Video-Verhöre kaum möglich?

Vor ein paar Tagen fiel mir zufällig die „Schweriner Volkszeitung“ vom 23.01.2020 in die Hände. Auf der ersten Seite prangte die Überschrift „Video-Verhöre kaum möglich“, versehen mit der Unterzeile „Seit 1. Januar neue Vorschriften bei Vernehmungen von Mordverdächtigen / Polizei sieht sich ungenügend gerüstet“. So etwas erregt naturgemäß meine Aufmerksamkeit. Ist – zumindest in Mecklenburg-Vorpommern – die Umsetzung der neu geregelten Bild-Ton-Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung in Gefahr?

Video-Verhöre kaum möglich?

Es existieren, so der Artikel, landesweit derzeit 5 Videovernehmungsräume bei der Polizei, 14 weitere seien „im Aufbau“. Das entspricht einer Fertigstellungsquote von guten 26%. Bei einem Gesetz, das am 23.08.2017 veröffentlicht wurde, ist das wahrlich kein Ruhmesblatt für das Innenministerium. Das nordöstlichste aller deutschen Justizministerien scheint, wenn man dem Artikel glauben darf, besser aufgestellt zu sein: alle vier Staatsanwaltschaften sollen zumindest über „funktionierende Übergangslösungen“ verfügen.

Die Regelung, in Kraft getreten am 1.1.2020, wurde am 23.8.2017 veröffentlicht!

Über die Gründe für die derzeitige Situation lässt sich der „Schweriner Volkszeitung“ nichts entnehmen. Möglicherweise haben die Verantwortlichen ja die Gesetzesbegründung gelesen und daraus den Schluss gezogen, dass man sich nicht sonderlich beeilen müsse. Denn ausweislich des Regierungsentwurfs (dort S. 27 unten) stellt § 136 Absatz 4 StPO nur eine „Ordnungsvorschrift“ dar. Für mich ehrlicherweise überraschend: Verstöße gegen diese Norm sollen nach dem gesetzgeberischen Willen weitgehend folgenlos bleiben! Im Gesetzentwurf heißt es dazu: „Bei Vorhandensein einer Videoaufzeichnung kann der Nachweis der Einhaltung der Vernehmungsformalitäten grundsätzlich leichter erbracht werden. Ist keine Videoaufzeichnung vorhanden, gelten die hergebrachten Grundsätze für die Feststellung der Einhaltung der Vernehmungsförmlichkeiten im Freibeweisverfahren; der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt grundsätzlich nicht (statt aller Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Auflage 2015, § 136 Rn. 23; § 136a Rn. 32). Aus dem Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung kann folglich nicht der Schluss gezogen werden, dass die Vernehmungsförmlichkeiten nicht eingehalten wurden oder ihre Einhaltung nicht mehr feststellbar sei. Auch im Übrigen führt das Fehlen einer audiovisuellen Aufzeichnung grundsätzlich nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage im weiteren Verfahren, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung vorgelegen haben.“

Nur eine „Ordnungsvorschrift“ – der neue § 136 Abs. 4 StPO!

Ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt abzuwarten. Als Verteidiger wird man trotz der Gesetzesbegründung kaum umhinkommen, bei Verstößen gegen § 136 Abs. 4 StPO in geeigneten Fällen Verwertungswiderspruch zu erheben. Ob’s was nützt ist freilich ungewiss…

„Nur eine Frau“ – Ehrenmord, Blutrache & Co.

Am Mittwoch, den 29.01.2020 um 20:15 zeigt die ARD den Kinofilm „Nur eine Frau“ von Sherry Hormans, der – wenn auch in abgewandelter Form – vom gewaltsamend Tod der damals 23-jährigen Hatun Aynur Sürücü im Jahre 2005 erzählt. Die junge Frau hatte sich von ihrem Ehemann getrennt und sich mit ihren Eltern überworfen, woraufhin einer ihrer Brüder (damals 19 Jahre alt) sie an einer Bushaltestelle in Berlin erschoss. Es ging also nicht um Blutrache, sondern um eine sog. Ehrenmord.

In juristischer Hinsicht stellt sich in Fällen wie dem oben beschriebenen regelmäßig die Frage, ob und wie viele Mordmerkmal vorliegen. Wenn der Täter sein Opfer unter bewusster Ausnutzung des Überraschungsmoments tötet, liegt Heimtücke vor. Damit ist die Tat als Mord qualifiziert, der Täter ist gemäß § 211 StGB zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Damit hat es allerdings noch längst nicht sein Bewenden, denn wenn ein zweites Mordmerkmal hinzutritt, droht ihm noch schlimmeres Unheil, nämlich die Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“ im Sinne von § 57a StGB.

