Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften, wird es für Rechtsanwender und Betroffene schwierig. Während der Gesetzgeber nicht zuletzt als Reaktion auf den sog. „Fall Mollath“ Maßregelpatienten in kürzeren Abständen (§ 463 Abs. 4 StPO) extern begutachten lassen will und das Bundesverfassungsgericht an die Begründung von Fortdauerentscheidungen hohe Anforderungen stellt, werden psychiatrische Sachverständige mit forensischer Erfahrung immer seltener – und Besserung ist nicht in Sicht!

Wenn Gesetz und Wirklichkeit auseinanderdriften…

Gut gemeint hat es der Gesetzgeber, daran besteht kein Zweifel. Ausgehend davon, dass sowohl die Zahl der gem. § 63 StGB in psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachten Personen als auch deren durchschnittliche Verweildauer im Maßregelvollzug seit Jahren angestiegen ist, sah er die Notwendigkeit einer häufigeren externen Überprüfung. Im Gesetzentwurf (BT-Drucksache 18/7244) heißt es hierzu: „Zur Steigerung der Qualität von Fortdauerentscheidungen soll eine externe Begutachtung künftig grundsätzlich nach jeweils drei Jahren vollzogener Unterbringung nach § 63 StGB erfolgen, nach einer Unterbringungszeit von sechs Jahren alle zwei Jahre. Dies ermöglicht eine objektivere Beurteilung der der Unterbringung zugrundeliegenden diagnostischen und prognostischen Einschätzungen sowie der Entwicklungen im Rahmen der in Anspruch genommenen Therapieangebote im Maßregelvollzug. Die Erhöhung der Frequenz unterstreicht auch den bereits vom Bundesverfassungsgericht betonten Gesichtspunkt, dass das Gutachten nicht durch „Belange der Maßregelvollzugseinrichtung“ beeinflusst werden soll. Mit einer externen Begutachtung wird schon dem bloßen Anschein entgegengetreten, der Inhalt des Gutachtens könne womöglich auch durch das Interesse an der Auslastung der Einrichtung und deren wirtschaftlichen Erfolg mitbestimmt sein, gerade vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren in einigen Ländern Maßregelvollzugseinrichtungen privatisiert worden sind. Zudem weisen Einzelstudien darauf hin, dass unterschiedliche Unterbringungsdauern und Lockerungsentscheidungen wesentlich auch von der jeweiligen Klinik und ihrem Personal abhängen.“

Das klingt vernünftig, aber schon der erste Satz wirft Fragen auf. Eine Erhöhung der Quantität soll regelhaft zu einer Steigerung der Qualität führen?Viel hilft viel!“ – das gilt manchmal, aber nicht immer! Natürlich verstehe ich den gesetzgeberischen Ansatz. Je länger die Unterbringung dauert, desto mehr Bedeutung gewinnt das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten  – Stichwort Verhältnismäßigkeit – und desto engmaschiger und kritischer soll die externe Kontrolle sein. Und um diese Kontrolle zu gewährleisten, regelt das Gesetz (§ 463 Abs. 4 Satz 3 bis 5 StPO) weitere Einzelheiten: „Der Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet, noch soll er das letzte Gutachten bei einer vorangegangenen Überprüfung erstellt haben. Der Sachverständige, der für das erste Gutachten im Rahmen einer Überprüfung der Unterbringung herangezogen wird, soll auch nicht das Gutachten in dem Verfahren erstellt haben, in dem die Unterbringung oder deren späterer Vollzug angeordnet worden ist. Mit der Begutachtung sollen nur ärztliche oder psychologische Sachverständige beauftragt werden, die über forensisch-psychiatrische Sachkunde und Erfahrung verfügen.“

Unabhängig, kompetent und kritisch soll der externe Sachverständige sein!

