Diagnose „Persönlichkeitsstörung“

Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ ist ein schillernder Begriff, mit dem psychiatrische Sachverständige mitunter (zu) großzügig umgehen. Dies gilt insbesondere für die „emotional instabile“ und die „dissoziale“ Persönlichkeitsstörung. Oft werden Angeklagte in diese Schubladen gesteckt, die zu impulsiven Gewalttaten („emotional instabil“) oder wiederholten Gesetzesübertretungen („dissozial“) neigen. Die rechtlichen Folgen können äußerst einschneidend sein: wenn die Persönlichkeitsstörung die Qualität einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne von § 20 StGB erreicht, kommt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) in Betracht!

Der Bundesgerichtshof ist daher – zu Recht – von jeher sehr kritisch, wenn es um Persönlichkeitsstörungen und deren mögliche Rechtsfolgen geht. Gerade bei der „dissozialen Persönlichkeitsstörung“ besteht die Gefahr von Zirkelschlüssen, denn „deliquentes Verhalten ist bereits ein diagnostisches Kriterium“ (Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5 Auflage, S. 316), obwohl sich die Begehung von Straftaten auch „normalpsychologisch“ erklären lässt („kriminelle Entscheidungsfindung“).

Die typischen „Knackpunkte“ sind – einmal mehr – Gegenstand einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.05.2019, 1 StR 651/18). Der Angeklagte war vom Landgericht Kempten wegen Mordes in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und wegen Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Zudem war seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden. Der BGH hat das Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Zum Sachverhalt heißt es in der Revisionsentscheidung: „Der an einer „mit Krankheitswert versehenen Persönlichkeitsstörung“ mit „emotional instabilen und dissozialen Anteilen gemäß ICD.10 F61.0“ leidende Angeklagte hatte bereits im Kindesalter das Elternhaus verlassen und in Rumänien mehrere Gewalttaten, unter anderem Raub und Vergewaltigung, begangen. Deswegen war er in Rumänien mehrmals zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, darunter zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren; er war dreimal inhaftiert, unter anderem von März 2004 bis Mai 2015. In Deutschland hatte er sich wegen einer am 30. April 2016 versuchten Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung bis zum Tag der Urteilsverkündung am 28. Februar 2017 in Untersuchungshaft befunden.

Der Angeklagte drang am Abend des 8. März 2017 gewaltsam in die verschlossene Einliegerwohnung eines abseits gelegenen Hauses in L. ein und entwendete mehrere Alltagsgegenstände, die er zum späteren Abholen etwa 150 Meter vom Haus entfernt deponierte. Die Mieter waren für sechs Monate ortsabwesend.

Anschließend verschaffte sich der Angeklagte mit Gewalt Zugang zur im selben Haus befindlichen verschlossenen Wohnung des Geschädigten H., um auch dort Gegenstände zu entwenden. Dort traf er auf den 76-jährigen am Herzen und an Diabetes erkrankten Geschädigten. Ab diesem Zeitpunkt befand sich der Angeklagte aufgrund seiner „psychiatrischen Grunderkrankung“ nicht ausschließbar in einem „derart starken Anspannungszustand“, „in dem er möglicherweise im Rahmen seiner schweren Persönlichkeitsstörung nicht mehr ausreichend in der Lage gewesen sein könnte, seine aggressiven Handlungsimpulse zu steuern“. Er brach dem Geschädigten durch einen kräftigen Schlag oder Tritt den Kiefer und versetzte ihm mehrere Schläge bzw. Tritte gegen den Kopfbereich, den Rücken, die Arme sowie gegen den Brustkorb und die Handgelenke. In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Gewaltanwendung fasste der Angeklagte den Entschluss, H.  zu töten, um zu verhindern, dass dieser ihn als Täter der Einbruchtat identifizieren werde. Der Angeklagte würgte den Geschädigten zu Tode, wobei Zungenbeinfortsatz und -hörner abbrachen, platzierte ihn entkleidet in der Duschkabine und ließ Wasser einlaufen, um den Tod als einen Badeunfall aussehen zu lassen. Um sämtliche Tatspuren des Einbruchs und der Tötung zu beseitigen, setzte der Angeklagte, der zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt 150 € Bargeld an sich nahm, das Wohnzimmer durch Entzünden geeigneter Gegenstände in Brand; die Flammen breiteten sich über die Decke des Wohnzimmers über das gesamte Haus aus, das vollständig abbrannte.“

Was war aus Sicht des BGH schiefgelaufen?