Das zweite Mordmerkmal, das regelmäßig in Betracht kommt, ist die Begehung der Tat aus „niedrigen Beweggründen“. Zur Erinnerung: „Beweggründe sind im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB niedrig, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verachtenswert sind.“ (BGH, 22.03.2017, NStZ 2018, 527). Geht man davon aus, dass der Bruder von Hatun Sürücü, um bei diesem Fall zu bleiben, sich um der Familienehre willen nicht nur berechtigt, sondern möglicherweise sogar verpflichtet fühlte, seine „ehrlose“ Schwester zu töten, stellt sich die Frage, aus wessen Sicht zu bestimmen ist, was „sittlich auf tiefster Stufe steht“. Klar ist: einen allgemein akzeptierten Konsens wird man vielen Fällen aufgrund der Heterogenität der Gesellschaft und der verschiedenen kulturellen und religiösen Prägungen und Vorstellungen nicht ermitteln können. Die „allgemeine sittliche Wertung“ übernehmen daher letztlich die Gerichte, in buchstäblich letzter Instanz der Bundesgerichtshof. Und der hat dazu unlängst (BGH, 28.11.2017, 5 StR 480/17, NStZ 2018, 92) wieder entschieden: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe zu entnehmen, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt . Vor diesem Hintergrund kann die Verwurzelung eines Täters in einem anderen Kulturkreis und in einer bestimmten Glaubensform nur ganz ausnahmsweise die Ablehnung der subjektiven Seite niedriger Beweggründe rechtfertigen.“ Damit ist klar: bei der Frage, was ein „niedriger Beweggrund“ ist, gibt es eine Art „bundesrepublikanische Leitkultur“, die sich am Grundgesetz (insbesondere der Menschenwürde, dem Recht auf Leben und der Gleichberechtigung von Mann und Frau) orientiert.

„Nur eine Frau“ – Ehrenmord, Blutrache & Co.

Vor diesem Hintergrund ist zu differenzieren: beruht die Tatmotivation (Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht) auf „einem (berechtigten) Gefühl erlittenen schweren Unrechts und entbehren sie damit nicht eines beachtlichen, jedenfalls einleuchtenden Grundes, spricht dies gegen eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation“. Ein Beispiel hierfür wäre die Tötung eines Mörders durch den Sohn des Opfers, sofern diesen bei Begehung seiner Tat der Tod seines Vaters noch erheblich belastet.

Wenn sich der Täter hingegen „seiner persönlichen Ehre und der Familienehre wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt“, steht sein Motiv in der Regel „sittlich auf tiefster Stufe“ (BGH, 10.01.2006, 5 StR 341/05, NStZ 2006, 286). Das ist bei „Ehrenmorden“ zum Nachteil von Frauen, die wie Hatun Sürücü nicht mehr wollen als ein selbst bestimmtes Leben zu führen, regelmäßig der Fall.

Der besonders schwere Fall des Totschlags

Der besonders schwere Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB) ist ein Exot und kommt in der Praxis ungefähr so häufig vor wie eine Sonnenfinsternis. Dennoch gibt es ihn, wie eine aktuelle Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, 22.01.2020, 5 StR 407/19) beweist. Also schauen wir uns dieses seltene Phänomen einmal aus der Nähe an.

Der besonders schwere Fall des Totschlags ist ein Exot!

Das Besondere am besonders schweren Fall des Totschlags ist seine Rechtsfolge – die lebenslange Freiheitsstrafe. Damit wird ein Totschläger – ausnahmsweise – wie ein Mörder bestraft. Nach der Rechtsprechung (BGH, 07.08.2018, 3 StR 47/18) sind die Voraussetzungen entsprechend hoch: „Ein besonders schwerer Fall des Totschlags setzt voraus, dass das in der Tat zum Ausdruck kommende Verschulden des Täters außergewöhnlich groß ist. Es muss ebenso schwer wiegen wie das eines Mörders. Dafür genügt nicht schon die bloße Nähe der die Tat oder den Täter kennzeichnenden Umstände zu gesetzlichen Mordmerkmalen. Es müssen vielmehr schulderhöhende Gesichtspunkte hinzukommen, die besonders gewichtig sind.“

In dem jüngst entschiedenen Fall sah der 5. Strafsenat diese Voraussetzungen als erfüllt an. In der Pressemitteilung des BGH heißt es zum tatsächlichen Geschehen: „Nach den Urteilsfeststellungen töteten die stark alkoholisierten und daher in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Angeklagten den als „Squeezer“-Sänger bekannten Musiker und Moderator Jim R. im Januar 2016 in einem Berliner Hostel mit brutalen Schlägen und Tritten. Tatmotiv waren Wut und Empörung der Angeklagten darüber, dass ihnen ihr Zimmergenosse sexuelle Avancen gemacht hatte.“

Bemerkenswert ist, dass die Angeklagten mit zeitigen Freiheitsstrafen von 13 bzw. 14 Jahren „davongekommen“ sind. Damit wir uns nicht falsch verstehen: das ist beileibe kein „Pappenstiel“ , das sind ganz erhebliche Strafen. Aber dem drohenden „Lebenslang“ sind die Angeklagten entgangen, und das ist alles andere als selbstverständlich. Die (nur) alkoholbedingte erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB führt nämlich nicht mehr automatisch zu der – hier gewährten – Strafrahmenverschiebung. Näheres hierzu erfahren wir möglicherweise, wenn die Entscheidung in Gänze veröffentlicht ist.