Das ist alles gut und richtig. Allein – woher sollen die Heerscharen von unabhängigen, forensisch erfahrenen Psychiatern und Psychologen kommen, deren Existenz der Gesetzgeber offenbar voraussetzt? Menschen, die sowohl die Expertise als auch das Selbstbewusstsein haben, die Behandler im Maßregelvollzug zu kontrollieren und ihnen, wenn nötig, zu widersprechen?  Die sich beispielsweise zu sagen trauen: „Obwohl der Untergebrachte vor einigen Jahren im Zustand einer akuten Psychose mehrere Menschen getötet hat, halte ich ihn – im Gegensatz zu den behandelnden Ärzten – mittlerweile für ungefährlich und befürworte eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung!“ Bei uns in Lüneburg, das kann ich aus meiner Tätigkeit im Schwurgericht und in der Strafvollstreckungskammer sagen, gibt es derer gegenwärtig noch zwei. Einer der beiden hat das Eintrittsalter der gesetzlichen Rentenversicherung bereits hinter sich gelassen. Versuche mit „auswärtigen“ Sachverständigen, wenn sie denn überhaupt Zeit und Lust hatten, für uns tätig zu werden, brachten sehr gemischte Ergebnisse. Spätestens wenn man versucht, einen erfahren Sachverständigen (einen alten Haudegen und Veteranen des Maßregelvollzuges) zu veranlassen, sein Gutachten nach den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erstatten, stößt man an unüberwindliche Grenzen. Statistische Prognoseinstrumente sind was für Anfänger und Angsthasen…

Die Zeit drängt – es fehlt der Nachwuchs!

Mit anderen Worten: die Lage ist ernst, und sie wird sich absehbar eher verschlechtern als verbessern. Offenbar hat fast niemand mehr Lust, sein Berufsleben als selbständiger forensischer Psychiater zu verbringen. An den Verdienstmöglichkeiten liegt es sicher nicht – woran dann? Das habe ich vor einiger Zeit einen Psychiater gefragt. Seine Antwort war in etwa folgende: Wenn sich jemand dafür entscheidet, Arzt zu werden und mit Medizin studiert, ist die Entscheidung für die Psychiatrie an sich schon exotisch. Wer sich dennoch mit Erfolg in diesem Fach etabliert, kann sich seinen Job quasi aussuchen. Gegen die Tätigkeit als selbständiger Psychiater spricht zum einen, dass man von seinen Auftraggebern – sprich den Gerichten – und deren Launen abhängig ist. Zugegeben, das ist keine schöne Vorstellung, Verteidiger werden mir zustimmen. Und zum anderen, dass  das ärztliche Selbstverständnis (Halbgötter in Weiß) kritische Rückfragen oder gar entschiedenen Widerspruch von medizinischen Laien (Juristen) nicht oder nur sehr schwer erträgt.

Ob das alles so stimmt, kann ich nicht sagen, aber ich fand die Antwort zumindest plausibel. Wenn es auch nur zum Teil stimmt, muss sich Im Interesse sowohl der Untergebrachten als auch der öffentlichen Sicherheit dringend etwas ändern, und zwar bald! Denn Sachverständige lassen sich nicht per Gesetz erschaffen und auch nicht über Nacht ausbilden. Ein Ansatz bestünde möglicherweise darin, die Landeskriminalämter neben Chemikern und Biologen auch Psychiater und Psychologen anstellen zu lassen. Damit wäre zumindest deren wirtschaftliche  Abhängigkeit von einzelnen Richtern bzw. Kammern überwunden. Ob Verteidiger das für eine gute Idee halten, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie ja bessere Vorschläge?

Bestrafungswünsche – von Strafe und Gerechtigkeit

Unter dem Titel „Nichts als Vergeltung“ ist bei lto.de ein Beitrag von Prof. Dr. Tonio Walter erschienen. Er vertritt die „empirisch-soziologische Vergeltungslehre“ die besagt, dass gerechte Vergeltung, die sich an den „Bestrafungswünschen der Bürger“ orientiert,  der eigentliche Strafzweck sei. Prävention und Resozialisierung seien allenfalls „Begleitprogramm oder Nebeneffekt einer Strafe“. Sind Bestrafungswünsche das Maß aller Dinge?

Bestrafungswünsche – darf es ein bißchen mehr sein?

