Die Tötung im Affekt ist ein schillernder Begriff. Auch (und gerade) juristische Laien benutzen ihn gern, wenn auch zumeist falsch. Eine frühere Nachbarin pflegte über den Zustand ihrer Ehe zu sagen : „Irgendwann bringe ich ihn um. Das ist dann im Affekt – dafür kriege ich höchstens 5 Jahre. Das ist es mir wert!“. Von den sog. „Saß-Kriterien“ (siehe unten) hatte sie natürlich noch nie gehört. Dementsprechend war ihr auch nicht klar, dass die Ankündigung einer Tat gegen das Vorliegen eines Affekts spricht. Glücklicherweise ist ihr Mann eines Tages an einem Krebsleiden verstorben…
Lassen wir zum Einstieg den Bundesgerichtshof zu Wort kommen, in diesem Fall den 2. Strafsenat (BGH, 07.06.2017, 2 StR 474/16): „Hinsichtlich der Auswirkung einer affektiven Erregung auf das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht ist auch zu berücksichtigen, dass eine affektive Erregung bei den meisten Tötungsdelikten den Normalfall darstellt und für Verdeckungstötungen typisch ist.“ Mit anderen Worten: die weitaus meisten Mörder und Totschläger töten nicht kaltblütig mit der Pistole in der rechten und einem Wodka-Martini (geschüttelt, nicht gerührt) in der linken Hand. In der Regel wird die Tathandlung von starken Gefühlsregungen (Wut, Hass, Angst etc.) begleitet, sehr häufig bilden diese Emotionen auch das Tatmotiv. Und weil die Tötung im Affekt ganz normal ist, hat der Affekt zumeist auch keine Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit!
Zu einer rechtlich relevanten Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit führt affektive Erregung nur, wenn „sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und damit zu einem Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB geführt hat“ (BGH, 28.02.2013, 4 StR 357/12). Wenn dies der Fall ist, „sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein; es muss also festgestellt werden, in welcher Weise sich die psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat“ (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18). Bei der Beurteilung dieser Fragen wird sich das Schwurgericht in aller Regel durch einen psychiatrischen Sachverständigen beraten lassen und sodann „unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung„ über die Schuldfähigkeit entscheiden (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226).
Diese Aufgabenverteilung zwischen Sachverständigem und Gericht gibt uns Juristen Anlass, einen Blick in die psychiatrische Fachliteratur zu werfen, wenn wir die Sprache und die grundsätzlichen Überlegungen „unserer“ Sachverständigen zum Thema Tötung im Affekt richtig verstehen und einordnen können wollen. Ich habe mir zu diesem Zweck ein Standardwerk geliehen, nämlich Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage von 2009. Mein Dank hierfür gilt Herrn Schmitz, Chefarzt und Vollzugsleiter in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg.
Venzlaff/Foerster weisen zunächst darauf hin, dass der Begriff „Bewusstseinsstörung“ von Medizinern und Juristen unterschiedlich verstanden wird. Bewusstseinsstörungen im medizinischen Sinnen hätten oft körperliche Ursachen (Alkohol- oder Medikamentenintoxikation, delirante Zustände oder zerebralorganische Krampfleiden). Derartige Zustände seien als Symptome der jeweiligen Grunderkrankung zu verstehen und dem juristischen Eingangkriterium „krankhafte seelische Störung“ zuzuordnen. Unter einer Bewusstseinsstörung im juristischen Sinne sei hingegen „eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionalen Erlebens“ gemeint, „also „Zustände, die auch als Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinseinengung benannt werden können“. Das Adjektiv „tiefgreifend“ solle „zum Ausdruck bringen, dass eine solche Störung über den Spielraum des Normalen, also eine „übliche“ Zornaufwallung, hinausgeht und einen solchen Grad erreicht, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört (§ 20 StGB) bzw. erheblich erschüttert (§ 21 StGB) ist.“
Die weiteren Ausführungen von Venzlaff/Foerster lassen ein gewisses Unbehagen deutlich erkennen: eine tiefgreifenden Bewusststeinsstörung sei keine psychiatrische Diagnose, die häufig verwendeten Formulierungen „Affekttat oder Affektdelikt“ seien „ohne nähere Differenzierung inhaltsleer und nicht aussagekräftig“. Das „methodische Grundproblem“ liege darin, „dass ein per definitionem sehr kurz dauernder, außergewöhnlicher emotionaler Zustand retrospektiv beschrieben und darüber hinaus quantifiziert werden muss, wie es das Adjektiv „tiefgreifend“ verlangt . Die „besonderen Beurteilungsprobleme“ bestünden darin, dass „die Tatzeitverfassung des Täters bei affektiv akzentuierten Taten weitgehend aus dem subjektiven Erleben des Täters zugänglich“ werde, wobei eine besondere Schwierigkeit darin liege, dass „die Untersuchung möglicherweise erst viele Monate nach der Tat durchgeführt wird“. Ein weitere Schwierigkeit liege darin, dass „mit den Begrifflichkeiten affektiv aktzentuierter Taten“ von den Prozessbeteiligten – also uns Juristen – so umgegangen werde, „als handele es sich dabei um „harte“ Daten, obwohl es sich zweifellos um „weiche Kriterien“ handele. Aufgrund dessen könne „der psychiatrische Sachverständige die eindeutigen Antworten, die häufig von ihm erwartet werden, keineswegs immer geben“.