Sittlich auf tiefster Stufe – der „niedrige Beweggrund“

Die Tötung aus „niedrigen Beweggründen“ ist – neben der Heimtücke – das praxisrelevanteste Mordmerkmal. Und aus diesem Grund ist die Prüfung, ob eine Tatmotivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“, auch immer wieder Gegenstand von Examensklausuren. Zugleich ist es dasjenige Mordmerkmal, bei dem man am ehesten, wie es Strafverteidiger seit langem regelmäßig tun, den Vorwurf fehlender Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz) erheben kann.

Und es ist sicher auch das Mordmerkmal, dass am meisten an den (Un-)Geist seiner Väter erinnert, denn die Einführung der Mordmerkmale, wie sich noch heute gelten, geht auf die NS-Zeit zurück. Tatsächlich ist § 211 StGB seit 1941 weitgehend unverändert geblieben, wenn man davon absieht, dass es heutzutage weder die Zuchthaus- noch die Todesstrafe (Art. 102 Grundgesetz) gibt. Nach der Gesetzessystematik ist der „niedrige Beweggrund“ als Generalsklausel gedacht und soll diejenigen Fälle erfassen , die sich nicht unter ein anderes Mordmerkmal subsumieren lassen, aber dennoch besonders verachtenswert erscheinen und eine besonders hohe Strafe rechtfertigen. Für die Justiz im Nationalsozialismus war „niedrig“, was der damaligen Weltanschauung und Rassenlehre widersprach. Der „niedrige Beweggrund“ war demnach auch und vor allem ein politisches Mordmerkmal und Werkzeug der Repression.

Der „niedrige Beweggrund“ – ein ursprünglich politisches Mordmerkmal!

Heutzutage gilt naturgemäß ein anderer Maßstab und nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.09.2019, 5 StR 399/19) in Ansehung des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) folgende Definition: „Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Die Beurteilung der Frage, ob ein Beweggrund „niedrig“ ist und – in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag – als verachtenswert erscheint, hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit zu erfolgen. Bei einer Tötung aus Wut, Ärger, Hass oder Rache kommt es darauf an, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen. Wut oder Verärgerung sind als niedrig einzustufen, wenn sie unter Berücksichtigung der Beziehung zwischen Täter und Opfer eines beachtlichen Grundes entbehren. Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt. In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann. Dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen.“

Außer Stande, sich von gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen?

Beim Vorliegen mehrerer verschiedener Motive („Motivbündel“) ist das Merkmal des niedrigen Beweggrundes“ nur erfüllt, wenn „das Hauptmotiv oder die vorherrschenden Motive, welche der Tat ihr Gepräge geben, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verwerflich sind“ (BGH, 12.09.2018, 2 StR 113/18).

In der Praxis haben sich diverse Fallgruppen entwickelt, in denen das Mordmotiv diese Voraussetzungen erfüllen kann. Hierzu gehört die Tötung des Intimpartnerin bzw. des Intimpartners. Im Einzelfall zu klären ist, ob die Tötung Ausdruck eines menschenverachtenden Besitzdenkens ist („Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch kein anderer haben!“ – zweifellos ein niedriger Beweggrund) oder ob sie auf dem Gefühl von Verzweiflung, innerer Ausweglosigkeit und erlittenem Unrecht beruht, was „eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation fraglich erscheinen“ lässt (BGH, 12.06.2013, 5 StR 129/13). Politisch motivierte Tötungen sind regelmäßig „niedrig“ im Sine von § 211 StGB.