Bereits ein flüchtiger Blick ins Gesetz lässt erste Zweifel aufkommen, gibt Walter doch § 46 Abs. 1 StGB verkürzt wieder, indem er Satz 2 der Vorschrift gleichsam unter den Tisch fallen lässt. In Gänze lautet die Vorschrift: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.“ Prävention und Resozialisierung als bloßes „Beiprogramm oder Nebeneffekt“ bezeichnen, erscheint also gewagt, erst recht wenn man sich § 2 StVollzG vergegenwärtigt. Dort heißt es: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ Es bleibt festzuhalten: nach dem Wortlaut des Gesetzes bzw. der Gesetze steht neben der individuellen Schuld die Einwirkung auf den Täter im Mittelpunkt. Von „Vergeltung“ und „Bestrafungswünschen der Bürger“ ist im Gesetz hingegen keine Rede. Es finden sich auch keine Vorschriften über die von Walter für notwendig gehaltene empirische Erforschung der „in der Gesellschaft mehrheitlich und nachhaltig vorhandenen Auffassung zur Höhe gerechter Strafen“. Offensichtlich hält der Gesetzgeber dies – im Gegensatz zu Walter („Wir brauchen mehr empirische Forschung!“) – für entbehrlich.

Die „empirisch-soziologische Vergeltungslehre“ lässt sich mit der geltenden Gesetzeslage also schwerlich in Deckung bringen. Dies gilt erst für die Hypothese „Resozialisierung bestraft nicht, und Strafen können nicht resozialisieren“. Wobei ich mich schon frage, ob Walter das so meint, wie er es schreibt. Oder geht es ihm nur darum, im schnelllebigen Online-Business mit markigen Sätzen Beachtung zu finden? Egal: dass Strafen nicht resozialisieren, würde ich aus meiner Erfahrung als Richter in der Strafvollstreckungskammer nicht unterschreiben, zumindest nicht für Freiheitsstrafen. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen ist für viele Verurteilte  – wohlgemerkt nicht für alle – ein einschneidendes Erlebnis. Deshalb gilt im Hinblick auf die Bewährungsaussetzung von Reststrafen gemäß § 57 StGB grundsätzlich die Vermutung, dass der Strafvollzug einen Erstverbüßer im Allgemeinen beeindruckt und ihn von weiteren Straftaten abhalten kann (Fischer, StGB, 66. Auflage, § 57 Rn. 14). Nicht selten hört man in Anhörungen Sätze wie: „Die ganzen Geld- und Bewährungsstrafen habe ich irgendwie nicht ernst genommen. Erst im Knast habe ich kapiert, dass ich Scheiße gebaut habe.“

Andererseits gibt es auch im Justizvollzug viele Probanden, die in der Psychiatrie als „Drehtürpatienten“ bezeichnet werden. Soll heißen: kaum entlassen, schon wieder aufgenommen.  Resozialisierung setzt eben voraus, dass es eine brauchbare Sozialisierung gibt, an die angeknüpft werden kann. Bei vielen Strafgefangenen ist in dieser Beziehung derartig viel schief gelaufen, dass von einer Resozialisierung im Wortsinn keine Rede sein kann. Dennoch: dass der Vollzug einer Freiheitstrafe generell wirkungslos wäre, kann ich nicht unterschreiben. Dasselbe gilt für die von Walter aufgestellte Behauptung „Nichts erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls deutlicher als ihr Vollzug.“ Ich wüsste gern, welche empirischen Erkenntnisse ihr zugrunde liegen.

Natürlich ist die Einwirkung auf den Täter nicht der einzige Strafzweck. Wäre dem so, so hätte der BGH beispielsweise unser Urteil gegen Oskar Gröning in Bausch und Bogen aufgehoben. Dass der bei Urteilsverkündung 94-jährige ehemalige SS-Mann weitere Straftaten begehen würde, konnten wir trotz seiner Beteiligung an 300.000 Morden in Auschwitz ausschließen. Und die von Walter in den Mittelpunkt gestellten „Bestrafungswünsche der Bürger“? Gellende Rufe nach Vergeltung habe ich seinerzeit nicht vernommen. Selbst die Nebenkläger, die in Auschwitz zum Teil ihre gesamten Familien verloren hatten, erklärten mehrheitlich, an einer Bestrafung des Angeklagten kein Interesse zu haben. Viele Menschen äußerten sogar mehr oder minder offen ihr Unverständnis darüber, dass dieses Verfahren gegen den hochbetagten Angeklagten überhaupt noch geführt wurde. Vergeltungswünsche? Der Wunsch nach Gerechtigkeit durch Bestrafung? Überwiegend Fehlanzeige!

