„Wenn das Mandat beendet ist, wird der Anwalt zum Problem!“

Mit diesem Satz und einem Augenzwinkern antwortete ein Freund von mir, seines Zeichens Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg, vor einiger Zeit auf die Frage nach der Zahlungsmoral seiner (Arbeitgeber-)Mandanten. Ich wusste sofort, was er meinte, schließlich war ich selbst fast 5 Jahre als Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht tätig gewesen, bevor ich mich für den Richterberuf entschied. Wenn es ums Bezahlen geht, machen sich meiner Erfahrung nach nicht selten gerade diejenigen Mandanten rar, die zuvor einen besonders hohen Beratungs- und Betreuungsbedarf hatten – und zwar unabhängig von ihren finanziellen Verhältnissen und ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Den mit der Betreibung seines Honorars verbundenen Unannehmlichkeiten kann der Rechtsanwalt ein Stück weit entgegenwirken, indem er von der in § 9 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, für die entstandenen und die voraussichtlich entstehenden Gebühren und Auslagen einen angemessenen Vorschuss zu fordern. Für die „Zivilisten“ ist das eine relativ einfache Sache.

Für den gerichtliche bestellten (Pflicht-)Verteidiger ist die Lage komplizierter. Für ihn gilt die Einschränkung, dass er nur von der Staatskasse einen Vorschuss verlangen kann und diesen wiederum auch nur für die bereits entstandenen Gebühren und die entstandenen und voraussichtlich entstehenden Auslagen, nicht aber für voraussichtlich entstehende Gebühren (§ 47 Abs. 1. S. 1 RVG). Hinzu kommt, dass die Gebühren für den gerichtlich bestellten oder beigeordneten Rechtsanwalt nach Teil 4 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV RVG) ohnehin nur 80% der sog. Mittelgebühr eines Wahlanwalts betragen.

Von seinem Mandanten darf der gerichtlich bestellte Verteidiger hingegen überhaupt keinen Vorschuss verlangen (§ 52 Abs. 1 S. 1 RVG) und – logischerweise – seine Tätigkeit auch nicht von einer Vorschusszahlung abhängig machen (Kroiß in Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 7. Auflage 2018, § 52 RVG Rn. 3).

Der gerichtlich bestellte Verteidiger ist allerdings nicht gehindert, mit seinem Mandanten eine freiwillige Vergütungsvereinbarung zu treffen, denn § 3a Abs. 3 RVG gilt nur die die Prozesskostenhilfe, nicht für die Pflichtverteidigerbestellung. Die Voraussetzungen für den Abschluss einer Vergütungsvereinbarung regelt § 3a Abs. 1 RVG wie folgt: „Eine Vereinbarung über die Vergütung bedarf der Textform. Sie muss als Vergütungsvereinbarung oder in vergleichbarer Weise bezeichnet werden, von anderen Vereinbarungen mit Ausnahme der Auftragserteilung deutlich abgesetzt sein und darf nicht in der Vollmacht enthalten sein. Sie hat einen Hinweis darauf zu enthalten, dass die gegnerische Partei, ein Verfahrensbeteiligter oder die Staatskasse im Falle der Kostenerstattung regelmäßig nicht mehr als die gesetzliche Vergütung erstatten muss.“ Diese formellen Voraussetzungen einzuhalten, bereitet in der Praxis kaum Probleme.

Schwieriger wird es beim Thema „Freiwilligkeit“ der Vergütungsvereinbarung. Insoweit gilt (BGH, 13.12.2018, IX ZR 216/17, AnwBl 2019, 167): „Da er kraft seiner Bestellung zur Übernahme der Verteidigung verpflichtet ist, darf der Pflichtverteidiger die Übernahme der Tätigkeit weder ausdrücklich noch mehr oder weniger verschleiert von dem Versprechen einer die gesetzlichen Gebühren übersteigenden Vergütung abhängig machen. Nur völlig freiwillige Angebote sind dem Pflichtverteidiger erlaubt (vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 8. Aufl., Rn. 1199). So kann es einen wichtigen Grund für die Rücknahme der Pflichtverteidigerbestellung darstellen, wenn der bestellte Anwalt auf den Abschluss einer die gesetzlichen Gebühren deutlich übersteigenden Honorarvereinbarung drängt und dabei zum Ausdruck bringt, ohne den Abschluss der Vereinbarung sei seine Motivation, für den Beschuldigten tätig zu werden, gemindert.“ Um die Freiwilligkeit zu gewährleisten, verlangt der BGH: „Ein zum Pflichtverteidiger bestellter Anwalt muss vor Abschluss einer Vergütungsvereinbarung einen eindeutigen Hinweis darauf erteilen, dass der Pflichtverteidiger auch ohne den Abschluss der Honorarvereinbarung zu weiterer Verteidigung verpflichtet ist (§§ 48, 49 BRAO). Unterlässt er einen solchen Hinweis, handelt er pflichtwidrig.“ Eine solche Pflichtwidrigkeit macht die Vergütungsvereinbarung laut Bundesgerichtshof zwar nicht unwirksam, begründet jedoch einen Schadensersatzanspruch des Mandanten aus § 280 Abs. 1 BGB und kann im Ergebnis dazu führen, dass der Verteidiger verpflichtet ist, bereits vereinnahmte Honorare, soweit sie die nach dem RVG geschuldeten Gebühren übersteigen, an den Mandanten zurückzuzahlen!