Eine weitere bedeutsame Fallgruppe ist die Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers. Diese kann sich darin äußern, dass der Täter meint, nach eigenem Gutdünken über das Leben des Opfers verfügen zu können oder dass er das Opfer in besonders herabsetzender Weise gequält und getötet wird und damit „nicht einmal mehr ansatzweise als Person, sondern nur noch wie ein beliebiges Objekt, mit dem man nach hemmungslosem Gutdünken verfahren kann, behandelt wird.“ (BGH, 22.10.2014, 5 StR 380/14). Auch das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen (im konkreten Fall an einem knapp zweijährigen Kind) ist regemäßig „niedrig“. Hierzu hat der Bundesgerichtshof (BGH, 15.09.2015, 5 StR 222/15) ausgeführt: „Das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen an einem Opfer, das mit der Entstehung der Unzufriedenheit und Angespanntheit des Täters verantwortlich weder personell noch tatsituativ etwas zu tun hat, lässt auf das Vorliegen niedriger Beweggründe schließen: Derjenige, der einen anderen Menschen zum Objekt seiner Wut, Gereiztheit, Enttäuschung oder Verbitterung macht, obschon dieser an der Entstehung solcher Stimmungen nicht den geringsten Anteil hat, bringt mit der Tat eine Gesinnung zum Ausdruck, die Lust an körperlicher Misshandlung zum Inhalt hat. Insbesondere der Aspekt der willkürlichen Opferauswahl rechtfertigt die Einstufung solcher Tötungsakte als Mord; denn eine derartige Degradierung des Opfers zum bloßen Objekt belegt die totale Missachtung des Anspruchs eines jeden Menschen auf Anerkennung seines personalen Eigenwerts. Der den Eigenwert des Opfers negierende Vernichtungswille tritt hier – neben der Art und Weise der Tatausführung – zusätzlich auch in der Wortwahl des Angeklagten zu Tage, der das Kind während seiner Handlungen als Drecksgöre und Balg bezeichnete, mit dem man kein Mitleid haben müsse.“

Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Heute will ich meine geneigte Leserschaft zu einem Ausflug ins Strafvollstreckungsrecht einladen. Es geht um die Frage, ob die für eine Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB erforderliche günstige Sozialprognose bei Verurteilten, bei denen eine Suchtproblematik (Alkohol und/oder Betäubungsmittel) besteht, vom Vorhandensein eines Therapieplatzes abhängt. Oder verkürzt gefragt: Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Therapieplatz = Reststrafenaussetzung?

Das Gesetz beantwortet diese Frage nicht ausdrücklich. In § 57 Abs. 1 Nummer 3 StGB ist nur geregelt, dass eine Aussetzung des Strafrestes erfolgt, wenn dies „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. Die Weisung, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, ist in § 56c Abs. 3 StGB ausdrücklich vorgesehen mit der Maßgabe, dass der Verurteilte hierzu seine Einwilligung erteilen muss.

Mehrfach wöchentlich lese ich Stellungnahmen von Justizvollzugsbediensteten, in denen es heißt, eine bedingte Entlassung des Verurteilten werde mit der Maßgabe befürwortet, dass sich dieser direkt in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung begebe. Nicht selten – und einfach zu entscheiden – sind Konstellationen, in denen der Verurteilte entweder keine Kostenzusage oder kein Therapieplatz vorzuweisen hat. In diesen Fällen wird – von wenigen Ausnahmen, wie der Anbindung an ein Substitutionsprogramm, abgesehen – eine Reststrafenaussetzung mangels günstiger Sozialprognose ohnehin nicht in Betracht kommen.

Schwieriger wird es, wenn sich der Verurteilte mithilfe des Suchberaters in der JVA mit Erfolg um Kostenzusage und Therapieplatz bemüht hat. Wobei schwierig vor allem in menschlicher Hinsicht gilt, kommen doch Verurteilte in dieser Situation sehr häufig mit der Erwartung zur Anhörung, dass die Reststrafenaussetzung angesichts der von Ihnen geleisteten „Vorarbeit“ nur noch eine Formsache sei. Wenn man ihm dann eröffnet, dass dem keineswegs so ist, blickt man nicht selten in ein betretenes Gesicht. Weist man dann noch darauf hin, dass der Verurteilte eine stationäre Therapie doch auch im Anschluss an die Haftzeit absolvieren könne, schlägt einem oftmals blanken Unverständnis entgegen. Sätze wie: „Brauche ich nicht, ich bin doch schon seit Monaten clean!“ oder „Nach meiner Entlassung aus der Haft habe ich wirklich besseres zu tun!“ sind die typischen Reaktionen, die den tatsächlichen Stellenwert der – angeblich unbedingt gewollten – Therapie allzu deutlich erkennen lassen.

Kein Alkohol ist auch keine Lösung! Ich hab‘ es immer wieder versucht…
(Die Toten Hosen)

Und welchen juristischen Stellenwert hat das Vorhandensein eines Therapieplatzes bei der Beurteilung der Sozialprognose? In einer aktuellen Entscheidung vom 20.12.2019 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle (Download am Ende des Absatzes) ausgeführt: „Die dem Verurteilten erteilte Kostenzusage für die angestrebte Suchttherapie sowie der bereitstehende Therapieplatz sind hinsichtlich der Frage einer Reststrafenaussetzung für sich genommen positiv zu würdigende Umstände. Dies reicht jedoch nicht aus. Denn die Teilnahme an einer stationären Suchttherapie bildet so lange keine tragfähige Grundlage für die nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB für eine Reststrafenaussetzung erforderliche günstige Legalprognose, wie der Erfolg der Therapie ungewiss ist. Um die notwendige Gewissheit zu erlangen, muss die Therapie in der Regel abgeschlossen oder soweit gediehen sein, dass der Erfolg unmittelbar bevorsteht. Im Fall einer stationären Therapie kann es genügen, dass der Verurteilte sie bereits angetreten hat. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Erteilung einer Therapieweisung im konkreten Fall eine tragfähige Grundlage für eine günstige Entlassungsprognose bietet. Dies ist nur gegeben, wenn ein dauerhafter Erfolg der angestrebten Therapie wahrscheinlich ist.“