Bestrafungswünsche – über 70 Jahre nach der Tat?

In einem wesentlichen Punkt gehe ich bei aller Kritik mit Walter konform: Strafe muss sich der Höhe nach am Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung messen lassen. „Gerechte Vergeltung stiftet einen gesellschaftlichen Nutzen, weil sie für Rechtsfrieden sorgt, indem sie das Gerechtigkeitsbedürfnis der Bürger befriedigt. Sonst bestände die Gefahr, dass die Bürger sich innerlich vom ungerecht-untätigen Staat distanzieren und ihr Recht in die eigenen Hände nehmen“ – das ist zweifellos richtig.
Walter weist auch zur Recht darauf hin, dass manche Strafrahmen bzw. ihr Verhältnis zueinander unbefriedigend sind. Dazu gehört auch der Vollrausch (§ 323a StGB), der wie der der Diebstahl (§ 242 StGB) mit maximal 5 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Und zwar auch dann, wenn die im Vollrausch begangene Tat ein vorsätzliches Tötungsdelikt ist! Eine Kammer des hiesigen Landgerichts hatte vor einigen Monaten folgenden Fall zu verhandeln: Einem jungen Mann wurde vorgeworfen, im LSD-Rausch seine Freundin vorsätzlich durch diverse Messerstiche getötet (d.h. regelrecht zerhackt) zu haben. Heraus kam eine Strafe wegen Vollrauschs (§ 323a StGB) von knapp unter 5 Jahren. Das war in den Augen der Eltern der Getöteten natürlich viel zu wenig. Aber auch den professionellen Rechtsanwender beschleicht ein Gefühl der Ungerechtigkeit, wenn er bedenkt, dass der besonders schwere Fall der Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 3 StGB) bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe ermöglicht.

Bestrafungswünsche – beim Vollrausch weniger als bei der Urkundenfälschung?

Derartige Unwuchten zu beseitigen, obliegt dem Gesetzgeber. Die – mitunter schwierige – Suche nach der gerechten Strafe im Einzelfall ist und bleibt Sache des Gerichts. Weil das Urteil „Im Namen des Volkes“ ergeht, dürfen die „Bestrafungswünsche der Bürger“ dem Gericht nicht gänzlich aus dem Blick geraten. Maßgeblich aber bleibt die individuelle Schuld des Täters, so wie es § 46 StGB vorgibt. Oder eben seine Unschuld – dann ist für die Berücksichtigung von „Bestrafungswünschen“ ohnhin kein Raum.

Im Namen des zornigen Volkes?

Das Urteil des Landgerichts Chemnitz gegen Alaa S. vom 22.08.2019 hat für teils heftige Reaktionen gesorgt. Unter dem Titel „Im Namen des zornigen Volkes“ erschien bei Spiegel Online ein Kommentar mit der Einleitung Keine Spuren, keine Kratzer, keine DNA – nur eine wacklige Zeugenaussage und der unbedingte Wille zur Verurteilung bringen den Syrer Alaa S. für den Tod des Chemnitzers Daniel Hillig hinter Gitter. Welche Beweise braucht es für eine Veruteilung?

Im Namen des zornigen Volkes?

Eines sei zur Klarstellung vorweggestellt: Ich bin weit davon entfernt, mir ein Urteil über die Entscheidung der Kolleginenn und Kollegen aus Chemnitz zu erlauben. Schon deshalb, weil ich an der Beweisaufnahme nicht teilgenommen habe und aus eigenen Anschauung weiß, dass nicht alles, was die Medien über Gerichtsverfahren berichten, unbedingt richtig sein muss. Die Unterstellung, dass sich ein Gericht von einem „unbedingten Willen zur Verurteilung“ habe leiten lassen, erzeugt bei mir dennoch Unbehagen – sowohl für den Fall, dass sie falsch ist, erst Recht aber für den, dass sie zutrifft!