Ich finde es schon einigermaßen bemerkenswert, dass ein Rechtsanwalt – nach § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung immerhin ein „Organ der Rechtspflege“ – gehalten sein soll, seinen Mandanten ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass er sich an seine gesetzlichen Pflichten halten wird. Wie dem auch sei, wir lernen daraus: mit Hilfe des Bundesgerichtshofs kann auch der Mandant zum Problem werden, wenn das Mandat beendet ist!

Die politisch motivierte Tötung als niedriger Beweggrund

„Die Annahme des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe begegnet entgegen dem Revisionsvorbringen keinen Bedenken. Dabei kommt es auf Einzelheiten der Motivlage nicht entscheidend an: Ohne Rechtsfehler ist das Oberlandesgericht davon ausgegangen, dass der Ermordung ein politisches Motiv zugrunde lag. Jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG sind indes keine politischen Beweggründe zur Tötung eines Menschen denkbar, die sich nicht als niedrige Beweggründe im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB erweisen“ (BGH, 02.05.2018, 3 StR 355/17, NStZ 2019, 342). Mit diesen ebenso apodiktischen wie begründungslosen Worten zum Thema politisch motivierte Tötung hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision gegen ein Urteil des OLG München verworfen und ist hierfür u.a. von Engländer kritisiert worden.

Nicht zu Unrecht, denn die Entscheidung wirft die Frage auf, welche Beweggründe eigentlich politisch sind und welche nicht. Diese wiederum lässt sich nur beantworten, wenn geklärt ist, was „Politik“ bedeutet. Die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt: „Politik ist die „Staatskunst“. Sie regelt das geordnete Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger. Es geht in der Politik um alles, was mit Gestaltung und Einflussnahme in Gesellschaft zu tun hat, sowohl im persönlichen als auch im öffentlichen Bereich.“ Auf Wikipedia ist zu lesen: „Sehr allgemein kann jegliche Einflussnahme, Gestaltung und Durchsetzung von Forderungen und Zielen in privaten oder öffentlichen Bereichen als Politik bezeichnet werden.“  Das in der Schweiz beheimatete „Zentrum für Demokratie Aarau“ teilt mit: „Seit den frühen klassischen Politiklehren, beginnend mit Aristoteles, wird die Bestimmung von Politik immer wieder neu versucht. Doch ist bis heute keine wachsende Einigkeit über den Begriff von Politik erzielt worden. Ob Macht, Konflikt, Herrschaft, Ordnung, Gemeinwohl oder Friede die eigentliche Substanz von Politik seien, bleibt umstritten.“ Offenkundig lässt sich die Frage, was ein „politischer Beweggrund“ ist, also nicht ohne weiteres beantworten.

Für den Rechtsanwender ist umso bedauerlicher, dass der Senat von der Möglichkeit, diese Frage durch eine handhabbare juristische Definition zu klären, keinen Gebrauch gemacht hat. Ein Grund hierfür mag die Schwierigkeit des Unternehmens sein, ein anderer darin liegen, dass die Tatmotivation jedenfalls im Ergebnis eindeutig politischer Natur war, denn es ging letztlich um die (Macht-)Verhältnisse im früheren Jugoslawien. Zu deren Einordnung als „niedriger Beweggrund“ hat das OLG München ausgeführt: „Die Angeklagten sahen in S. D. einen Staatsfeind Jugoslawiens, der aus politischen Gründen liquidiert werden musste. Sie wollten als Mitarbeiter des kroatischen Geheimdienstes dadurch das sozialistische jugoslawische und kroatische Regime erhalten, das sich nach dem Tod von Staatspräsident Tito am 4. Mai 1980 in einer schweren Krise befand. S. D., der sich öffentlich gegen die dieser Gesellschaftsordnung zugrundeliegende Ideologie des Selbstverwaltungssozialismus stellte, sollte zum Schweigen gebracht werden. Er hatte sich bislang nicht als Terrorist betätigt. Anhaltspunkte dafür, dass er im Rahmen der politischen Auseinandersetzung zu gewalttätigen Mitteln greifen würde, lagen damals nicht vor. Etwaige Befürchtungen wegen seiner Kontakte zur Gruppe um L. K. in Augsburg waren allenfalls vorgeschoben, hatten aber keinen realen Hintergrund und lassen eine Tötung nicht in besserem Licht erscheinen. Das maßgebliche Motiv, einen Regimekritiker, der vom Ausland aus eine Selbstständigkeit Kroatiens vertritt und gegen den sozialistischen Staat Jugoslawien agitiert, deshalb zu töten, steht auf niedrigster Stufe. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Angeklagten überzeugt waren, zum Besten ihres Staates zu handeln. Auffassungen, die mit den Vorstellungen eines Rechtsstaates nicht vereinbar sind, können nicht in Betracht genommen werden.“

Diese Begründung liegt jedenfalls auf einer Linie mit der Rechtsprechung des BGH, der zufolge der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes „den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland“ zu entnehmen sei (BGH, 28.11.2017, 5 StR 480/17, NStZ 2018, 92) und nicht dem eines autoritären Regimes.

So lange es keine höchstrichterliche Definition des „politischen Beweggrundes“ gibt, mag man sich daran orientieren, dass mit den Worten von Engländer „eine Konzeption der Politik als entgrenztem Kampf mit allen Mitteln, die, wenn sie sich durchsetzte, in eine destruktive Anarchie oder gewalttätige Despotie münden müsste“, sittlich auf tieferster Stufe steht. Die politisch motivierte Tötung wird daher regelmäßig eine Verurteilung wegen Mordes zur Folge haben.

Die Unterbringung gemäß § 63 StGB – alles hat ein Ende!