Damit liegt das Oberlandesgericht Celle auf eine Linie mit dem Kammergericht Berlin, das in seinem Beschluss vom 12.07.2018 (5 Ws 99/18, zitiert nach juris) außerdem verlangt, dass die Therapie die Ursachen der Strafbarkeit insgesamt beseitigt. Ist die Suchtproblematik hingegen nur eine Ursache unter vielen, würde selbst eine erfolgreiche Behandlung nicht ausreichen, um die Erwartung künftiger Straffreiheit zu rechtfertigen.

Folgt man der vorgenannten Entscheidungen, so sind Reststrafenaussetzungen mit Therapieweisung die absolute Ausnahme. Dass dies für Angeklagte und Verteidiger keine frohe Botschaft ist, liegt auf der Hand. Andererseits ist die Strafvollstreckungskammer auch nicht dazu berufen, die frohe Botschaft zu verkünden, sondern dazu, die Sozialprognose eines Verurteilten einzuschätzen. Und leider zeigt die Erfahrung, dass mit dem Haftdruck nicht selten auch die Krankheits- und Behandlungseinsicht nachlässt. Mit den Worten des KG Berlin ausgedrückt: „Gewährleistet wäre bei dem vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Procedere allein dessen Ankunft in der Therapieeinrichtung. Dagegen wären sein dortiger Verbleib und seine aktive Mitwirkung an der Therapie ungewiss.“

Überdies sind viele stationäre Therapieangebote schon für sich genommen zweifelhaft bzw. hinsichtlich ihrer Eignung kaum zu überprüfen. Belastbare Informationen über Ausbildung und Qualifikation von Therapeuten, konkrete Therapieinhalte und die Frequenz von Behandlungsmaßnahmen sind auch für die Strafvollstreckungskammer kaum zu erlangen, denn schließlich handelt es sich typischerweise um privatrechtlich organisierte Träger, die Informationen nach Belieben herausgeben oder verweigern.

Zu schön um wahr zu sein – Suchtfrei in drei Monaten!

Nicht zuletzt sind die meisten stationären Therapieangebote, die von der gesetzlichen Rentenversicherung bezahlt werden, in zeitlicher Hinsicht eng begrenzt, in der Regel auf 3-4 Monate. Setzt man dies ins Verhältnis zur Dauer einer Entwöhnungsbehandlung, die im Rahmen des Maßregelvollzuges nach § 64 StGB durchgeführt wird und die einschließlich der Rehabilitationsphase (Erprobung) typischerweise mindestens zwei Jahre dauert, so wird schnell deutlich, dass gerade bei langjährig abhängigen Verurteilten so gut wie keine Aussicht auf einen dauerhaften Erfolg einer auf wenige Monate beschränkten „Kurztherapie“ besteht. Dies gilt erst recht, wenn neben der Suchterkrankung noch eine dissoziale Persönlichkeit in Rede steht, welche die therapeutische Arbeit erschwert und verlangsamt.

Die Bewerbung als Richterin bzw. Richter

In diesem Beitrag habe ich – natürlich ohne Gewähr – Informationen zusammengestellt, die jungen Volljuristinnen und Volljuristen die Bewerbung als Richterin bzw. Richter erleichtern sollen. Die Einstellungsvoraussetzungen sind derzeit günstig: in vielen Bundesländern können BewerberInnen bereits ab 8 Punkten im zweiten Staatsexamen mit einer Einladung zum Vorstellungsgespräch rechnen. Wer wirklich an Recht und Gerechtigkeit interessiert ist, sollte sich diese Chance nicht entgehen lassen! Einen Beitrag zur Richterbesoldung finden Sie hier. In weiteren Artikel können Sie sich über den „Traumberuf Richter“ und mögliche Alternativen informieren.

In Niedersachsen sind Bewerbungen für die ordentliche Gerichtsbarkeit über die Oberlandesgerichte in Braunschweig, Celle und Oldenburg einzureichen. Das Niedersächsische Justizministerium hat dazu ein umfangreiches Merkblatt veröffentlicht. Darin heißt es: „Mindestvoraussetzung für die Einladung zum Einstellungsinterview sind 8 Punkte in der zweiten juristischen Staatsprüfung. Berücksichtigt werden können auch Bewerberinnen und Bewerber, die im zweiten Staatsexamen ein befriedigendes Ergebnis erreicht haben, wenn ihre besondere fachliche Qualifikation anderweitig belegt ist, etwa durch nachgewiesene besondere Leistungen im Referendariat oder der ersten Staatsprüfung oder durch nachgewiesene wissenschaftliche Tätigkeit. Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber, die im 2. Staatsexamen ein mindestens befriedigendes Ergebnis erreicht haben, erhalten auf ihre Bewerbung hin stets eine Einladung zu einem Einstellungsinterview.“ Für eine Einstellung in einer der sog. Fachgerichtsbarkeiten (Arbeits-, Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit) gibt es ein gesondertes Merkblatt.