Ich will auch nicht der Frage nachgehen, ob und inwieweit Gerichte infolge medialer Berichterstattung einem öffentlichen Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Für mich selbst kann ich sagen: ich lese gelegentlich Zeitungsartikel über Verfahren, an denen ich selbst beteiligt bin – und wundere mich nicht selten über das, was berichtet wird oder unerwähnt bleibt. Einen nennenswerten öffentlichen Druck verspüre ich dabei normalerweise nicht. Vor einigen Tagen haben wir zwei junge Männer, die im Zusammenhang mit einer Schießerei auf offener Straße angeklagt waren, freigesprochen, weil ein Tatnachweis nicht möglich war. Öffentlicher Druck? Egal: wenn wir nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt sind, verurteilen wir ihn nicht!

Dennoch: gänzlich fremd ist mir öffentlicher Druck nicht. Im Verfahren gegen Oskar Gröning schaute buchstäblich die ganze Welt nach Lüneburg und auf uns als Schwurgericht. Die Beweislage war vergleichsweise einfach, hatte doch der Angeklagte seine Tätigkeit als SS-Mann in Auschwitz zugegeben. Dementsprechend standen rechtliche Fragen im Vordergrund, namentlich die nach seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Täter oder Gehilfe?) und die nach einer tat- und schuldangemessen Strafe für die über 70 Jahre zurückliegende Tat. Hinzu kam der Vorwurf, die deutsche Justiz stelle nach jahrzehntlangem Versagen bei der Verfolgung von NS-Tätern nunmehr den hochbetagten Angeklagten stellvertretend für tausende von SS-Männer, Soldaten und Mitgliedern sog. „Einsatzgruppen“ an den Pranger. An diesem Vorwurf war durchaus etwas dran, zumindest was das jahrzehntelange Versagen der Justiz angeht. Kann ein Urteil unter diesem Umständen noch gerecht sein? Wir haben uns nach Kräften um Gerechtigkeit bemüht, und der BGH hat das Urteil bestätigt. Zumindest handwerklich war es also richtig.

In Chemnitz lag der Fall – soweit ich es den Medien entnommen habe – offenbar anders. Die Beweislage sei „bis zum Schluss dünn“ gewesen, schrieb die taz. Damit stellt sich die juristische Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Schuldspruch oder ein Freispruch zu erfolgen haben. In § 261 StPO heißt es hierzu: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“

Die sog. „freie Beweiswürdigung“ bildet den Kern des deutschen Strafprozesses, und die rechtliche Voraussetzungen sind durch den Bundesgerichtshof seit Jahren geklärt. In einer Entscheidung des 2. Strafsenats (BGH, 27.10.2015, 2 StR 4/15) heißt es hierzu: „Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Allein ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder wenn die Beweiserwägungen gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen. Zudem muss das Urteil erkennen lassen, dass der Tatrichter sämtliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert voneinander bewertet, sondern sie müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden. Werden diese Grundsätze beachtet, kann der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auch dann gewinnen, wenn ein auf das Kerngeschehen der Tat bezogenes Beweismittel fehlt und die Überführung des Angeklagten darauf beruht, dass alle konkret in Frage kommenden Alternativen ausgeschlossen werden. Dieses methodische Vorgehen ist allerdings nur dann eine tragfähige Grundlage für die Verurteilung wegen eines Tötungsverbrechens, wenn alle relevanten Alternativen mit einer den Mindestanforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung genügenden Weise abgelehnt werden, wobei ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht auf bloß denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt. Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit setzt zudem ausreichende objektive Grundlagen voraus. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage beruht, und dass sich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht als bloße Vermutung erweist, die nicht mehr als einen – wenn auch schwerwiegenden – Verdacht zu begründen vermag.“

Ob diese Voraussetzungen im Fall Alaa S. erfült sind oder nicht, wird sich zeigen. Allein das Fehlen von „Spuren“, „Kratzern“ und „DNA“ – wie es der Kommentar bei Spiegel Online suggeriert – macht die Entscheidung juristisch jedenfalls noch nicht falsch oder zu einem „Urteil im Namen des zornigen Volkes“! Selbst wenn die Leiche des Opfers nicht gefunden wird, kann das Gericht aus der Gesamtschau belastender Indizien rechtsfehlerfrei auf ein Tötungsverbrechen schließen (BGH, 02.05.2012, 2 StR 395/11).