Zunächst monierte der Senat – geradezu klassisch – die Ausführungen des Landgerichts zur Diagnose und deren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten. Die Ausführungen zu diesem Punkt sind ständige Rechtsprechung und lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ hat für sich genommen keinerlei rechtlich Aussagekraft, denn „dabei handelt es sich um einen Oberbegriff zu verschiedenen Varianten, die unterschiedliches Gewicht haben. Diese reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirkender Ausprägungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, deren Störungsgrad Krankheitswert zukommt.“ Der BGH vermisste eine Zuordnung der Persönlichkeitsstörung zu einem Eingangskriterium des § 20 StGB und führte weiter aus: „Gelangt der Sachverständige zur Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, ist dies noch nicht mit der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit für die Beurteilung der Schuldfähigkeit entscheidend.“ Insoweit seien die Feststellungen lückenhaft.

Auch die Versagung der möglichen Strafrahmenverschiebung gem. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB überzeugte den Senat nicht: „Zwar sieht § 21 StGB auch bei der absolut bestimmten Strafandrohung des § 211 StGB nur eine fakultative Strafmilderung vor. Ob eine Milderung des Strafrahmens nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen oder zu versagen ist, hat das Tatgericht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Bei verminderter Schuldfähigkeit ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt und damit die Strafwürdigkeit der Tat verringert sind, sodass regelmäßig eine Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen ist, wenn nicht andere schulderhöhende Umstände, die diese Schuldminderung kompensieren, dem entgegenstehen. Das Ausmaß der fakultativen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB lässt dabei erkennen, dass der Gesetzgeber die Tatschuld als typischerweise beträchtlich verringert ansieht, wenn der Täter vermindert schuldfähig war. Hieraus folgt, dass es für die Verweigerung der Milderung eines besonderen Grundes bedarf, der umso gewichtiger sein muss, je gravierender sich die Beibehaltung des Regelstrafrahmens auswirkt. Hat das Tatgericht – wie hier – die Wahl zwischen lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe, müssen besondere erschwerende Gründe vorliegen, um die mit der verminderten Schuldfähigkeit verbundene Schuldminderung so auszugleichen, dass von einer Milderung des Strafrahmens abgesehen werden darf.“

Ferner vermisste der Senat eine Prüfung der Maßregelanordnung nach § 63 StGB und führte hierzu aus: „Sollte im Rahmen erneuter Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit gesichert festgestellt werden, wird auch eine Unterbringung nach § 63 StGB zu prüfen sein, die zwar kein „geringeres“, sondern ein „anderes“ Übel gegenüber die Sicherungsverwahrung darstellt; sie erweist sich aber schon deshalb regelmäßig als die weniger beschwerende Maßregel, weil sie grundsätzlich vor der Strafe vollzogen und auf die Strafe angerechnet wird (§ 67 Abs. 1, 4 StGB). Auch aus diesem Grund ist – und zwar unabhängig von der Frage der Therapierbarkeit – der Maßregelanordnung nach § 63 StGB in der Regel gegenüber der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung der Vorrang einzuräumen. Sind beide Maßnahmen (§§ 63, 66 StGB) gleichermaßen geeignet, den erstrebten Zweck zu erreichen, so ist der Maßregel der Vorzug zu geben, die den Täter am wenigsten beschwert (§ 72 Abs. 1 Satz 2 StGB).“

Hangtäterschaft und Allgemeingefährlichkeit als Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung

In zwei aktuellen Entscheidungen hat sich der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zu Hangtäterschaft und Allgemeingefährlichkeit als Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) und die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) geäußert. Danach müssen das Vorliegen (§ 66 Abs. 1 Nr. 4) bzw. das wahrscheinliche Vorliegen (§ 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB) eines Hanges umfassend und lückenlos begründet werden. Außerdem sind die Tatbestandsmerkmale „Hang“ und „Allgemeingefährlichkeit“ streng voneinander getrennt zu beurteilen!

Im ersten Fall (BGH, 22.05.2019, 4 StR 34/19) hatte der Angeklagte aus Verärgerung darüber, dass er von seinem Konto infolge einer Pfändung kein Geld mehr abheben konnte, den Filialleiter seiner Bank geschlagen und mit einem Messer attackiert. Der Geschädigte hatte hierdurch eine rund eineinhalb Zentimeter messende, oberflächliche Stichverletzung im Bereich der linken Gesichtshälfte sowie eine Jochbeinprellung erlitten. Das Landgericht Frankenthal (Pfalz) hatte den Angeklagten daraufhin wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gem. § 66a StGB vorbehalten.