Auch die sog. „Saß-Kriterien“ seien nur „durchaus brauchbare Orientierungshilfen“, aber keine „quantifizierbaren Kriterien“. Es gibt also keinen „cut-off-Wert“, bei dessen Vorliegen von einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung auszugehen ist. Der Wert dieser Merkmalslisten liege „in erster Linie darin, dass dem Sachverständigen damit eine Hilfsmittel an die Hand gegeben ist, bei seiner Einschätzung alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen.“ Die Kriterien seien von ihrer Bedeutung bzw. ihrer Aussagekraft her absteigend sortiert. Im Folgenden sind sie dargestellt:
Kriterien, die nach Saß (1985) für eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Positivkriterien):
- Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit
- Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft
- Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit
- Konstellative Faktoren
- Enger Zusammenhang Provokation-Erregung-Tat
- Abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen
- Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe
- Vegetative psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung
- Charakteristischer Affektauf- und abbau
- Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung
Kriterien, die nach Saß (1985) gegen eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Negativkriterien):
- Vorbereitungshandlungen für die Tat
- Konstellation der Tatsituation durch den Täter
- Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter
- Komplexer Handlungsablauf in unterschiedlichen Etappen
- Länger hingezogenes Tatgeschehen
- Exakte, detailreiche Erinnerung
- Vorgestaltung in der Phantasie, Tatankündigung und aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit
Was bedeutet dass nun für uns Juristen? Weder der „Affekt“ also solcher noch das Eingangskriterium „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ sind psychiatrische Diagnosen oder Kategorien. Aus Sicht der Psychiater werden sie zur Beurteilung von etwas herangezogen, was sich medizinische Laien ausgedacht haben und was in ihrer ärztlichen Gedankenwelt eigentlich nicht existiert. Demenstprechend muss das Gericht – genauso wie die übrigen Beteiligten – damit leben, dass das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen beim Thema Affekt oft vergleichsweise oberflächlich und vage erscheint. Wer schonmal versucht hat, einen erfahrenen forensichen Psychiater beim Thema Affekt zu klaren Aussagen zu drängen oder mit ihm um einzelne Positiv- oder Negativkriterien zu „feilschen“, weiß: genauso gut könnte man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln! Das ist misslich, liegt aber in der Natur der Sache, Stichwort „weiche Kriterien“ (s.o.).
Wichtig für Verteidiger erscheint mir folgendes: der einzige, der den Sachverständigen davon überzeugen kann, dass bei Tatbegehung ein regelrechter „Affektsturm“ im Sinne einer „tiegreifenden Bewusstseinsstörung“ vorgelegen hat, ist regelmäßig der Angeklagte. Mit den Worten von Venzlaff/Foerster ausgedrückt: „Aufgrund der wesentlichen Bedeutung der subjektiven Erlebensweise des Täters ist dem psychiatrischen Sachverständigen eine fundierte Feststellung zum Tatablauf umso besser möglich, je mehr der Täter bereit ist, sich dem Untersucher gegenüber zu öffnen, und je mehr er in der Lage ist, im Untersuchungsgespräch eigenes inneres Erleben differenziert zu schildern“. Auch das ist nicht unproblematisch, weil es den offenen, mitteilungsfreudigen und eloquenten Angeklagten u.U. besser stellt als denjenigen, der sich schwer damit tut, Vertrauen zu fassen und über sein Gefühlsleben zu sprechen. Jedenfalls aber sind Schweigen oder die Einlassung per Verteidigererklärung zumeist nicht das Mittel der Wahl, wenn eine Tötung im Affekt im Sinne von § 21 StGB ernsthaft in Betracht kommt! Ob das er Fall ist, muss man/frau als Verteidiger/Verteidigerin im Einzelfall abschätzen. Zur Erinnerung: eine „übliche Zornaufwallung“ ist per se keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung (s.o.)! Eine „verständliche Jähtat“ kann sich jedoch als minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB darstellen. Dass es keinen minder schweren Fall des Mordes gibt ist problematisch, bedeutet aber nicht, dass beim Mord quasi „ersatzweise“ vorschnell eine tiefgreifenden Bewusstseinsstörung angenommen werden darf, um eine zeitige Freiheitsstrafe zu ermöglichen!