Allemal unglücklich – wenn nicht verantwortungslos – sind Aussagen von (Lokal-)Politikern wie: „Ich hoffe aber noch mehr für die Familie des Opfers, dass es eine Verurteilung gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können“, mit denen die Oberbürgermeisterin von Chemnitz zitiert wird. Welche „Ruhe“ bringt die Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen? Frau Ludwig, ich bin froh, dass die schwierige Entscheidung über Schuld und Unschuld in diesem Fall nicht in Ihrer Verantwortung lag!

Lebenslang – muss das sein?

Den Artikel unter dem Bild habe ich bereits Anfang Juli 2019 veröffentlicht. Heute nun las ich bei spiegel.de eine thematisch passende Kolumne von Thomas Fischer, seines Zeichens ehemaliger BGH-Richter, kluger Kopf und Querdenker. Und der hat zu Dauer und Auswirkungen einer lebenslangen Freiheitsstrafe folgendes geschrieben: „In der Praxis werden lebenslange Freiheitsstrafen, wenn überhaupt, ohne „Schuldschwere“-Feststellung nach durchschnittlich 18 Jahren, mit Feststellung nach durchschnittlich 24 Jahren auf Bewährung ausgesetzt. Wenn so viel Zeit vergangen ist (Ali B. wird dann knapp 50 sein), ist regelmäßig von „Aufarbeitung“, „Therapie“, „Auseinandersetzung mit der Tat“ nichts mehr übrig. Meist nach spätestens zehn Jahren JVA sind die „lebenslang“ Gefangenen stumpf, formal angepasst, defensiv, reduziert. Die meisten haben dann keinen Kontakt mehr nach „draußen“. Viele werden in der Haft schwer krank oder dement, nicht wenige sterben dort; andere stellen gar keinen Aussetzungsantrag mehr. Die Rückfallquote bei „Lebenslänglichen“ ist sehr gering.“

Perspektive „lebenslang“

Jährlich soll es in Deutschland etwa 90 Verurteilungen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe geben, und rund 1.800 Inhaftierte sollen eine derartige Strafe verbüßen.

Den weitaus meisten dieser Fälle dürfte eine Verurteilung wegen Mordes (§ 211 StGB) zugrunde liegen. Der Mordparagraph hat schon aufgrund seiner Herkunft – seine heutige Fassung basiert auf dem „Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches“ vom 04.09.1941 – einen schweren Stand in der juristischen Wissenschaft. Die nationalsozialistische „Tätertypenlehre“ („Der Mörder ist von grundsätzlich anderer Wesensart als derjenige, der einen Totschlag begeht.“), die u.a. vom späteren Vorsitzende des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, mitentwickelt wurde, ist ein Fremdkörper im deutschen Strafrecht.

Noch heftiger umstritten als der Tatbestand ist seine Rechtsfolge, die allein in der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestehen kann. Gegen die lebenslange Freiheitsstrafe wird seit Jahrzehnten argumentiert. Ihre Gegner bezeichnen sie als „soziale Vernichtungsstrafe“, in der der Geist der Nationalsozialisten weiterlebe, weisen auf die schwerwiegenden, irreparablen Folgen eines langjährigen Strafvollzuges hin und bezweifeln, dass sich potentielle Täter durch die vermeintlich abschreckende Strafhöhe von der Begehung der Tat abhalten lassen. In diesem Zusammenhang wird angeführt, dass die Mordrate in den USA trotz der dort mancherorts drohenden Todesstrafe fast viermal so hoch sei wie in Deutschland, wohingegen sie in Ländern ohne lebenslange Freiheitsstrafe (z.B. Spanien, Norwegen und Portugal) in etwa auf demselben Niveau liege wie hierzulande. Zudem sei die Rückfallquote bei Tötungsdelikten so niedrig, dass auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kein lebenslanges Wegsperren erfordere bzw. rechtfertige.   

Aus tatrichterlicher Sicht kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Ein Geständnis nützt dem Mörder – anders als allen anderen Tätern – gar nichts. Eine Verständigung („Deal“) über den Schuldspruch (Mord oder Totschlag) ist nicht möglich (§ 257c Abs. 2 StPO), und auch sonst kann eine strafmildernde Wirkung nicht zum Tragen kommen, weil es bei der „Punktstrafe“ des § 211 StGB keine Strafzumessung anhand der individuellen Schuld gibt. Viele Angeklagte wehren sich nicht zuletzt aus diesen Gründen gleichsam mit Händen und Füßen gegen eine Verurteilung wegen Mordes, egal wie aussichtsreich oder aussichtslos dieses Unterfangen ist.