Willkommen zu einem kleinen Ausflug ins Strafvollstreckungsrecht. In diesem Beitrag soll es um die Frage gehen, wann und unter welchen Umständen eine gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Person wieder auf freien Fuß kommen kann. Dass die Unterbringung grundsätzlich unbefristet ist und deshalb bisweilen etwas überspitzt als „das wahre Lebenslang“ bezeichnet wird, ist an anderer Stelle bereits erläutert worden.

Idealerweise endet die Unterbringung im Maßregelvollzug damit, dass die Maßregel nach erfolgreicher Behandlung gemäß § 67d Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt wird, weil zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Wenn dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelingt, stellt sich mit zunehmender Dauer der Unterbringung immer drängender die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Unterbringung, die in § 62 StGB ausdrücklich vorgeschrieben ist.

Mit dem „Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 8. Juli 2016 wollte der Gesetzgeber auf eine immer weiter steigende Zahl von Maßregelpatienten und eine immer längere durchschnittliche Verweildauer reagieren. Im Koalitionsvertrag war diesbezüglich vereinbart worden: „Wir reformieren das Recht der strafrechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern, indem wir insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker zur Wirkung verhelfen.“

Umgesetzt wurde dies durch eine Änderung von § 67d Abs. 6 StGB, der die Anforderungen an die vom Untergebrachten ausgehende Gefahr in zwei Schritten erhöht:

Dauert die Unterbringung 6 Jahre, ist ihre Fortdauer in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollen rein wirtschaftliche Schäden (die als Anlass für eine Unterbringung nach § 63 StGB vernünftigerweise ohnehin nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen) eine über die Dauer von 6 Jahren hinausgehende Fortdauer der Unterbringung in der Regel nicht rechtfertigen können. „Erheblich“ im Sine des Gesetzes sollen drohende Verbrechen sein sowie Vergehen, die mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind, einen hohen Schweregrad aufweisen und den Rechtsfrieden empfindlich stören. Bei reinen Körperverletzungsdelikten etwa soll der Schweregrad an den zu erwartenden Tatfolgen festgemacht werden können. Reine „Bagatellverletzungen“ wie Prellungen und Hämatome sollen nicht reichen, Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen hingegen schon. Die Negativformulierung „wenn nicht die Gefahr besteht“ impliziert ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, das die Erledigung der Maßregel nicht von einer positiven Prognose, sondern ihre Fortdauer von einer negativen Prognose abhängig macht.

Sind 10 Jahre der Unterbringung vollzogen, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Damit wird auf der zweiten Stufe der Maßstab des Rechts der Sicherungsverwahrung für die Zehn-Jahres-Prüfung nach § 67d Absatz 3 Satz 1 StGB übernommen. Nicht mehr ausreichend ist damit, wenn nur noch die Gefahr besteht, dass der Täter rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer in die „Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden“. Die bloße „Gefahr“ einer „Gefahr“ kann nach so langer Zeit eine weitere Unterbringung also nicht mehr rechtfertigen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG 07.02.2019, 2 BvR 2406/16, zitiert nach juris) verlangt in jedem Einzelfall die Prüfung, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Dabei ist die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr hinreichend zu konkretisieren; die Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen; deren bloße Möglichkeit vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen. Bei allem ist auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist aber auch auf die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. […] Bleibt das Bemühen des Richters um Zuverlässigkeit der Prognose trotz Ausschöpfung der zu Gebote stehenden Erkenntnismittel mit großen Unsicherheiten behaftet, so hat auch dies Eingang in seine Bewertung zu finden.“

Das bedeutet für die Strafvollstreckungskammern, dass sie nach dem Grundsatz „in dubio pro libertate“ zukünftig viele Unterbringungen für erledigt erklären müssen, obwohl bzw. gerade weil unklar ist, ob der Untergebrachte nach 15, 18 oder 21 Jahren im Maßregelvollzug noch allgemeingefährlich ist. Manche der hiervon betroffenen Untergebrachten werden sich darüber zweifellos freuen. Für andere, die stark hospitalisiert und zu einer eigenständigen Lebensführung aufgrund ihres körperlichen und/oder psychischen Zustands kaum in der Lage sind, wird es eher einen Verlust an Sicherheit und Fürsorge bedeuten. Hinzu kommt, dass privatwirtschaftlich organisierte Alten- und Pflegeheime sich mit der Aufnahme von „Risikopatienten“ naturgemäß schwertun. Psychisch kranke Brandstifter und Sexualstraftäter beispielsweise sind ausgesprochen schwer vermittelbar. Wenn noch eine Intelligenzminderung und/oder eine Suchtproblematik hinzukommen, ist die Suche nach einem geeigneten Heimplatz fast aussichtslos. Es ist bereits vorgekommen, dass Verteidiger darauf angetragen haben, ihren Mandanten trotz offensichtlich fehlender Verhältnismäßigkeit nicht kurzfristig „auf die Straße zu setzen“. Aber drohende Obdachlosigkeit allein ist natürlich kein Grund, die „außerordentlich beschwerende“ Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufrechtzuerhalten.

Die „Aussetzung zugleich mit der Anordnung“ gemäß § 67b StGB

Freiheitsstrafen, deren Dauer 2 Jahre nicht überschreitet, können gemäß § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gleiche ermöglicht § 67b StGB für die Maßregeln nach § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) und § 64 StGB (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt), sofern nicht gleichzeitig mit der Maßregel eine vollziehbare Freiheitsstrafe verhängt wird.