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In Nordrhein-Westfalen wird ein Prädikat (mindestens 9 Punkte) im zweiten Staatsexamen erwartet. Es können aber auch Bewerber, die zwar weniger als 9,0 Punkte, jedoch mehr als 7,75 Punkte im zweiten Staatsexamen erreicht haben, bei dem Auswahlverfahren berücksichtigt werden, wenn sie sich zusätzlich durch besondere persönliche Eigenschaften auszeichnen. Bewerbungen für die ordentliche Justiz sind an die Oberlandesgerichte Düsseldorf, Hamm und Köln zu richten. Über das Einstellungsverfahren informiert eine Broschüre. Die Fachgerichtsbarkeiten führen eigene Bewerbungsverfahren durch, so z.B. das OVG Münster, das ein eigenes Infoblatt herausgegeben hat.

In Hessen laufen Bewerbungen für alle Gerichtszweige über das Hessische Ministerium für Justiz, auf dessen Internetseite ein Bewerbungsformular und eine Einverständniserklärung für die Einsichtnahme in die Personalakten heruntergeladen werden können. Hier gilt ein Mindestwert von 8 Punkten im zweiten Staatsexamen und eine Summe von mindestens 17 Punkten aus beiden Staatsexamen.

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In Hamburg sind Bewerbungen an das Hanseatische Oberlandesgericht zu richten. Hier werden grundsätzlich zwei mindestens vollbefriedigende Staatsexamina vorausgesetzt, ausnahmsweise kann auch ein vollbefriedigendes Examen reichen, wenn im anderen mindestens 8 Punkte erzielt worden sind. Ähnlich sieht es in Bremen aus, auch dort sollen möglichst zwei Prädikatsexamina (mindestens 9 Punkte) nachgewiesen werden, so das dortige Hanseatische Oberlandesgericht.

Auch in Schleswig-Holstein werden grundsätzlich zwei mit Prädikat (mindestens 9 Punkte) abgeschlossene Staatsexamina erwartet, Abweichungen sollen im Einzelfall möglich sein. Bewerbungen nimmt das dortige Ministerium für Justiz, Europa,
Verbraucherschutz und Gleichstellung
entgegen.

In Mecklenburg-Vorpommern gilt: Die Zweite juristische Staatsprüfung soll in der Regel mit mindestens 8,0 Punkten und die Erste juristische Staatsprüfung mindestens mit der Note befriedigend abgeschlossen sein. Aber: Bewerberinnen und Bewerber, die die Zweite juristische Staatsprüfung mit mindestens 7,0 Punkten abgelegt haben, können eingeladen werden, wenn ihre besondere fachliche Qualifikation anderweitig belegt ist, etwa durch herausragende Leistungen in der Ersten juristischen Staatsprüfung oder im Vorbereitungsdienst oder durch sonstige Zusatzqualifikationen (etwa wissenschaftliche Tätigkeit oder Promotion). Bewerbungen sind zu richten an das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern.

In Brandenburg sollen Bewerberinnen und Bewerber das Erste Juristische Staatsexamen mit mindestens befriedigendem Ergebnis und das Zweite Juristische Staatsexamen mit vollbefriedigendem Ergebnis ab­gelegt haben. Bewerbungen für die ordentliche Gerichtsbarkeit nimmt der Präsident des Brandenburgischen Oberlandesgerichts entgegen. Wenn man der Märkischen Allgemeinen glauben darf, gehen dort bis 2030 mehr als die Hälfte aller Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. Das dürfte sich auf die Einstellungschancen durchaus positiv auswirken.

Berlin verlangt von Bewerberinnen und Bewerbern im Ersten Staatsexamen mindestens 7 Punkte und im Zweiten Staatsexamen mindestens 8 Punkte. Bewerbungen sind an die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung zu richten.

In Sachsen-Anhalt wird vorausgesetzt, dass beide juristische Staatsexamina mit der Gesamtnote „befriedigend“ abgeschlossen und in der Summe über beide Prüfungen mindestens 16,50 Punkte erzielt wurden. Berufserfahrung mit juristischem Bezug kann in gewissem Maße Abweichungen von diesem Grundsatz zulassen. Bewerbungen sind einzureichen beim Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt.

Sachsen verlangt in beiden Staatsexamina jeweils mindestens 8 Punkte und weist ausdrücklich darauf hin, dass „Defizite bei den Examensergebnissen im Hinblick auf die Mindestanforderungen nicht ausgeglichen werden“ können. Wer sich bewerben will, kann das beim Sächsischen Staatsministerium der Justiz tun.