Die vehemente „Alles-nur-kein-Mord“-Verteidigung ist aus Sicht des Angeklagten verständlich, hat aber ihren Preis. Der Angeklagte zahlt im Falle einer Verurteilung – zu was auch immer – einen erheblichen finanziellen Preis, denn eine lange Hauptverhandlung mit mehreren Verteidigern sowie ggfs. Nebenklage- und Adhäsionsklagevertretern ist natürlich ungleich teurer als eine, die durch ein Geständnis abgekürzt wird. Der finanzielle Ruin ist so gut wie sicher, egal ob am Ende wegen Mordes oder wegen Totschlags verurteilt wird.

Die weiteren Leidtragenden – und an dieser Stelle kommt der Aspekt „Opferschutz“ ins Spiel – sind in vielen Fällen die Hinterbliebenen des Tatopfers. Sie müssen miterleben , wie das (Privat-)leben ihrer Eltern, Geschwister oder Kinder in öffentlicher Verhandlung nicht nur thematisiert, sondern bis in die hintersten, intimsten Winkel ausgeleuchtet und von der Presse begierig zu mitunter reißerischen Schlagzeilen und Berichten verarbeitet wird. Aus Gesprächen mit Rechtsanwälten weiß ich, dass viele Hinterbliebene die Hauptverhandlung und die Presseberichterstattung als extrem belastend erleben und haben das Gefühl haben, dass das Ansehen ihrer Mutter, ihrer Sohnes oder ihrer Schwester posthum irreparabel beschädigt wird. Wie viele Qualen und Peinlichkeiten könnten ihnen, aber auch dem Angeklagten, erspart werden, wenn es auch beim Mord die Möglichkeit eines strafmildernden Geständnisses gäbe? Und wieviel Vertrauen in den Rechtsstaat könnte gerettet werden, wenn es möglich wäre, durch die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls in angemessener Zeit zu einer tat- und schuldgerechten Strafe zu kommen, statt nach einer Vielzahl von Hauptverhandlungstagen das unvermeidliche „lebenslang“ zu verhängen? 

Der Gesetzgeber hat das Problem erkannt, bislang aber nicht gelöst. Ein Lösungsansatz findet sich im Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus dem Jahr 2016. Darin wird für die Neuregelung des Mordes folgendes vorgeschlagen

§ 212 Mord

(1) Wer einen anderen Menschen tötet und dabei
1. dessen Wehrlosigkeit ausnutzt,
2. grausam handelt oder
3. wenigstens einen weiter en Menschen in die Gefahr des Todes bringt,
wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.  Ebenso wird bestraft, wer einen anderen Menschen aus besonders verwerflichen Beweggründen tötet, insbesondere
1. aus Mordlust,
2. zur Befriedigung des Geschlechtstriebs,
3. aus Habgier,
4. um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken oder
5. aus menschenverachtenden Beweggründen (§ 46 Absatz 2 Satz 2).

(2) Liegen besondere Umstände vor, welche das Unrecht der Tat oder die Schuld des Täters erheblich mindern, ist auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren zu erkennen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Täter
1. aus Verzweiflung handelt, um sich oder einen ihm nahe stehenden Menschen aus einer ausweglos erscheinenden Konfliktlage zu befreien, oder
2.ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem ihm nahe stehenden Menschen zugefügte schwere Beleidigung, Misshandlung oder sonstige Rechtsverletzung zum Zorn gereizt oder in eine vergleichbar heftige Gemütsbewegung versetzt und dadurch unmittelbar zur Tat veranlasst worden ist.

Der Gesetzgeber ist also weiterhin weder bereit, sich von den althergebrachten Mordmerkmalen noch von der lebenslangen Freiheitsstrafe, die ja nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf die Menschenwürde keine solche im Wortsinne sein darf, zu verabschieden. Spielt da etwa die Furcht vor den Schlagzeilen der BILD (etwa: „Deutschland einig Mörderland!“) und den Parolen der AFD eine Rolle?