Besonders in den Fällen der „63er-Unterbringung“ muss sich das Gericht intensiv mit der Aussetzungsmöglichkeit beschäftigen, denn die unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist eine „außerordentlich beschwerende Maßnahme“ (BGH, 28.03.2019, 4 StR 530/18, NStZ-RR 2019, 173), deren Vollzug nur dann verhältnismäßig ist, wenn sich die vom Angeklagten ausgehende Gefahr nicht auf für ihn weniger belastende Weise auf ein vertretbares Maß reduzieren lässt. Das Gesetz verlangt für die „Aussetzung zugleich mit der Anordnung“ in § 67b StGB „besondere Umstände“, die die Erwartung rechtfertigen, dass der Zweck der Maßregel bereits durch ihre Anordnung, also ohne ihren Vollzug, erreicht werden kann. Zu prüfen ist laut Bundesgerichtshof (BGH, 26.05.2009, 4 StR 148/09, NStZ 2009, 581), „ob sich die vom Angeklagten ausgehende Gefahr insbesondere durch die Begründung eines Betreuungsverhältnisses nach §§ 1896 ff. BGB und durch geeignete Weisungen im Rahmen der Bewährung (§ 268a Abs. 2 StPO) und der mit ihr verbundenen Führungsaufsicht (§§ 67b Abs. 2, 68b StGB) abwenden oder jedenfalls so stark abschwächen lässt, dass ein Verzicht auf den Vollzug der Maßregel gewagt werden kann. Denn die damit verbundenen Überwachungsmöglichkeiten und das dem Angeklagten zu verdeutlichende Risiko, bei Nichterfüllung solcher Weisungen mit dem Vollzug der Unterbringung rechnen zu müssen, können geeignet sein, die vom Sachverständigen und der Strafkammer angeführten Voraussetzungen einer erfolgversprechenden ambulanten Therapie herbeizuführen, zumal der Angeklagte zur Einhaltung solcher Regeln bereit ist, die seinen Interessen dienen. Dies gilt umso mehr, als sich der Angeklagte trotz seines Zustandes bis zur Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten weitgehend straffrei geführt hat und auch danach ohne weitere relevante Auffälligkeiten auf freiem Fuß verblieben ist.“

Im Ergebnis werden trotz dieser Vorgaben nur sehr wenige Unterbringungen nach §63 StGB bereits im Urteil zur Bewährung ausgesetzt. Die Erklärung hierfür liegt, jedenfalls was Verfahren vor dem Schwurgericht angeht, auf der Hand: zumeist geht es um schwere Gewalttaten, bei denen der Geschädigte schwer verletzt oder gar getötet worden ist, die vom Angeklagten krankheitsbedingt ausgehende Gefahr also erwiesenermaßen sehr hoch ist. Häufig gab es auch vor und nach der Tat Auffälligkeiten, wobei das Verhalten des Angeklagten bzw. Beschuldigten in der einstweiligen Unterbringung gemäß § 126a StPO sehr aufschlussreich sein kann. Gesetzliche Betreuung, Bewährungs- und Führungsaufsicht sind in solchen Fällen zumeist keine geeigneten Alternativen, weil Personen mit einer akuten psychischen Erkrankung häufig keine Krankheits- und Behandlungseinsicht haben und sich weder von einem Betreuer noch von einem Bewährungshelfer leiten lassen würden. Dies gilt z.B. für Menschen mit einer Wahnstörung, aber auch für Personen, die an einer bipolaren affektiven Störung („manisch-depressiv“) erkrankt sind. Letztere fühlen sich im Verlauf eines manischen Krankheitsschubes zumeist außerordentlich vital, kreativ, leistungsfähig und verspüren keinerlei Leidensdruck. Wer sie als krank bezeichnet und zu einer ärztlichen Behandlung drängt, begibt sich unter Umständen selbst in Lebensgefahr! Vor einigen Jahren hatte das Lüneburger Schwurgericht einen Fall zu entscheiden, in dem ein 70-jähriger (!) Beschuldiger eines Morgens seine Ehefrau erwürgt hatte, weil diese ihn währende einer manischen Phase zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik bringen wollte. Seinerzeit stellte die Kammer (LG Lüneburg, 02.07.2014, 27 Ks 6/14) zur Tatdynamik fest: „Am Morgen des 14.02.2014 dachte der Beschuldigte an den bevorstehenden Psychiatrieaufenthalt, zu dem er sich seiner Ehefrau zu Liebe bereit erklärt hatte, den er innerlich aber ablehnte. Seine innere Unruhe steigerte sich krankheitsbedingt zu einer starken Aggression, die sich gegen seine Ehefrau richtete, der er die Schuld dafür gab, dass er immer wieder gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen wurde. In ihm kam der Gedanke auf, sie zu töten, weil er keine andere Möglichkeit sah, den immer näher rückenden Psychiatrieaufenthalt abzuwenden. Gegen 9.00 Uhr wurde sein innerer Handlungsdruck so übermächtig, dass er seiner Ehefrau, die zu diesem Zeitpunkt hochwahrscheinlich schlafend in ihrem Bett lag, mit beiden Händen an den Hals griff und sie würgte, bis sie wie von ihm beabsichtigt verstarb. Dabei hatte er die Einsicht, Unrecht zu tun, seine Fähigkeit, sich nach der erhaltenen Unrechtseinsicht zu verhalten, war jedoch jedenfalls erheblich vermindert, nicht ausschließbar sogar aufgehoben.“

Wie tückisch die bipolare affektive Störung sein kann, zeigt sich daran, dass der Beschuldigte bis heute – nach mehr als 4-jähriger Therapie im Maßregelvollzug – noch immer keinen Zusammenhang zwischen seiner Erkrankung und der Tat sieht, wovon sich die Strafvollstreckungskammer unlängst wieder überzeugt hat. Bei derart komplexen und hartnäckigen Erkrankungen ist für eine „Aussetzung zugleich mit der Anordnung“ in der Regel kein Raum.