Bewerberinnen und Bewerber in Thüringen sollen in der Summe beider Examina mindestens 15 Punkte erreicht haben sowie beide Examen jeweils mindestens mit dem Prädikat „befriedigend“ abgeschlossen haben. Bewerbungen nimmt das Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz entgegen.

In Bayern werden mindestens 8 Punkte im Zweiten Staatsexamen vorausgesetzt. Dabei weist das Bayerischen Staatsministerium der Justiz, das für Bewerbungen zuständig ist, auf folgendes hin: „Für die Auswahlkonkurrenz sind die bayerischen Examensgrundsätze maßgeblich, die insbesondere den schriftlichen Prüfungsteil mit 75 Prozent, den mündlichen Teil mit 25 Prozent gewichten. Außerbayerische Examensergebnisse müssen durch das Bayerische Landesjustizprüfungsamt entsprechend diesen Grundsätzen umgerechnet werden.“ Mia san mia…

Baden-Württemberg verlangt in beiden Staatsexamina jeweils mindestens 8 Punkte. Bewerbungen sind an das Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg zu richten.

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Eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch setzt in Rheinland-Pfalz in der Regel voraus, dass die Zweite Juristische Staatsprüfung mit mindestens 8 Punkten bestanden wurde. Es handele sich hierbei, so das für Bewerbungen zuständige Ministerium der Justiz, „nicht um ein Ausschlusskriterium, sondern lediglich um eine Orientierungsmarke“.

Im Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz des Saarlandes werden Bewerbungen für den Richterdienst angenommen, wenn in beiden juristischen Staatsprüfungen wenigstens eine Prüfungsgesamtnote von je 7,5 Punkten oder im zweiten Staatsexamen von wenigstens 9,0 Punkten erzielt worden ist.

„Don‘t touch me, I kill you!“ – der minder schwere Fall des Totschlags

Vor einigen Monaten hatte ich bereits über eine Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in einem sogenannten „Provokationsfall“ (BGH, 16.01.2019, 4 StR 580/18, NStZ 2019, 408) berichtet. Diese Entscheidung war vor allem im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ instruktiv. Kürzlich hatte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs nun ebenfalls einen „Provokationsfall“ zu beurteilen (BGH, 19.11.2019, 2 StR 378/19). In diesem Fall ging es schwerpunktmäßig um das Tatbestandsmerkmal „auf der Stelle zur Tat hingerissen“. Wir nehmen (wieder einmal) zur Kenntnis: „auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!

„Auf der Stelle“ heißt weder „sofort“ noch „an Ort und Stelle“!

Zum Sachverhalt teilt der Beschluss folgendes mit: „Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Geschädigte im Vorfeld der Tat eine anfangs verbal geführte Auseinandersetzung mit dem aus Somalia stammenden Angeklagten, indem er ihm am 26. August 2018 gegen 1.45 Uhr beim Verlassen des Festzeltes auf einem Musikfest in B. abfällig zurief: „Geht doch dorthin, wo ihr herkommt“. Sodann „schnipste“ er ihm mit dem Finger die Kappe von dessen Kopf, um ihn weiter zu provozieren. Der Angeklagte geriet in Rage und rief mehrfach „Don‘t touch me, I kill you!“. Im Rahmen der nun folgenden körperlichen Auseinandersetzung schubste der Geschädigte den Angeklagten. Es kam zudem zu gegenseitigen Faustschlägen ins Gesicht. Dabei platzte die Oberlippe des Angeklagten auf. Nachdem die Ehefrau des Geschädigten ihren Ehemann weggezogen hatte, rief der Angeklagte hinterher: „I kill you!“. Er war sehr wütend und wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb suchte er auf dem Gelände vor dem Festzelt nach Gegenständen, um sich zu bewaffnen. Dabei fand er eine Glasflasche, die er so abschlug, dass eine scharfe Schnittkante entstand. Der Angeklagte sammelte seine Begleiter ein und forderte sie auf, ihm zu folgen, um sich moralische Unterstützung zu sichern. Daraufhin rannte er ‒ mehrere Minuten nach der Auseinandersetzung vor dem Zelt ‒ dem Geschädigten hinterher. Als der Angeklagte mit seinen Begleitern den Geschädigten erreicht hatte, umstellten sie diesen. Dessen Frau warnte ihren Ehemann noch mit den Worten „Pass auf, er hat eine Flasche“. Ungeachtet dessen und obwohl einer der Begleiter des Angeklagten diesen noch abzuhalten versuchte, ging der Angeklagte wutentbrannt auf den Geschädigten in der Absicht zu, diesen zu töten. Er schlug ihm mit der rechten Faust ins Gesicht und stach zweimal mit dem abgebrochenen Flaschenhals direkt hintereinander in den Oberkörper seines Opfers.“

