wesentlich sei, so der BGH, „dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Dabei kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen“ (BGH, 10.07.2018, 3 StR 204/18, StrFo 2019, 38).

Anders ausgedrückt: heimtückisch töten heißt töten unter bewusster Ausnutzung des Überraschungsmoments. Und das ist in Fällen, in denen der Täter sein Opfer töten will, schon deshalb sehr häufig der Fall, weil ein Vorgehen ohne Ausnutzung des Überraschungseffekts zumeist kaum Aussicht auf Erfolg hat. Man stelle sich vor, der bewaffnete Täter, der seinen Nebenbuhler mit einem Messer zu töten gedenkt, würde diesem ausreichend Zeit und Gelegenheit geben, sich auf den bevorstehenden Angriff einzustellen. Was würde der Nebenbuhler wohl unternehmen? Je nach Temperament weglaufen, um Hilfe rufen oder sich ebenfalls bewaffnen. Eines aber würde er höchstwahrscheinlich nicht tun: sich allein und unbewaffnet auf einen Kampf einlassen.

Auch hier gilt natürlich, dass Ausnahmen die Regel bestätigen. Das Lüneburger Schwurgericht hatte vor einiger Zeit einen Fall zu entscheiden, in dem ein junger Mann mit einem Messer auf einen anderen Mann losgegangen war und diesen verletzt hatte. Die Besonderheit lag darin, dass der Angreifer das Messer schon zuvor über einen längeren Zeitraum hinweg mehrfach drohend eingesetzt hatte, der Geschädigte also genau um die Bewaffnung seines Gegenübers wusste. Auf die Frage, ob er nicht hätte weglaufen können, antwortete der Geschädigte: „Klar hätte ich das! Aber ich bin Albaner, ich laufe nicht weg!“ Da war es auch aus Sicht der Staatsanwaltschaft um den Vorwurf des Heimtückemordes geschehen…      

Natürlich kann der Täter das Mordmerkmal der Heimtücke auch dadurch erfüllen, dass er sein Opfer mit Tötungsvorsatz in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen. In derartigen – in der Praxis eher seltenen – Konstellationen kommt es entscheidend darauf an, dass die Vorkehrungen und Maßnahmen bei Ausführung der Tat noch fortwirken und das Opfer in seinen Verteidigungsmöglichkeiten einschränken. Dies ist vom Lüneburger Schwurgericht u.a. bejaht worden für die Tötung von Menschen in den Gaskammern von Auschwitz. Das Schwurgericht (27 Ks 9/14) hat seinerzeit ausgeführt: „Die Opfer wurden planmäßig mit Tötungsabsicht in einen Hinterhalt – die Gaskammer – gelockt, indem ihnen vorgespiegelt wurde, es gehe zum Duschen. Die Arglosigkeit der Opfer war den Tätern nicht nur bewusst, sondern nach dem Tatplan geradezu mitentscheidend für dessen erfolgreiche Umsetzung. Anschließend wurden die Türen von außen verriegelt, so dass die Opfer im wahrsten Sinne des Wortes in der Falle saßen. Mithin kommt es nicht entscheidend darauf an, ob einige von ihnen infolge des Verschließens der Türen möglicherweise Verdacht schöpften und bei Beginn der eigentlichen Tötungshandlung, dem Einwurf des „Zyklon B“, bereits einen Angriff auf ihr Leben befürchteten. Maßgeblich ist vielmehr die Arglosigkeit bei Betreten der Gaskammer.“ Der Bundesgerichtshof (BGH, 20.09.2016, 3 StR 49/16, NJW 2017, 498) hat dies bestätigt.