Die Unterbringung gemäß § 63 StGB – das „wahre Lebenslang“?

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) ist keine Strafe, sondern eine „Maßregel der Sicherung und Besserung“. Maßregeln sind – anders als Strafen (vgl. § 46 StGB) – von der Schuld des Täters unabhängig. Sie können also auch gegen Täter verhängt werden, die bei Begehung der Tat schuldunfähig waren und dementsprechend nicht bestraft werden können.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt gemäß § 63 StGB voraus, dass der Täter die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat und dass er für die Allgemeinheit gefährlich ist, weil von ihm sind infolge seiner Zustands weitere erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind. Wenn das Gericht – gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG nicht das Amtsgericht – diese Voraussetzungen als erfüllt ansieht, trifft es im Urteil die entsprechende Anordnung („Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhause wird angeordnet“).

Entgegen einer landläufig verbreiteten Meinung ist die Unterbringung übrigens das Gegenteil von einem „Sanatoriumsaufenthalt“. In den hochgesicherten forensischen Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser sind Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen auf verhältnismäßig engem Raum untergebracht, die teilweise schwerste Straftaten begangen haben und sich krankheitsbedingt aggressiv-bedrohlich verhalten. Nicht selten kann das geschulte Pflegepersonal schwere Auseinandersetzungen gerade noch in letzter Sekunde verhindern, mitunter wird es auch selbst zum Ziel von Angriffen. Insgesamt der Maßregelvollzug also kein Ort, an den man sich freiwillig begeben würde – es sei denn, man ist Psychiater, Psychologe o.ä. und verdient dort sein Geld. 

Vor aber allem ist die Unterbringung zeitlich unbefristet, was bedeutet, dass für den Untergebrachten – anders als für den „normalen“ Strafgefangenen – kein Ende abzusehen ist. Die durchschnittliche „Verweildauer“ soll zwischen 6 und 8 Jahren liegen, wobei es Einzelfälle gab und vereinzelt noch immer gibt, die diese Dauer um ein Mehrfaches überschreiten. Dies ist auch der Grund, warum die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bisweilen als „das wahre lebenslang“ bezeichnet wird. Weil das so ist, stellt der Bundesgerichtshof (BGH, 06.12.2018, 4 StR 367/18, StV 2019, 257) strenge Anforderungen an die Anordnung der Maßregel und deren Begründung im Urteil: „Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Dabei sind an die Darlegungen umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt um einen Grenzfall. Der Tatrichter muss die eine Unterbringung tragenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darstellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. Darüber hinaus muss die Anordnung verhältnismäßig sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist mit Verfassungsrang ausgestattet. In § 62 StGB hat ihn der Gesetzgeber ausdrücklich nochmals einfachgesetzlich geregelt, um seine Bedeutung bei der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung hervorzuheben. Die Unterbringung darf nicht angeordnet werden, wenn die wegen ihrer unbestimmten Dauer sehr belastende Maßnahme außer Verhältnis zu der Bedeutung der begangenen und zu erwartenden Taten stehen würde. Bei der gebotenen Abwägung zwischen den Sicherungsbelangen der Allgemeinheit und dem Freiheitsanspruch des Betroffenen ist auf die Besonderheiten des Falles einzugehen. Zu erwägen sind nicht nur der Zustand des Betroffenen und die von ihm ausgehende Gefahr, sondern auch sein früheres Verhalten, seine aktuellen Lebensumstände, die ihn konkret treffenden Wirkungen einer Unterbringung nach § 63 StGB sowie die Möglichkeiten, ggf. durch andere Maßnahmen auf ihn einzuwirken.“ Hinsichtlich dieser „anderen Maßnahmen“ gilt nach einer aktuellen Entscheidung des 4. Strafsenats (BGH, 28.03.2019, 4 StR 530/18, NStZ-RR 2019, 173): „Schließlich kommt es für die Entscheidung, ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen ist, auch nicht darauf an, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit durch Maßnahmen außerhalb des Maßregelvollzugs – wie etwa eine konsequente medizinische Behandlung, die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung oder eine Unterbringung in einem betreuten Wohnen – abgewendet werden kann. Solche (täterschonenden) Mittel sind erst für die Frage bedeutsam, ob die Vollstreckung der Unterbringung gemäß § § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

Tatsächlich wird die Maßregel in manchen Fällen buchstäblich lebenslang vollzogen, weil es Betroffene gibt, die bis zu ihrem letzten Atemzug allgemeingefährlich sind. Über einen körperlich wie geistig schwer behinderten, psychisch kranken und im Rollstuhl sitzenden Serienbrandstifter sagte ein Psychiater vor einiger Zeit: „Natürlich lassen seine körperlichen Kräfte immer mehr nach. Aber solange der ein Feuerzeug bedienen kann, ist er hochgefährlich“. Auch jenseits von solchen tragischen Fällen ist es alles andere als einfach, aus der Unterbringung wieder entlassen zu werden. Der Fall des heute 62-jährigen Gustl Mollath belegt dies bis heute öffentlichkeitswirksam, auch er verbrachte – die einstweilige Unterbringung eingerechnet – rund 7 Jahre im Maßregelvollzug und streitet bis heute mit dem Land Bayern über die Höhe der ihm hierfür zustehenden Entschädigung…

Schuldfähigkeit – die Rolle des Sachverständigen

Die Frage nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat stellt sich in praktisch jedem Schwurgerichtsverfahren. Von ihrer Beantwortung hängt eine Menge ab, denn „die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“, so § 46 Abs. 1 S. 1 StGB.