Der 4. Strafsenat hob das Urteil im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf. Er monierte „die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Wahrscheinlichkeit einer Hangtäterschaft (vgl. § 66a Abs. 2 Nr. 3 StGB) begründet hat“ als „lückenhaft“. Das Landgericht habe „nicht erkennbar bedacht, dass die zum Nachteil eines Finanzbeamten begangene und als symptomatisch angesehene“ (Vor-)Tat bereits 16 Jahre zurückgelegen habe und der Angeklagte – soweit ersichtlich „seither mit motivatorisch vergleichbaren Handlungen“ nicht mehr auffällig geworden sei. Darüber hinaus habe das Landgericht nicht erkennbar in seine Hangprüfung eingestellt, dass der im Jahr 2007 aus dem Strafvollzug entlassene Angeklagte letztmals im Jahr 2011 wegen Körperverletzung straffällig geworden und seither nicht mehr in Erscheinung getreten sei. Stattdessen habe er seit seiner letzten Haftentlassung im Jahr 2007 in einer Obdachlosenunterkunft nach den Feststellungen ein „weitestgehend unauffälliges, […] sehr geordnetes und nach seinen festen Regeln bestimmtes Leben“ geführt. Diese Umstände, so der BGH, „hätten in die Hangprüfung eingestellt und Anlass zur Prüfung der Frage geben müssen, ob die Anlasstat Ausnahmecharakter trägt“, weil sie möglicherweise nicht Symptom eines Hanges, sondern Ausfluss einer finanziellen Notlage infolge der Kontopfändung sein könne.

Im zweiten Fall (BGH, 09.05.2019, 4 StR 578/18) hatte das Landgericht Freiburg den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 14 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Von der Anordnung der Unterbringung des „an einer Sexualpräferenzstörung in Form einer Pädophilie leidenden Angeklagten“ in der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt hatte das Landgericht abgesehen.

Auch damit war der 4. Strafsenat nicht einverstanden. Das Landgericht habe „die Prüfung der Hangtäterschaft mit Elementen der Gefahrenprognose vermischt und sich dadurch den Blick für die im Rahmen der Hangtäterschaft erforderliche umfassende Vergangenheitsbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und der von ihm begangenen Taten verstellt“.
Der Rechtsbegriff des Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB, so der Senat, bezeichne „einen eingeschliffenen inneren Zustand, der den Täter immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Ein Hang liegt bei demjenigen vor, der dauerhaft zur Begehung von Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Hangtäter ist auch derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Das Vorliegen eines Hangs im Sinne eines gegenwärtigen Zustands ist vom Tatgericht auf der Grundlage einer umfassenden Vergangenheitsbetrachtung in eigener Verantwortung wertend festzustellen.“
Wenn ein Hang vorliege, sei „im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose die Wahrscheinlichkeit dafür einzuschätzen, ob sich der Täter in Zukunft trotz Vorliegen eines Hangs erheblicher Straftaten enthalten kann oder nicht. Der Hang ist dabei nur ein – wenngleich wesentliches – Kriterium, das auf eine Gefährlichkeit des Angeklagten hindeutet und als prognostisch ungünstiger Gesichtspunkt in die Gefährlichkeitsprognose einzustellen ist“. Prognostische Erwägungen seien also erst in einem zweiten Schritt im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose anzustellen. Stattdessen habe das Landgericht „die Ablehnung eines Hangs mit prognostischen Erwägungen und unter Bezugnahme auf eine Reihe von protektiven Faktoren begründet“ und „damit verkannt, dass mögliche positive Wirkungen eines künftigen erstmaligen längeren Strafvollzugs sowie die Wirkungen von Therapieangeboten in der Haft zur Verneinung eines Hangs nicht herangezogen werden dürfen“. Für die Hangtäterschaft sei „maßgeblich auf den Urteilszeitpunkt abzustellen; künftige, noch ungewisse Entwicklungen haben außer Betracht zu bleiben.“
Es sei „nicht auszuschließen, dass das neue Tatgericht zu Feststellungen gelangt, welche die Annahme oder die Wahrscheinlichkeit eines Hangs und die Annahme oder Wahrscheinlichkeit tragen, der Angeklagte werde künftig den Anlassdelikten vergleichbare schwere sexuelle Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern begehen.“ Über den Maßregelausspruch müsse daher neu verhandelt und entschieden werden.