§ 217 StGB ist verfassungswidrig!

In den vergangenen Monaten ist das Thema Sterbehilfe/Suizidbegleitung juristisch in Bewegung gekommen. Nachdem zunächst der Bundesgerichtshof im Sommer vergangenen Jahres entschieden hatte, dass die Unterstützung und Begleitung einer frei- und eigenverantwortlichen Selbsttötung nach der bis zum 09.12.2015 geltenden Rechtslage nicht strafbar war, hat das Bundesverfassungsgericht am 26.02.2020 nachgelegt. Der seit dem 10.12.2015 geltende § 217 StGB ist verfassungswidrig, das Verbot der „Geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ ist nichtig!

Legitimes Ziel, falsche Herangehensweise: § 217 StGB ist verfassungswidrig!

Die Entscheidung des Bundverfassungsgerichts war seit langem mit Spannung erwartet worden, die Verfahren waren seit 2015 bzw. 2016 anhängig. Bereits im April 2019 hatten zwei mündliche Verhandlungstermine stattgefunden. Dass die Entscheidung erst jetzt gefallen ist, hängt damit zusammen, dass sich der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts sehr ausführlich mit der Materie beschäftigt hat. Wer die Entscheidung liest, findet die rechtshistorische Entwicklung vom römischen Recht über das Reichsstrafgesetzbuch von 1870, die Große Strafrechtskommission der 1950er Jahre, den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1970 sowie weitere Gesetzinitiativen aus den letzten Jahrzehnten. Dazu gibt es eine Darstellung der Rechtslage in anderen Staaten (Schweiz, Niederlanden, Belgien, Kanada und Oregon). Zahlreiche Stellungnahmen, u.a. des Deutschen Bundestages und der Bayerischen Landesregierung, des Kommissariats der deutschen Bischöfe, der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bundesärztekammer, des Marburger Bundes, des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe – Bundesverband e.V., der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e.V., der Deutschen PalliativStiftung, der Deutsche Stiftung Patientenschutz, des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes e.V. sowie der Humanistischen Union, des Humanistischen Verbandes Deutschland – Bundesverband e.V. und des Deutschen Anwaltsvereins e.V. wurden eingeholt und mehr als ein Dutzend „sachkundige Dritte“ vom Senat angehört, darunter Psychiater, Psychologen, Pharmakologen, Palliativmediziner, Pflegedirektoren und Leiter von Pflegeinrichtungen.

Gutes Recht braucht seine Zeit – in diesem Fall mehrere Jahre!

Die unter Berücksichtigung all dessen getroffene Entscheidung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folge ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches sowohl das Recht auf Selbsttötung umfasse als auch die Freiheit, sich bei der Selbsttötung von Dritten helfen zu lassen. Dieses Recht sei nicht auf bestimmte Situationen oder Zustände beschränkt, wie etwa schwere oder unheilbare Krankheitszustände. Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gem. § 217 StGB habe zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen „faktisch weitgehend entleert“ sei. Die daraus für sterbewillige Menschen folgende Belastung sei unangemessen, weil sie eine „vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung“ bedeute. Durch das in § 217 StGB geregelte Verbot sei der Entschluss zur Selbsttötung einem „unwiderleglichen Generalverdacht mangelnder Freiheit und Reflexion“ unterstellt. Dadurch werde „die verfassungsprägende Grundvorstellung des Menschen als eines in Freiheit zu Selbstbestimmung und Selbstentfaltung fähigen Wesens in ihr Gegenteil verkehrt“ – viel deutlicher kann man dem Gesetzgeber nicht die Leviten lesen.

Bedeutet das jetzt, dass Deutschland zu einem Paradies für Sterbewillige, gar die schwächelnde Autoindustrie durch eine boomende Sterbebegleitungsindustrie ersetzt wird? Höchstwahrscheinlich nicht, denn das der Gesetzgeber infolge der Entscheidung untätig bleibt, ist nicht zu erwarten. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung legitimen Gemeinwohlzwecken diene und ist auch geeignet sei, diese zu erreichen. Mit anderen Worten: auch das Bundesverfassungsgericht sieht die mit der Möglichkeit einer professionellen Suizidbegleitung verbundenen Probleme. Psychische Erkrankungen, unrealistische Vorstellungen und Ängste infolge unzureichender Aufklärung sowie die Gefahr sozialen Drucks sind nur einige von ihnen. Daten aus Oregon hätten ergeben, dass von den Personen, die im Jahr 2017 ärztlich assistierten Suizid begingen, 55,2 % als Grund ihrer Entscheidung die Sorge vor den Belastungen für ihre Familie, Freunde und Pfleger nannten – wahrlich ein Grund zur Sorge!

Depression, Angst, sozialer Druck oder autonome Entscheidung?

Wohl deshalb hat der Senat folgende „Segelanweisung“ formuliert: „Der Gesetzgeber darf […] einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen. Der Einzelne darf – auch jenseits konkreter Einflussnahmen durch Dritte – nicht der Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausgesetzt sein. Zwar kann Willensfreiheit nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst. Da der Schutz des Lebens dem Einzelnen von der Verfassung als nicht rechtfertigungsbedürftiger Selbstzweck zugesagt ist und er auf der unbedingten Anerkennung der Person in ihrer bloßen Existenz beruht, darf und muss der Gesetzgeber aber gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten von Seiten Dritter rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Entsprechend kann er Vorkehrungen treffen, dass Personen nicht in schweren Lebenslagen in die Situation gebracht werden, sich mit solchen Angeboten auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen.“