War der Täter bei Begehung der Tat schuldunfähig (§ 20 StGB), so wird er nicht bestraft. Tritt dieser Umstand bereits im Ermittlungsverfahren zutage, so führt die Staatsanwaltschaft kein normales Strafverfahren, sondern ein sog. „Sicherungsverfahren“ (§§ 413 ff. StPO) durch, dessen einziges Ziel die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung – zumeist die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB – ist.

War die Schuldfähigkeit des Angeklagten hingegen „nur“ erheblich vermindert (§ 21 StGB), bleibt es beim „normalen“ Verfahrensgang, jedoch kann die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 gemildert werden. Wenn das Schwurgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, wird der im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangene Mord nicht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern mit einer zeitigen Freiheitsstrafe zwischen 3 und 15 Jahren bestraft. Dass „lebenslang“ nicht – wie oft irrtümlich behauptet wird – mit 15 Jahren Freiheitsstrafe gleichzusetzen ist, ist hier näher dargestellt. Aber nicht nur für den Fall der „Vollverbüßung“ macht dies einen erheblichen Unterschied, sondern auch im Hinblick auf eine vorzeitige Entlassung bei Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. Dazu folgendes Beispiel: Der A wird wegen Mordes im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann diese Strafe nach zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn zwei Drittel verbüßt sind, also nach 8 Jahren. Würde A hingegen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, sind käme gemäß § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB eine bedingte Entlassung erst in Betracht, wenn 15 Jahre verbüßt sind.

Liest man Presseberichte über Mordverfahren, so kann man den unzutreffenden Eindruck gewinnen, dass die Frage der Schuldfähigkeit von psychiatrischen Sachverständigen entschieden wird. Immer wieder heißt es, der Sachverständige Dr. Superschlau habe dem Angeklagten eine „eingeschränkte Schuldfähigkeit attestiert“, was zur Folge habe, dass er nun nicht so hart bestraft werden könne, wie man sich das bei einem Mörder gemeinhin vorstelle. Dabei wird übersehen, dass die einzige Aufgabe eines Sachverständigen darin besteht, dem Gericht die ihm fehlende Sachkunde zu vermitteln. Für alle Fachrichtungen, egal ob Biologe, Chemiker, Toxikologe Ingenieur oder eben Psychiater gilt: der Sachverständige entscheidet gar nichts!

Mit den Worten des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226) und mithin etwas vornehmer formuliert: „Ob bei der Begehung der Tat Schuldunfähigkeit vorlag, ist eine Rechtsfrage, die das Gericht zu beantworten hat. Reicht bei Auftreten von Besonderheiten die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht aus, muss es hierfür einen Sachverständigen hinzuziehen. Auch dann ist die Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung aufgrund einer festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert oder im Sinne des § 20 StGB aufgehoben war, eine Rechtsfrage, die das Tatgericht unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung zu entscheiden hat. Hat das Tatgericht ein solches Gutachten eingeholt, ist es zwar nicht gehindert, von diesem abzuweichen, da es stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein kann. Auch muss das Tatgericht nicht in jedem Fall, in dem es von dem Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen abweichen will, einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass es die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde besitzt, selbst wenn es erst durch das Gutachten genügend sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu können.“

Nimmt man den BGH beim Wort, so könnte eine leidlich erfahrene Schwurgerichtskammer ist manchen Verfahren auf die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen verzichten und sich auf eigene Sachkunde berufen, die sie über die Jahre gewonnen hat, z.B. bei der „an sich geläufigen Frage […], welche Gesichtspunkte generell bei der Prüfung eines schuldmindernden Affekts Gewicht gewinnen können“ (BGH,28.09.2014, 1 StR 317/04, NStZ 2005, 149). Von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, ist jedoch riskant, denn an anderer Stelle ist höchstrichterlich befunden worden, dass „die richterliche Sachkunde für die Beurteilung der Schuldfähigkeit jedenfalls bei Auftreten von Besonderheiten in der Regel nicht ausreicht“ (BGH, 23.02.2011, 5 StR 24/11, zitiert nach juris). „Besonderheiten“ im vorgenannten Fall waren übrigens die „nicht geringe Alkoholisierung des unbestraften und bislang auch sonst nicht durch Gewaltakte aufgefallenen 57-jährigen Angeklagten in Verbindung mit der Impulsivität seiner an dem ihm zuvor unbekannten Tatopfer verübten Tat“. Wer eine Reihe von Mord- und Totschlagsverfahren geführt und entschieden hat, wird diese Umstände möglicherweise gar nicht so besonders finden – vernünftigerweise aber auch weiterhin zu jedem Verfahren einen forensischen Psychiater hinzuziehen.

Für Angeklagte und Verteidiger folgt aus der alleinigen Entscheidungsverantwortlichkeit des Gerichts, dass man sich auf die Einschätzung des Sachverständigen („Ich kann § 21 StGB nicht sicher ausschließen!“) auf keinen Fall verlassen darf. Es kann nicht oft genug betont werden: es kommt allein darauf an, ob das Gericht die Voraussetzungen von § 20 oder 21 StGB als erfüllt ansieht oder nicht! Wobei – auch das soll nicht unerwähnt bleiben – beispielsweise beim Vorliegen einer akuten Psychose für das Gericht wenig Spielraum bleibt. Zumeist wird es „nach eigener kritischer Würdigung des Ausführungen des Sachverständigen anschließen mit der Maßgabe, dass die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Kammer in eigener Verantwortung obliegt“ – und zu dem Ergebnis gelangen, dass die Schuldfähigkeit gemäß § 20 StGB aufgehoben war.