„Don’t touch me, I kill you!“

Bei diesem Geschehensablauf, so der 2. Strafsenat, „wäre das Landgericht gehalten gewesen, sich mit den Voraussetzungen des § 213 1. Alt. StGB auseinanderzusetzen“. Das ist zweifellos richtig. Wenn man diese Auseinandersetzung mit einem unbefangenen Blick ins Gesetz beginnt, so drängt sich das Vorliegen eines sogenannten Provokationsfalls auf den ersten Blick indes nicht unbedingt auf. Seinem Wortlaut nach verlangt § 213 StGB in der „Provokationsvariante“, dass der Täter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist. Über das Tatbestandsmerkmal „ohne eigene Schuld“ kommt man in diesem Fall relativ leicht hinweg, denn offenbar ist die Auseinandersetzung vom späteren Geschädigten initiiert worden, der nicht nur verbal („Geht doch dorthin, wo ihr herkommt!“), sondern auch körperlich (vom-Kopf-Schnipsen der Mütze) übergriffig geworden ist. Dass sich der Angeklagte hiergegen – wenn auch etwas unbeholfen –  verbal zur Wehr setzte („Don‘t touch me, I kill you!“), wird man ihm schwerlich als schuldhaftes Verhalten im Sinne einer unverhältnismäßigen und unverständlichen Reaktion vorwerfen können. Auch besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass es sich bei den anschließenden Faustschlägen ins Gesicht des Angeklagten, in deren Folge seine Oberlippe aufplatzte, um eine Misshandlung im Sinne dieser Vorschrift handelt.

Für den am Gesetzeswortlaut hängenden Rechtsanwender möglicherweise überraschend ist hingegen, dass der Angeklagte trotz einer mehrminütigen Unterbrechung des Geschehens, die er mit der Suche und Herrichtung eines Angriffsmittels (abgerochener Flaschenhals) verbrachte, noch „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ gewesen sein soll bzw. könnte. Bereits am Merkmal „auf der Stelle“ kann man im vorliegenden Fall durchaus Zweifel haben, jedenfalls, wenn man dies in räumlicher Hinsicht versteht. Denn nach den Feststellungen rannte der Angeklagte dem späteren Geschädigten, der sich bereits abgewandt hatte, hinterher, um ihn anzugreifen. Für den 2. Senat ist diese Ortsveränderung jedoch ebenso unschädlich wie die zeitliche Unterbrechung. Hierzu heißt es im Beschluss: „Dieser Geschehensablauf belegt zwar einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen der den Zorn des Angeklagten auslösenden Auseinandersetzung und dem eigentlichen Tatgeschehen. Er unterbricht aber nicht den erforderlichen Zusammenhang, der insoweit bestehen muss, als der durch die Provokation und die Misshandlung hervorgerufene Zorn im Zeitpunkt der Tatbegehung noch angehalten und als nicht durch rationale Abwägung unterbrochene Gefühlsaufwallung fortgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 ‒ 1 StR 585/18, NStZ 2019, 471). Davon ist hier auszugehen, wenn der Angeklagte ‒ „weiter wutentbrannt“ und auch nicht von seinem zuvor gefassten Tötungsentschluss abzuhalten ‒ auf den Geschädigten zustürmte, ihm mit der Faust ins Gesicht schlug und schließlich mit dem Flaschenhals auf ihn einstach. Dass dies mehrere Minuten nach dem Beginn der Auseinandersetzung geschehen ist, stellt insoweit keine relevante Zäsur dar.“ 

„Alte Hasen“ werden möglicherweise anmerken, dass eine Unterbrechung von mehreren Minuten selbstverständlich unschädlich ist, hat doch der BGH bereits in den 1980er Jahren (BGH, 11.01.1984, 3 StR 443/83, NStZ 1984, 316) entschieden: „Der für die erste Alternative des § 213 StGB erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zwischen unverschuldeter Reizung zum Zorn und Ausführung der Tat ist durch die wenigen dazwischen liegenden Stunden nicht aufgehoben worden.“

„Auf der Stelle“ kann auch „Stunden später“ sein!

Was bleibt ist die Frage, ob es überhaupt zeitliche und örtliche Grenzen für „auf der Stelle gibt zu Tat hingerissen“ gibt? Wie weit darf der provozierte, gefühlsaufgewallte Täter seinen vormaligen Provokateur verfolgen? Vielleicht hunderte von Kilometern weit, womöglich über Ländergrenzen hinweg? Und wie lange darf diese Verfolgung dauern – Stunden, Tage oder gar Wochen? Stellen wir uns (à la „Tatort“) einen Vater vor, dessen Kind missbraucht und getötet worden ist und der den Täter nach mehrtägiger „Jagd“ quer durch Deutschland tränenüberströmt erschießt. Wäre das noch „auf der Stelle“ in Sinne von § 213 StGB?