Ganz anders hingegen, wenn der Sachverständige nur zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB kommt. In einem solchem Fall eröffnet das Tatbestandsmerkmal „erheblich“ dem Gericht einen sehr weiten Spielraum, d.h. das Gericht kann dem Sachverständigen darin folgen, dass die Schuldfähigkeit durchaus beeinträchtigt war, gleichzeitig aber entscheiden, dass die Schwelle der Erheblichkeit im Sinne von § 21 aufgrund der überragenden Bedeutung des Rechtsguts „Leben“ nicht erreicht wurde (Rechtsfrage!). Abgerundet mit dem passenden Zitat („Ferner ist bei Taten höchster Schwere bei der Zubilligung der Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit wegen der hohen Hemmschwelle besondere Zurückhaltung geboten.“BGH, 07.11.2013, 5 StR 377/13, NStZ 2014, 80) ist diese Entscheidung für die Revision praktisch unangreifbar.

Der Tötungsvorsatz und die „Hemmschwellentheorie“

Mord und Totschlag sind sog. Vorsatzdelikte, d.h. Mörder und Totschläger kann nur derjenige sein, der bei Begehung der Tat mit Tötungsvorsatz gehandelt hat. Heutzutage hat Vorsatz mit planerischem Vorgehen nur am Rande etwas zu tun. Wer eine lange geplante Tat ausführt, handelt vorsätzlich. Aber auch ohne Planung, also spontan, kann man sowohl Mord als auch Totschlag begehen. Das war nicht immer so: nach dem Strafgesetzbuch von 1871 war Mörder, wer „die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat“, während der Totschläger „die Tödtung nicht mit Ueberlegung ausgeführt hat“. In beiden Fällen musste der Täter vorsätzlich gehandelt haben, ohne dass gesetzlich geregelt war, was dies voraussetzt.

In Deutschland unterscheiden Juristen drei Formen des Vorsatzes: wer sein Opfer töten will, handelt mit Tötungsabsicht („dolus directus 1. Grades“). Derjenige, der sicher davon ausgeht, dass sein Opfer versterben wird, aber kein Interesse an dessen Tod hat, handelt mit direktem Tötungsvorsatz („dolus directus 2. Grades“). Wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Wollenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein, handelt mit bedingtem Tötungsvorsatz („dolus eventualis“ – Eventualvorsatz) (BGH, 24.04.2019, 2 StR 377/18, zitiert nach juris). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.

Wichtig – und gerade in jüngster Zeit immer wieder Gegenstand von Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs – ist außerdem, dass der Vorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung vorliegen muss; fasst der Täter den Vorsatz erst später („dolus subsequens“), kommt eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht in Betracht. Dieser Umstand führte u.a. zur Aufhebung des Urteils im „Berliner Autoraserfall“. Der Bundesgerichtshof (BGH, 01.03.2018, 4 StR 399/17, NStZ 2018, 409) hatte erkannt: „Dass der Tötungsvorsatz ab einem Zeitpunkt vorlag, als die tödliche Kollision bereits nicht mehr zu verhindern war, ist für die Annahme eines vorsätzlichen Tötungsdelikts rechtlich bedeutungslos.“

In der Praxis spielen fast nur die Tötungsabsicht und der Eventualvorsatz eine Rolle, wobei letzterer immer wieder Gegenstand leidenschaftlicher Argumentationen ist, vor allem, wenn das Opfer die Tat überlebt hat. Nicht selten weist die Verteidigung in derartigen Fällen als erstes auf das fehlende bzw. nicht sicher feststellbare Tötungsmotiv hin, was indes – selbst wenn sich das Gericht dieser Einschätzung anschließt – nur die Tötungsabsicht, nicht aber den bedingten Tötungsvorsatz entfallen lässt. Denn der Eventualvorsatz zeichnet sich gerade dadurch aus, dass dem Täter der Tod seines Opfers gleichgültig oder gar unerwünscht ist, ein Tötungsmotiv ist nicht erforderlich! Entscheidend für das Gericht ist die im Urteil ausführlich darzustellende „Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände“, d.h. die Persönlichkeit des Täters und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung müssen ebenso erwogen werden wie seine Motivation und nicht zuletzt die konkrete Angriffsweise, denn die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist ein wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes. Das bedeutet für die Praxis: je gefährlicher eine Tathandlung und je offensichtlicher die Gefahr eines tödlichen Ausgangs ist, desto eher wird bedingter Tötungsvorsatz anzunehmen sein. Ein Messerstich in den Hals oder in die Herzregion beispielsweise ist – auch medizinischen Laien bekannt – hochgefährlich. Nicht viel weniger gefährlich kann ein Stich in den Oberschenkel sein, wo ähnlich wie im Hals große Blutgefäße verlaufen, deren Verletzung binnen kurzer Zeit zu einem tödlichen Blutverlust führen kann. Dieses Wissen wird man indes bei vielen Tätern nicht voraussetzen können, denn im Fernsehen stirbt niemand an einem Stich ins Bein…

Eine „Hemmschwellentheorie“, die mitunter als letzter Strohhalm herhalten muss, um den auf der Hand liegenden bedingten Tötungsvorsatz doch noch irgendwie in Frage zu stellen, gibt es übrigens nicht. Was es gibt, ist eine Tötungshemmschwelle, die allerdings bei manchen Menschen offensichtlich nicht sonderlich stark ausgeprägt ist, hätte sie doch anderenfalls die lebensgefährliche Tathandlung unterbunden. Mit den Worten des Bundesgerichtshofs (BGH, 05.04.2018, 1 StR 67/18, NStZ-RR 2018, 371) ausgedrückt gilt: „Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf eine „für Tötungsdelikte deutlich höhere Hemmschwelle“ abgestellt worden ist, erschöpft sich dies in einem Hinweis auf die Bedeutung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) bezüglich der Überzeugungsbildung vom Vorliegen eines (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatzes. Der Bundesgerichtshof hat stets betont, dass durch den Aspekt der „Hemmschwelle“ die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges, auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen nicht in Frage gestellt oder relativiert werden solle.“

Wenn der Todesengel kommt…

Immer wieder berichtet die Presse über sog. „Todesengel“, also Männer oder Frauen, die als Angestellte von Kliniken oder Pflegheimen unheilbar kranke Patienten und Patientinnen getötet haben sollen. Häufig bleiben derartige Taten jahrelang unbemerkt, die Zahl der Getöteten ist hoch, die Dunkelziffer noch höher, das Entsetzen der Angehörigen und das Interesse der Öffentlichkeit gewaltig. Bleibt die Frage nach der rechtlichen Einordnung solcher Handlungen – Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder gar Mord (§ 211 StGB)?

Die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) setzt – nomen est omen – voraus, dass der Täter „durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden“ ist. Eigenmächtige Tötungen scheiden also von vorneherein aus. „Ernstlich “ im Sinne des Gesetzes ist ein Tötungsverlangen nur, wenn es auf fehlerfreier Willensbildung beruht. Der Bundesgerichtshof (14.09.2011, 2 StR 145/11, NStZ 2012, 85) verlangt: „Der seinen Tod verlangende Mensch muss dazu die Urteilskraft besitzen, um die Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses zu überblicken und abzuwägen. Dem entsprechend ist einem Tötungsverlangen die Anerkennung im Sinne des Privilegierungstatbestands für den Täter zu versagen, wenn das Opfer durch eine Erkrankung in seiner natürlichen Einsichts- und Willensfähigkeit beeinträchtigt war und es deshalb die Tragweite seines Entschlusses, sich töten zu lassen, nicht überblickte. Unbeachtlich ist aber auch ein Tötungsverlangen in depressiver Augenblicksstimmung, zumindest wenn es nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen wird.“ Nach diesen Grundsätzen wird bei vielen Getöteten ein rechtlich relevantes Tötungsverlangen ausscheiden.

Wo es an einem ernstlichen Tötungsverlangen fehlt – sei es, dass überhaupt kein derartiges Verlangen geäußert worden ist oder dass der Getötete nicht mehr die erforderliche Einsichts- und Willensfähigkeit hatte – kommt eine Strafbarkeit wegen Totschlags (§ 212) oder Mordes (§ 211) in Betracht. Da die Getöteten zumeist nicht wissen, dass Ihnen durch die heimliche Gabe eines falschen oder zu hoch dosierten Medikaments der Tod bevorsteht, kommt das Mordmerkmal der Heimtücke in Betracht. Soweit es sich um bettlägerige oder sonst in ihren körperlichen und/oder geistigen Fähigkeiten erheblich eingeschränkte Opfer handelt, die per se wehrlos sind, stellt die Rechtsprechung beim Tatbestandsmerkmal der „auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit“ auf die Arglosigkeit des sog. „schutzbereiten Dritten“ ab. Mit den Worten des BGH (03.04.2008, 5 StR 525/07, StV 2009, 524) ausgedrückt: „Schutzbereiter Dritter ist jede Person, die den Schutz eines Besinnungslosen vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder es deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut. Voraussetzung ist jedoch, dass die Person den Schutz wirksam erbringen kann, wofür eine gewisse räumliche Nähe und eine überschaubare Anzahl der ihrem Schutz anvertrauten Menschen erforderlich sind.“ Soweit, so klar.

Schwieriger wird es schon beim Tatbestandsmerkmal der „feindlichen Willensrichtung“, denn hier trennen sich die Spreu vom Weizen oder genauer: der Totschläger vom Mörder. Entscheidend ist laut BGH (a.aO.), ob der Täter seine „Vorstellung über Würde und Wert des Lebens eines sterbenden Menschen durchsetzen“ will (dann feindliche Willensrichtung und damit Heimtücke) oder ob er aus individuellem Mitleid mit den schwerkranken Patienten“ handelt (dann keine feindliche Willensrichtung und damit keine Heimtücke).

Ist ersteres der Fall, schließt sich die Frage an, ob die Motivation zugleich ein weiteres Mordmerkmal erfüllt, nämlich einen niedrigen Beweggrund darstellt, also „nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb – in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag – verachtenswert ist“. Allein der Wunsch bzw. die Anmaßung, „Gott gleich über Leben und Tod entscheiden zu wollen“ reicht hierfür nicht aus, denn das tut der Totschläger letztlich auch. Zur Selbstüberhöhung muss also noch etwas besonders verachtenswertes hinzutreten, z.B. dass fremdes Leben ohne Anlass (also ohne die unheilbare Erkrankung) als minderwertig betrachtet wird.

Im Ergebnis entscheidet also regelmäßig die vom Schwurgericht festzustellende Motivation über Mord und Totschlag und damit über lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe.