Die Tötung im Affekt

Die Tötung im Affekt ist ein schillernder Begriff. Auch (und gerade) juristische Laien benutzen ihn gern, wenn auch zumeist falsch. Eine frühere Nachbarin pflegte über den Zustand ihrer Ehe zu sagen : „Irgendwann bringe ich ihn um. Das ist dann im Affekt – dafür kriege ich höchstens 5 Jahre. Das ist es mir wert!“. Von den sog. „Saß-Kriterien“ (siehe unten) hatte sie natürlich noch nie gehört. Dementsprechend war ihr auch nicht klar, dass die Ankündigung einer Tat gegen das Vorliegen eines Affekts spricht. Glücklicherweise ist ihr Mann eines Tages an einem Krebsleiden verstorben…

„Irgendwann bringe ich ihn um. Das ist dann im Affekt – dafür kriege ich höchstens 5 Jahre. Das ist es mir wert!“.

Lassen wir zum Einstieg den Bundesgerichtshof zu Wort kommen, in diesem Fall den 2. Strafsenat (BGH, 07.06.2017, 2 StR 474/16): „Hinsichtlich der Auswirkung einer affektiven Erregung auf das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht ist auch zu berücksichtigen, dass eine affektive Erregung bei den meisten Tötungsdelikten den Normalfall darstellt und für Verdeckungstötungen typisch ist.“ Mit anderen Worten: die weitaus meisten Mörder und Totschläger töten nicht kaltblütig mit der Pistole in der rechten und einem Wodka-Martini (geschüttelt, nicht gerührt) in der linken Hand. In der Regel wird die Tathandlung von starken Gefühlsregungen (Wut, Hass, Angst etc.) begleitet, sehr häufig bilden diese Emotionen auch das Tatmotiv. Und weil die Tötung im Affekt ganz normal ist, hat der Affekt zumeist auch keine Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit!

Die kaltblütige Tötung ist eine absolute Ausnahme!

Zu einer rechtlich relevanten Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit führt affektive Erregung nur, wenn „sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung und damit zu einem Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB geführt hat“ (BGH, 28.02.2013, 4 StR 357/12). Wenn dies der Fall ist, „sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein; es muss also festgestellt werden, in welcher Weise sich die psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat“ (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18). Bei der Beurteilung dieser Fragen wird sich das Schwurgericht in aller Regel durch einen psychiatrischen Sachverständigen beraten lassen und sodann unter Darlegung der fachwissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen, letztlich aber ohne Bindung an dessen Ausführungen, in eigener Verantwortung über die Schuldfähigkeit entscheiden (BGH, 12.12.2018, 5 StR 385/18, StV 2019, 226).

Diese Aufgabenverteilung zwischen Sachverständigem und Gericht gibt uns Juristen Anlass, einen Blick in die psychiatrische Fachliteratur zu werfen, wenn wir die Sprache und die grundsätzlichen Überlegungen „unserer“ Sachverständigen zum Thema Tötung im Affekt richtig verstehen und einordnen können wollen. Ich habe mir zu diesem Zweck ein Standardwerk geliehen, nämlich Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage von 2009. Mein Dank hierfür gilt Herrn Schmitz, Chefarzt und Vollzugsleiter in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg.

Werfen wir einen Blick in die psychiatrische Literatur!

Venzlaff/Foerster weisen zunächst darauf hin, dass der Begriff „Bewusstseinsstörung“ von Medizinern und Juristen unterschiedlich verstanden wird. Bewusstseinsstörungen im medizinischen Sinnen hätten oft körperliche Ursachen (Alkohol- oder Medikamentenintoxikation, delirante Zustände oder zerebralorganische Krampfleiden). Derartige Zustände seien als Symptome der jeweiligen Grunderkrankung zu verstehen und dem juristischen Eingangkriterium „krankhafte seelische Störung“ zuzuordnen. Unter einer Bewusstseinsstörung im juristischen Sinne sei hingegen „eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionalen Erlebens“ gemeint, „also „Zustände, die auch als Bewusstseinsveränderung oder Bewusstseinseinengung benannt werden können“. Das Adjektiv „tiefgreifend“ solle „zum Ausdruck bringen, dass eine solche Störung über den Spielraum des Normalen, also eine „übliche“ Zornaufwallung, hinausgeht und einen solchen Grad erreicht, dass das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört (§ 20 StGB) bzw. erheblich erschüttert (§ 21 StGB) ist.“

Die weiteren Ausführungen von Venzlaff/Foerster lassen ein gewisses Unbehagen deutlich erkennen: eine tiefgreifenden Bewusststeinsstörung sei keine psychiatrische Diagnose, die häufig verwendeten Formulierungen „Affekttat oder Affektdelikt“ seien „ohne nähere Differenzierung inhaltsleer und nicht aussagekräftig“. Das „methodische Grundproblem“ liege darin, „dass ein per definitionem sehr kurz dauernder, außergewöhnlicher emotionaler Zustand retrospektiv beschrieben und darüber hinaus quantifiziert werden muss, wie es das Adjektiv „tiefgreifend“ verlangt . Die „besonderen Beurteilungsprobleme“ bestünden darin, dass „die Tatzeitverfassung des Täters bei affektiv akzentuierten Taten weitgehend aus dem subjektiven Erleben des Täters zugänglich“ werde, wobei eine besondere Schwierigkeit darin liege, dass „die Untersuchung möglicherweise erst viele Monate nach der Tat durchgeführt wird“. Ein weitere Schwierigkeit liege darin, dass „mit den Begrifflichkeiten affektiv aktzentuierter Taten“ von den Prozessbeteiligten – also uns Juristen – so umgegangen werde, als handele es sich dabei um „harte“ Daten, obwohl es sich zweifellos um „weiche Kriterien“ handele. Aufgrund dessen könne „der psychiatrische Sachverständige die eindeutigen Antworten, die häufig von ihm erwartet werden, keineswegs immer geben“.

Auch die sog. „Saß-Kriterien“ seien nur „durchaus brauchbare Orientierungshilfen“, aber keine „quantifizierbaren Kriterien“. Es gibt also keinen „cut-off-Wert“, bei dessen Vorliegen von einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung auszugehen ist. Der Wert dieser Merkmalslisten liege „in erster Linie darin, dass dem Sachverständigen damit eine Hilfsmittel an die Hand gegeben ist, bei seiner Einschätzung alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen.“ Die Kriterien seien von ihrer Bedeutung bzw. ihrer Aussagekraft her absteigend sortiert. Im Folgenden sind sie dargestellt:

Kriterien, die nach Saß (1985) für eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Positivkriterien):

  • Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit
  • Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft
  • Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit
  • Konstellative Faktoren
  • Enger Zusammenhang Provokation-Erregung-Tat
  • Abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen
  • Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe
  • Vegetative psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung
  • Charakteristischer Affektauf- und abbau
  • Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung

Kriterien, die nach Saß (1985) gegen eine schwere affektive Erschütterung des Täters sprechen können (sog. Negativkriterien):

  • Vorbereitungshandlungen für die Tat
  • Konstellation der Tatsituation durch den Täter
  • Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter
  • Komplexer Handlungsablauf in unterschiedlichen Etappen
  • Länger hingezogenes Tatgeschehen
  • Exakte, detailreiche Erinnerung
  • Vorgestaltung in der Phantasie, Tatankündigung und aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit
Die Tötung im Affekt erfordert eine genaue Betrachtung!

Was bedeutet dass nun für uns Juristen? Weder der „Affekt“ also solcher noch das Eingangskriterium „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ sind psychiatrische Diagnosen oder Kategorien. Aus Sicht der Psychiater werden sie zur Beurteilung von etwas herangezogen, was sich medizinische Laien ausgedacht haben und was in ihrer ärztlichen Gedankenwelt eigentlich nicht existiert. Demenstprechend muss das Gericht – genauso wie die übrigen Beteiligten – damit leben, dass das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen beim Thema Affekt oft vergleichsweise oberflächlich und vage erscheint. Wer schonmal versucht hat, einen erfahrenen forensichen Psychiater beim Thema Affekt zu klaren Aussagen zu drängen oder mit ihm um einzelne Positiv- oder Negativkriterien zu „feilschen“, weiß: genauso gut könnte man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln! Das ist misslich, liegt aber in der Natur der Sache, Stichwort „weiche Kriterien“ (s.o.).

Wichtig für Verteidiger erscheint mir folgendes: der einzige, der den Sachverständigen davon überzeugen kann, dass bei Tatbegehung ein regelrechter „Affektsturm“ im Sinne einer „tiegreifenden Bewusstseinsstörung“ vorgelegen hat, ist regelmäßig der Angeklagte. Mit den Worten von Venzlaff/Foerster ausgedrückt: „Aufgrund der wesentlichen Bedeutung der subjektiven Erlebensweise des Täters ist dem psychiatrischen Sachverständigen eine fundierte Feststellung zum Tatablauf umso besser möglich, je mehr der Täter bereit ist, sich dem Untersucher gegenüber zu öffnen, und je mehr er in der Lage ist, im Untersuchungsgespräch eigenes inneres Erleben differenziert zu schildern“. Auch das ist nicht unproblematisch, weil es den offenen, mitteilungsfreudigen und eloquenten Angeklagten u.U. besser stellt als denjenigen, der sich schwer damit tut, Vertrauen zu fassen und über sein Gefühlsleben zu sprechen. Jedenfalls aber sind Schweigen oder die Einlassung per Verteidigererklärung zumeist nicht das Mittel der Wahl, wenn eine Tötung im Affekt im Sinne von § 21 StGB ernsthaft in Betracht kommt! Ob das er Fall ist, muss man/frau als Verteidiger/Verteidigerin im Einzelfall abschätzen. Zur Erinnerung: eine „übliche Zornaufwallung“ ist per se keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung (s.o.)! Eine „verständliche Jähtat“ kann sich jedoch als minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB darstellen. Dass es keinen minder schweren Fall des Mordes gibt ist problematisch, bedeutet aber nicht, dass beim Mord quasi „ersatzweise“ vorschnell eine tiefgreifenden Bewusstseinsstörung angenommen werden darf, um eine zeitige Freiheitsstrafe zu ermöglichen!

Zeugenaussagen – irren ist menschlich!

„Herr Subatzus, eines muss ich Ihnen sagen: Der Zeugenbeweis gehört abgeschafft!“ – so sprach vor mittlerweile über 10 Jahren ein seinerzeit bereits pensionierter Vorsitzender Richter am Landgericht zu mir. Und der Mann meinte es ernst: wann immer in seiner Zivilkammer eine Zeugenvernehmung unumgänglich wurde, wurde die Sache auf den Einzelrichter übertragen: „Den Unfug müssen wir uns nicht auch noch zu Dritt anhören!“ Es war übrigens derselbe, der von den „alten Zeiten“ schwärmte, als Richter und Anwälte sich angeblich ab 15 Uhr auf dem Tennisplatz trafen und Vergleiche beim anschließenden Bier im Clubheim geschlossen wurden…

Erinnerung verblasst durch Zeitablauf!

Dass der Zeugenbeweis abgeschafft wird, werden wir wohl nicht mehr erleben, denn bis alle Menschen mit einer Art „blackbox“ herumlaufen, die unser Denken und Handeln aufzeichnet und bei Bedarf ausgelesen werden kann, wird es hoffentlich noch ein paar Jahrhunderte dauern. Und bis dahin werden wir alle, egal ob Staatsanwalt, Richter oder Rechtsanwalt, auch mit den Unzulänglichkeiten dieses Beweismittels leben müssen. Wichtig ist jedoch, dass wir sie uns alle immer wieder ins Gedächtsnis rufen!

Ich hatte kürzlich en passant von einem Verfahren berichtet, bei dem zwei jungen Männern vorgeworfen worden war, in Lüneburg auf eine Personengruppe geschossen und einen Mann durch zwei Treffer verletzt zu haben. Das Ergebnis der Beweisaufnahme lässt sich – leicht vereinfacht – in etwa so zusammenfassen: Einer der beiden Angeklagten war der Fahrer eines PKW, von dem aus oder aus dessen Nähe in schneller Folge die Schüsse abgegeben worden waren. Im PKW fanden sich insbesondere am Dachhimmel der Beifahrerseite zahlreiche Schmauchspuren, also Partikel, die im Zündsatz von Pistolenmunition vorkommen. Ebenfalls auf der Beifahrerseite fand man 11 Patronenhülsen im Kaliber 9mm Luger, von denen ein Sachverständiger feststellen konnte, dass sie alle aus derselben Selbstladepistole verfeuert worden waren. Die im Rücken und im Bein des Opfers gefundenen Geschossteile wiederum passten zu diesen Hülsen. Auf der Fahrerseite gab es keine Hülsen und nur ein einziges kleines Schmauchteilchen. Wer der Beifahrer gewesen war, ließ sich nicht feststellen, der zweite Angeklagte hatte ein Alibi. Zwei Zeuginnen berichteten uns, ein ehemaliger Freund habe ihnen gegenüber wiederholt behauptet, er habe die Schüsse abgegeben, und sich darüber amüsiert, dass die falschen Männer angeklagt seien. Dieser Freund wiederum war nicht angeklagt und berief sich als Zeuge auf sein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO. Klingt eindeutig, oder?

Wer mit einer Waffe bedroht wird, erinnert selten das Gericht des Täters!

Damit es nicht zu einfach wurde, gab es ja noch die „Opferzeugen“, also die Mitglieder jener Personengruppe, auf die oder in deren Richtung geschossen worden war. Bei ihren Aussagen mischten sich offensichtliche Belastungstenden – Anlass der Auseinadersetzung waren angeblich Drogengeschäfte, mit denen natürlich niemand etwas zu tun haben wollte – und Erinnerungsdefizite. Manche wollten nur Schüsse aus der Fahrerseite gesehen haben, andere Schüsse aus Fahrer- und Beifahrerseite. Manche meinten, der Fahrer habe eine Waffe aus dem Fenster gehalten, geschossen habe aber möglicherweise nur der Beifahrer, andere erinnerten über ein Jahr nach der Tat eine Pistole, die sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach der Tat nicht erwähnt hatten. Kurz, es ging munter drunter und drüber. Damit wir uns nicht falsch verstehen: so lustig, wie es in dieser Zusammenfassung möglicherweise klingt, war die Sache keineswegs. Eine Schießerei auf offener Straße mit 11 Schüssen aus einer 9mm-Pistole ist eine ernste und hochgefährliche Angelegenheit, für die mir persönlich der Humor fehlt. Und natürlich mühten wir uns an den Zeugen ab, machten ihnen Vorhaltungen, ermahnten Sie wiederholt zur Wahrheit – vergebens. Ich will nicht verhehlen, dass es für meine Kollegen und mich bisweilen frustrierend ist, wenn sie die Suche nach der Wahrheit als mission impossible herausstellt. In diesem Fall aber war das Scheitern sozuagen vorprogrammiert, denn aufgrund der Umstände – Dunkelheit, Überausschungsmoment, Schnelligkeit des Ablaufs – war mit belastbaren Zeugenaussagen von Anfang an nicht zu rechnen. Warum? Sehen Sie sich diesen Beitrag an, bevor sie weiterlesen!

Zeugenaussagen – irren ist menschlich!

Willkommen zurück! WIe haben Ihnen die Versuche gefallen? Der mit der jungen Frau, die nach dem Weg fragt: Oranges Oberteil? Weißes Blüschen mit blauen Blümchen? Offene Haare?
Dann der „Überfall“: die Zeugen stehen bzw. sitzen nach der „Tat“ zusammen und reden offenbar über den Vorfall, tauschen Erinnerungen aus und ergänzen sie. Ganz wie im echten Leben. Mit „echten“, d.h. unverfälschten Erinnerungen braucht man nach diesem Austausch nicht mehr zu rechnen. Trotzdem ergeben sich fast 30 Jahre Unterschied bei der Altersschätzung. In der Hauptverhandlung heißt es dann später in 9 von 10 Fällen: „Ich habe mich mit niemandem darüber unterhalten. Warum sollte ich?“
Interesant auch der Gedächtnisforscher Hans Markovic, der meint, etwa die Hälfte aller Aussagen vor Gericht sei weit von der Wahrheit entfernt und das auch erklärt. „Stresshormone überschwemmen das Gehirn und führen dazu, dass man auch seine Wahrnehmung sehr eng ausrichtet, und alles in der Peripherie wird mehr oder weniger ausgeblendet, das bedeutet, dass unter Stress Wahrnehmung häufig sehr eingeschränkt ist.“ Das leuchtet mir ein und erklärt zwanglos das oben geschilderte Durcheinander bei den „Opferzeugen“. Und schließlich die „Wiedererkennung“ – ja, ich weiß, das war keine sequentielle Wahllichtbildvorlage nach RiStBV Nr. 18, das war halt für’s Fernsehen. Trotzdem beeindruckend, oder? Jeder zweite „Wiedererkenner“ lag falsch!

Sie wollen mehr? Wie wäre es mit diesem Beitrag aus der ARD-Reihe „Quarks“? Oder mit diesem Spiegel-Artikel? Für Fans des Privatfernsehens hätte ich noch etwas von Pro7 aus der Reihe Galileo.

Und was folgt nun daraus für die gerichtliche Praxis? Zeugenaussagen, die nicht durch objektive Indizien (Spuren, Videoaufzeichnungen etc.) bestätigt werden, muss man mit großer Vorsicht begegnen. Das gilt für Verkehrsunfälle, für Wirtshausschlägereien und natürlich auch für Schwurgerichtsverfahren. Als Staatsanwalt muss man sich schon im Ermittlungsverfahren mit der Frage befassen, wie Zeugenaussagen zustande gekommen sind und welchen Beweiswert sie haben. Einfach nur den Akteninhalt kopieren, einfügen und „wesentliches Ergebnis der Ermittlungen“ draufschreiben ist zu wenig – das könnte auch die Polizei!
Für Richterinnen und Richter heißt es immer auf’s Neue: fragen, nachhaken und sich immer darüber im Klaren sein, dass viele Zeugen absichtlich oder (vermutlich häufiger) unabsichtlich dummes Zeug erzählen. Sich darüber zu ärgern, bringt die Wahrheitsfindung auch nicht voran!
Und für Verteidiger gilt: machen Sie in geeigneten Fällen darauf aufmerksam, dass schon aufgrund der äußeren Umstände durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit von Zeugenaussagen bestehen. Versuchen Sie, gerade Schöffen sowie junge Richter und Staatsanwälte für das Thema „Fehleranfälligkeit von Zeugenaussagen“ zu sensibilisieren.

Verdienstmöglichkeiten für Berufseinsteiger im Anwaltsberuf

Nachdem ich kürzlich darüber berichtet habe, was Berufseinsteiger als Richterinnen und Richter bzw. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte verdienen, will ich mich heute mit den Verdienstmöglichkeiten für Berufseinsteiger im Anwaltsberuf beschäftigen. Verdienen junge Volljuristen als Rechtsanwälte mehr als im Staatsdienst? Und wenn ja – wie groß ist der Unterschied?

Wenn man sich mit den Verdienstmöglichkeiten von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten befasst, werden zwei Dinge schnell klar. Erstens ist die Datenlage weitaus unsicherer als bei der Richterbesoldung, die sich unschwer anhand der einschlägigen Besoldungstabellen ermitteln lässt. Und zweitens sind die Unterschiede zwischen den Gehältern in kleinen Kanzleien und in international aufgestellten Wirtschaftskanzleien („law firms“) gewaltig.

„In kleineren Kanzleien, die den deutschen Rechtsdienstleistungsmarkt dominieren, starten Jungjuristen mit 40.000 Euro“, so ist beim Beck-Stellenmarkt zu lesen. Auf gehaltsvergleich.com heißt es etwas differenzierter: „Nach Beendigung des Studiums winkt Rechtsanwälten durchschnittlich ein Anfangsgehalt von 3.609 € im Monat. Dabei steigen Männer und Frauen jeweils mit sehr unterschiedlichen Gehältern ein: Ein Rechtsanwalt verdient zu Beginn durchschnittlich 3.906 €, während eine Rechtsanwältin auf lediglich 3.221 € kommt.“ Diese Zahlen sind Durchschnittswerte, d.h. es gibt eine Bandbreite mit deutlich besseren, aber auch mit deutlich schlechter bezahlten Jobs.

Traurige Berühmtheit erlangte ein Rechtsanwalt im OLG Bezirk Hamm, dessen Fall schließlich vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG, 17.12.2014, 5 AZR 663/13, NZA 2015, 608) landete. Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden war ein monatliches Bruttogehalt von 1.200 € arbeitsvertraglich vereinbart, außerdem trug die Arbeitgeberin noch die Kosten für seine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung. Hochgerechnet wären das einschließlich Versicherung rund 2.500 € für eine 40-Studen-Woche gewesen. Da ist die Grenze, ab der das BAG von einem „auffälligen Missverhältnis“ im Sinne von § 138 Abs. 2 BGB ausgeht, nicht mehr weit weg. Zitat BAG (a.a.O.): „Das Missverhältnis ist auffällig, wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel der in dem betreffenden Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Vergütung erreicht.“ Der gesetzliche Mindestlohn bei einer 40-Stunden-Woche beträgt übrigens derzeit 1.593 €…

Zurück zu „normalen“ Verdienstmöglichkeiten für Berufseinsteiger im Anwaltsberuf: Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, mit zwei Freunden und ehemaligen Studienkollegen zu sprechen, die beide Rechtsanwälte in Hamburg sind. Der eine ist als Steuerrechtler in einer Großkanzlei tätig, der andere ist Partner in einer ausschließlich arbeitsrechtlich tätigen Kanzlei mit gut 20 Rechtsanwälten. Der Steuerrechtler nannte eine Spanne von 55.000 bis 75.000,- als Einstiegsgehalt, je nachdem, welche Qualifikationen (insb. steuerrechtliche Vorkenntnisse) ein Bewerber bzw. eine Bewerberin mitbringe. Unabdingbare Voraussetzung sei, dass die Bewerber fließend Englisch könnten, weil die Arbeit fast ausschließlich auf Englisch zu erledigen sei. Der Arbeitsrechtler nannte keine konkreten Zahlen, ließ aber durchblicken, dass die o.g. Größenordnung in seiner Kanzlei nur ausnahmsweise in Betracht komme, die normalen Einstiegsgehälter also eher niedriger lägen. Mit „Großkanzleigehältern“ könne und wolle man nicht mithalten, stattdessen setzte man darauf, dass die Mitarbeiter „normale“ Arbeitszeiten hätten und regelmäßig zwischen 18 und 19 Uhr Feierabend machen würden.

Das große Geld wird in großen Wirtschaftskanzleien verdient!

Zu den immer wieder genannten „Traumgehältern“, die in „law firms“ gezahlt werden, schreibt gehaltsvergleich.com: „Wer Dank seines herausragenden Examens zu den Top-Absolventen eines Jahrgangs gehört, hat die Chance, bei einer großen und namhaften Top-Kanzlei einzusteigen. Und wer dort genommen wird, darf zum Start mit Jahresgehältern jenseits der 100.000 € rechnen. Ganz oben in der Einkommensrangliste stehen seit Jahren die renommierten, weltweit agierenden angelsächsischen Kanzleien. So bekommt man laut des Fachportals Azur im 1. Jahr zum Beispiel bei Sullivan & Cromwell 140.500 €, bei Milbank Tweed Hadley & Mc Cloy 140.000 € und bei Willkie Farr & Gallagher 130.000 €. Auch wenn es einige weitere Kanzleien in dieser Gehaltsregion gibt – der Großteil aller Absolventen wird mit einem deutlich niedrigeren Einstiegsgehalt starten.“

Eine interessante Alternative zum klassischen Anwaltsberuf kann eine Anstellung in einem großen Wirtschaftsunternehmen sein. Von einem europäischen Flugzeuhersteller weiß ich aus zuverlässiger Quelle, dass die Einstiegsgehälter für Volljuristen (Arbeitsrechtler) bei rund 95.000 € liegen.

Im Namen des zornigen Volkes?

Das Urteil des Landgerichts Chemnitz gegen Alaa S. vom 22.08.2019 hat für teils heftige Reaktionen gesorgt. Unter dem Titel „Im Namen des zornigen Volkes“ erschien bei Spiegel Online ein Kommentar mit der Einleitung Keine Spuren, keine Kratzer, keine DNA – nur eine wacklige Zeugenaussage und der unbedingte Wille zur Verurteilung bringen den Syrer Alaa S. für den Tod des Chemnitzers Daniel Hillig hinter Gitter. Welche Beweise braucht es für eine Veruteilung?

Im Namen des zornigen Volkes?

Eines sei zur Klarstellung vorweggestellt: Ich bin weit davon entfernt, mir ein Urteil über die Entscheidung der Kolleginenn und Kollegen aus Chemnitz zu erlauben. Schon deshalb, weil ich an der Beweisaufnahme nicht teilgenommen habe und aus eigenen Anschauung weiß, dass nicht alles, was die Medien über Gerichtsverfahren berichten, unbedingt richtig sein muss. Die Unterstellung, dass sich ein Gericht von einem „unbedingten Willen zur Verurteilung“ habe leiten lassen, erzeugt bei mir dennoch Unbehagen – sowohl für den Fall, dass sie falsch ist, erst Recht aber für den, dass sie zutrifft!

Ich will auch nicht der Frage nachgehen, ob und inwieweit Gerichte infolge medialer Berichterstattung einem öffentlichen Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Für mich selbst kann ich sagen: ich lese gelegentlich Zeitungsartikel über Verfahren, an denen ich selbst beteiligt bin – und wundere mich nicht selten über das, was berichtet wird oder unerwähnt bleibt. Einen nennenswerten öffentlichen Druck verspüre ich dabei normalerweise nicht. Vor einigen Tagen haben wir zwei junge Männer, die im Zusammenhang mit einer Schießerei auf offener Straße angeklagt waren, freigesprochen, weil ein Tatnachweis nicht möglich war. Öffentlicher Druck? Egal: wenn wir nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt sind, verurteilen wir ihn nicht!

Dennoch: gänzlich fremd ist mir öffentlicher Druck nicht. Im Verfahren gegen Oskar Gröning schaute buchstäblich die ganze Welt nach Lüneburg und auf uns als Schwurgericht. Die Beweislage war vergleichsweise einfach, hatte doch der Angeklagte seine Tätigkeit als SS-Mann in Auschwitz zugegeben. Dementsprechend standen rechtliche Fragen im Vordergrund, namentlich die nach seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Täter oder Gehilfe?) und die nach einer tat- und schuldangemessen Strafe für die über 70 Jahre zurückliegende Tat. Hinzu kam der Vorwurf, die deutsche Justiz stelle nach jahrzehntlangem Versagen bei der Verfolgung von NS-Tätern nunmehr den hochbetagten Angeklagten stellvertretend für tausende von SS-Männer, Soldaten und Mitgliedern sog. „Einsatzgruppen“ an den Pranger. An diesem Vorwurf war durchaus etwas dran, zumindest was das jahrzehntelange Versagen der Justiz angeht. Kann ein Urteil unter diesem Umständen noch gerecht sein? Wir haben uns nach Kräften um Gerechtigkeit bemüht, und der BGH hat das Urteil bestätigt. Zumindest handwerklich war es also richtig.

In Chemnitz lag der Fall – soweit ich es den Medien entnommen habe – offenbar anders. Die Beweislage sei „bis zum Schluss dünn“ gewesen, schrieb die taz. Damit stellt sich die juristische Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Schuldspruch oder ein Freispruch zu erfolgen haben. In § 261 StPO heißt es hierzu: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.“

Die sog. „freie Beweiswürdigung“ bildet den Kern des deutschen Strafprozesses, und die rechtliche Voraussetzungen sind durch den Bundesgerichtshof seit Jahren geklärt. In einer Entscheidung des 2. Strafsenats (BGH, 27.10.2015, 2 StR 4/15) heißt es hierzu: „Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Allein ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder wenn die Beweiserwägungen gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstoßen. Zudem muss das Urteil erkennen lassen, dass der Tatrichter sämtliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert voneinander bewertet, sondern sie müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden. Werden diese Grundsätze beachtet, kann der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auch dann gewinnen, wenn ein auf das Kerngeschehen der Tat bezogenes Beweismittel fehlt und die Überführung des Angeklagten darauf beruht, dass alle konkret in Frage kommenden Alternativen ausgeschlossen werden. Dieses methodische Vorgehen ist allerdings nur dann eine tragfähige Grundlage für die Verurteilung wegen eines Tötungsverbrechens, wenn alle relevanten Alternativen mit einer den Mindestanforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung genügenden Weise abgelehnt werden, wobei ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit genügt, das vernünftige und nicht auf bloß denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt. Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit setzt zudem ausreichende objektive Grundlagen voraus. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage beruht, und dass sich die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht als bloße Vermutung erweist, die nicht mehr als einen – wenn auch schwerwiegenden – Verdacht zu begründen vermag.“

Ob diese Voraussetzungen im Fall Alaa S. erfült sind oder nicht, wird sich zeigen. Allein das Fehlen von „Spuren“, „Kratzern“ und „DNA“ – wie es der Kommentar bei Spiegel Online suggeriert – macht die Entscheidung juristisch jedenfalls noch nicht falsch oder zu einem „Urteil im Namen des zornigen Volkes“! Selbst wenn die Leiche des Opfers nicht gefunden wird, kann das Gericht aus der Gesamtschau belastender Indizien rechtsfehlerfrei auf ein Tötungsverbrechen schließen (BGH, 02.05.2012, 2 StR 395/11).

Allemal unglücklich – wenn nicht verantwortungslos – sind Aussagen von (Lokal-)Politikern wie: „Ich hoffe aber noch mehr für die Familie des Opfers, dass es eine Verurteilung gibt, damit die Angehörigen Ruhe finden können“, mit denen die Oberbürgermeisterin von Chemnitz zitiert wird. Welche „Ruhe“ bringt die Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen? Frau Ludwig, ich bin froh, dass die schwierige Entscheidung über Schuld und Unschuld in diesem Fall nicht in Ihrer Verantwortung lag!

Hangtäterschaft und Allgemeingefährlichkeit als Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung

In zwei aktuellen Entscheidungen hat sich der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zu Hangtäterschaft und Allgemeingefährlichkeit als Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) und die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) geäußert. Danach müssen das Vorliegen (§ 66 Abs. 1 Nr. 4) bzw. das wahrscheinliche Vorliegen (§ 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB) eines Hanges umfassend und lückenlos begründet werden. Außerdem sind die Tatbestandsmerkmale „Hang“ und „Allgemeingefährlichkeit“ streng voneinander getrennt zu beurteilen!

Im ersten Fall (BGH, 22.05.2019, 4 StR 34/19) hatte der Angeklagte aus Verärgerung darüber, dass er von seinem Konto infolge einer Pfändung kein Geld mehr abheben konnte, den Filialleiter seiner Bank geschlagen und mit einem Messer attackiert. Der Geschädigte hatte hierdurch eine rund eineinhalb Zentimeter messende, oberflächliche Stichverletzung im Bereich der linken Gesichtshälfte sowie eine Jochbeinprellung erlitten. Das Landgericht Frankenthal (Pfalz) hatte den Angeklagten daraufhin wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gem. § 66a StGB vorbehalten.

Der 4. Strafsenat hob das Urteil im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf. Er monierte „die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Wahrscheinlichkeit einer Hangtäterschaft (vgl. § 66a Abs. 2 Nr. 3 StGB) begründet hat“ als „lückenhaft“. Das Landgericht habe „nicht erkennbar bedacht, dass die zum Nachteil eines Finanzbeamten begangene und als symptomatisch angesehene“ (Vor-)Tat bereits 16 Jahre zurückgelegen habe und der Angeklagte – soweit ersichtlich „seither mit motivatorisch vergleichbaren Handlungen“ nicht mehr auffällig geworden sei. Darüber hinaus habe das Landgericht nicht erkennbar in seine Hangprüfung eingestellt, dass der im Jahr 2007 aus dem Strafvollzug entlassene Angeklagte letztmals im Jahr 2011 wegen Körperverletzung straffällig geworden und seither nicht mehr in Erscheinung getreten sei. Stattdessen habe er seit seiner letzten Haftentlassung im Jahr 2007 in einer Obdachlosenunterkunft nach den Feststellungen ein „weitestgehend unauffälliges, […] sehr geordnetes und nach seinen festen Regeln bestimmtes Leben“ geführt. Diese Umstände, so der BGH, „hätten in die Hangprüfung eingestellt und Anlass zur Prüfung der Frage geben müssen, ob die Anlasstat Ausnahmecharakter trägt“, weil sie möglicherweise nicht Symptom eines Hanges, sondern Ausfluss einer finanziellen Notlage infolge der Kontopfändung sein könne.

Im zweiten Fall (BGH, 09.05.2019, 4 StR 578/18) hatte das Landgericht Freiburg den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 14 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Von der Anordnung der Unterbringung des „an einer Sexualpräferenzstörung in Form einer Pädophilie leidenden Angeklagten“ in der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt hatte das Landgericht abgesehen.

Auch damit war der 4. Strafsenat nicht einverstanden. Das Landgericht habe „die Prüfung der Hangtäterschaft mit Elementen der Gefahrenprognose vermischt und sich dadurch den Blick für die im Rahmen der Hangtäterschaft erforderliche umfassende Vergangenheitsbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und der von ihm begangenen Taten verstellt“.
Der Rechtsbegriff des Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB, so der Senat, bezeichne „einen eingeschliffenen inneren Zustand, der den Täter immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Ein Hang liegt bei demjenigen vor, der dauerhaft zur Begehung von Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Hangtäter ist auch derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Das Vorliegen eines Hangs im Sinne eines gegenwärtigen Zustands ist vom Tatgericht auf der Grundlage einer umfassenden Vergangenheitsbetrachtung in eigener Verantwortung wertend festzustellen.“
Wenn ein Hang vorliege, sei „im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose die Wahrscheinlichkeit dafür einzuschätzen, ob sich der Täter in Zukunft trotz Vorliegen eines Hangs erheblicher Straftaten enthalten kann oder nicht. Der Hang ist dabei nur ein – wenngleich wesentliches – Kriterium, das auf eine Gefährlichkeit des Angeklagten hindeutet und als prognostisch ungünstiger Gesichtspunkt in die Gefährlichkeitsprognose einzustellen ist“. Prognostische Erwägungen seien also erst in einem zweiten Schritt im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose anzustellen. Stattdessen habe das Landgericht „die Ablehnung eines Hangs mit prognostischen Erwägungen und unter Bezugnahme auf eine Reihe von protektiven Faktoren begründet“ und „damit verkannt, dass mögliche positive Wirkungen eines künftigen erstmaligen längeren Strafvollzugs sowie die Wirkungen von Therapieangeboten in der Haft zur Verneinung eines Hangs nicht herangezogen werden dürfen“. Für die Hangtäterschaft sei „maßgeblich auf den Urteilszeitpunkt abzustellen; künftige, noch ungewisse Entwicklungen haben außer Betracht zu bleiben.“
Es sei „nicht auszuschließen, dass das neue Tatgericht zu Feststellungen gelangt, welche die Annahme oder die Wahrscheinlichkeit eines Hangs und die Annahme oder Wahrscheinlichkeit tragen, der Angeklagte werde künftig den Anlassdelikten vergleichbare schwere sexuelle Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern begehen.“ Über den Maßregelausspruch müsse daher neu verhandelt und entschieden werden.

Mönch darf Anwalt werden – Gott sei Dank!

„Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Bergpredigt, Matthäus 6, 24). Der EuGH (Urteil vom 07.05.2019, C431/17) sieht das im Hinblick auf die Richtlinie 98/5/EG anders – auch ein Mönch darf Anwalt werden!

Der Andrang ist groß: wartende Mönche vor der Rechtsanwaltskammer.

Zum Sachverhalt wird in der Entscheidung folgendes mitgeteilt: „Bruder Ireneos, der Kläger des Ausgangsverfahrens, ist ein Mönch im Kloster Petra in Karditsa (Griechenland). Mit Antrag vom 12. Juni 2015 beantragte er beim DSA die Eintragung in das besondere Verzeichnis der Rechtsanwaltskammer Athen (Griechenland) als Rechtsanwalt, der seine Berufsqualifikation in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in Zypern, erworben hatte.

Am 18. Juni 2015 lehnte der DSA seinen Antrag auf der Grundlage der nationalen Vorschriften über die Unvereinbarkeit der Eigenschaft als Mönch mit der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs ab, da diese Vorschriften auch auf Rechtsanwälte Anwendung fänden, die in Griechenland unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig sein wollten. 

Am 29. September 2015 focht Bruder Ireneos diese Entscheidung beim Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland) an. Zur Begründung seiner Klage macht er u. a. geltend, dass das nationale Recht mit den Vorschriften der Richtlinie 98/5 nicht vereinbar sei, da es eine in dieser Richtlinie nicht vorgesehene Voraussetzung vorschreibe. Die Richtlinie nehme aber eine vollständige Harmonisierung der Vorschriften über die Eintragungsvoraussetzungen für Rechtsanwälte, die ihre Berufsqualifikation in einem anderen Mitgliedstaat erworben hätten, bei der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats vor. 

Der DSA trägt im Wesentlichen vor, die nationalen Vorschriften, wonach Mönche keine Rechtsanwälte sein könnten, seien durch Regeln und Grundprinzipien betreffend die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs im Aufnahmestaat gerechtfertigt. Der DSA ist der Ansicht, die Eigenschaft als Mönch erlaube es diesem nicht, diesen Regeln und Grundprinzipien entsprechend Garantien zu bieten, wie u. a. die Unabhängigkeit von den kirchlichen Stellen, denen er angehöre, die Möglichkeit, sich vollständig der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs zu widmen, die Fähigkeit, Angelegenheiten in einem konfrontativen Umfeld zu erledigen, die Begründung einer tatsächlichen Niederlassung im geografischen Bezirk des maßgeblichen erstinstanzlichen Gerichts und die Beachtung des Verbots, Dienstleistungen unentgeltlich zu erbringen.

Der Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) hat Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 98/5. Im Hinblick auf die Anforderungen, die sich aus den nationalen Berufs- und Standesregeln ergeben, denen die Rechtsanwälte im Aufnahmestaat unterliegen und die es Mönchen nicht erlauben, den Rechtsanwaltsberuf auszuüben, fragt sich das vorlegende Gericht, ob die zuständige nationale Stelle dieses Mitgliedstaats gleichwohl verpflichtet sei, einen Mönch einzutragen, damit dieser den Rechtsanwaltsberuf unter der Berufsbezeichnung ausüben könne, die er im Herkunftsstaat erlangt habe. Diese Frage stelle sich insbesondere deshalb, weil die zuständige Stelle des Aufnahmestaats aufgrund der nationalen Vorschrift, der zufolge die Eigenschaft als Mönch es nicht erlaube, den Anforderungen und Garantien zu genügen, die für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in Griechenland erforderlich seien, automatisch einen Verstoß des Betroffenen gegen diese Berufs- und Standesregeln feststellen müsse. Unter diesen Umständen hat der Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung.

Kanzlei mit Meerblick!

Auf diese Vorlage hin hat der EuGH entschieden, „dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 98/5 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach es einem Rechtsanwalt, der Mönch ist und als Rechtsanwalt bei der zuständigen Stelle des Herkunftsstaats eingetragen ist, aufgrund der nach dieser Regelung vorgesehenen Unvereinbarkeit zwischen der Eigenschaft als Mönch und der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs verboten ist, sich bei der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats eintragen zu lassen, um dort seinen Beruf unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung auszuüben.“

Allen interessierten Geistlichen seien die Beiträge über die Einstellungsvoraussetzungen für den Richterdienst und die Besoldung von Richter an Herz gelegt!

Die Richterbesoldung – was verdienen Richter und Staatsanwälte?

Mein Beitrag über die Einstellungsvoraussetzungen für Richterinnen und Richter ist – für mich ebenso überraschend wie erfreulich – auf großes Interesse gestoßen. Er hat auch einige Kommentare hervorgebracht mit der Kernaussage: „Die Richterbesoldung ist viel zu niedrig!“. Um das beurteilen zu können, muss man als Berufseinsteiger natürlich zunächst einmal wissen, was Richter und Staatsanwälte eigentlich verdienen. Auf die Frage, was man/frau als VolljuristIn andernorts verdienen kann und welche Vor- und Nachteile der Richterberuf hat, werde ich an anderer Stelle eingehen. Also ran an die Fakten!

Die Richterbesoldung ist grundsätzlich Ländersache, d.h. die Besoldung variiert von Bundesland zu Bundesland. Der Deutsche Richterbund hat eine Tabelle (Stand Dezember 2018) veröffentlicht, die einen Überblick über die unterschiedlichen Besoldungshöhen im Bund und in den Bundesländern ermöglichen soll.

In Niedersachsen gilt derzeit folgende Besoldungstabelle:

Für Richter und Staatsanwälte gilt die Besoldungsordnung R. Berufseinsteiger werden nach der Besoldungsgruppe R1 bezahlt. Das „Einstiegsgehalt“ für einen ledigen Richter bzw. eine ledige Richterin beträgt in Niedersachsen derzeit € 4.327,49 brutto. Wenn ich das durch einen Brutto-Netto-Rechner laufen lasse, komme ich auf einen Nettobetrag von rund 3.250,- €. Das R1-Endgehalt von € 6.719,10 entspricht einem Jahresbrutto von rund € 80.629,-. Es liegt der Höhe nach zwischen den Besoldungsgruppen A15 und A16.

Wenn man die Besoldung von Richtern und Staatsanwälten im Verhältnis zum Einkommen angestellter Juristen einordnen will, muss man wissen, dass anders als bei Arbeitnehmern keine Sozialversicherungsbeiträge (Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung) in Abzug gebracht werden, sondern nur Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag. Andererseits muss sich ein Richter teilweise privat kranken- und pflegeversichern, denn die Beihilfe deckt in Niedersachsen nur 50% bis 70% der Heilbehandlungs- und Arzneimittelkosten ab.

Was heißt das nun konkret? Ausweislich meiner Gehaltsabrechnung für Juni 2018 hatte ich (Erfahrungsstufe 8) ein Gesamtbrutto (inkl. Familienzuschlag) von € 5.891,58, woraus sich nach Abzug von Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag ein Auszahlungsbetrag von € 4.786,21 ergab. Davon musste ich noch meine private Krankenversicherung bezahlen. Unter Verwendung eines Brutto-Netto-Rechner habe ich grob überschlagen, dass ich „draußen“, also als „normaler“ Arbeitnehmer, ein Jahresgehalt von rund € 81.500 hätte erzielen müssen, um auf mein seinerzeitiges Nettogehalt zu kommen.

Die Strafrechtsklausur mit staatsanwaltschaftlicher Aufgabenstellung

Strafrechtsklausuren haben bei Referendarinnen und Referendaren keinen guten Ruf. Die Gründe sind vielfältig, aber durchaus behebbar. Weder im materiellen Recht noch im Prozessrecht wird Unmögliches verlangt, wenn man bzw. frau sich vernünftig vorbereitet. Selbst für eingefleischte Zivilrechtler und ÖffRecht-Junkies gibt es überhaupt keinen Grund, am Strafrecht zu verzweifeln! Auch der Aufbau einer Strafrechtsklausur mit staatsanwaltschaftlicher Aufgabenstellung ist kein Hexenwerk.

Das Landesjustizprüfungsamt Niedersachsen hat dankenswerterweise eine Reihe von Merkblättern für die verschiedenen Klausurtypen veröffentlicht, darunter ein sehr ausführliches Merkblatt für die Strafrechtsklausur mit staatsanwaltschaftlicher Aufgabenstellung, das die wichtigsten Aufbaufragen beantwortet und darüber hinaus auch Hinweise zu den Themen Schwerpunktsetzung, Verwendung von Urteils- und Gutachtenstil, Darstellung von Meinungsstreitigkeiten etc. enthält. Obwohl es sich hierbei um eine äußerst hilfreiche Handreichung handelt, ist sie meiner Erfahrung nach vielen Referendarinnen und Referendaren nicht bekannt. Das muss sich ändern!

Klausuraufbau ist kein Hexenwerk – dem LJPA sei Dank!

Für niedersächsische Referendare ist dieses Merkblatt absolute Pflichtlektüre! Und zwar nicht erst am Vorabend der Klausur, sondern rechtzeitig, d.h. bevor die strafrechtlichen Übungsklausuren geschrieben werden, denn die Umsetzung des Inhalts muss trainiert werden.

Meiner Einschätzung nach können auch Kandidatinnen und Kandidaten aus anderen Bundesländern von dem Merkblatt profitieren, denn viele Informationen sind universell gültig. Dies gilt u.a. für folgenden Hinweis zum Thema Zeitnot: „Die Arbeit muss sich auf die wesentlichen Gesichtspunkte beschränken. Nur durch Konzentration auf das Wesentliche bzw. eine zutreffende Schwerpunktbildung wird es gelingen, innerhalb der Bearbeitungszeit einen verwertbaren praktischen teil zu erstellen.“ Hinsichtlich der Einzelheiten des Klausuraufbaus muss der Inhalt natürlich mit den jeweiligen regionalen Vorgaben und Gepflogenheiten abgeglichen werden! Ich freue mich über Hinweise auf vergleichbare Merkblätter aus anderen Bundesländern und werde sie ggfs. gerne hier veröffentlichen!

Abschließender Hinweis für Niedersachsen:
Die nächsten strafrechtlichen Kaiser Seminare in Hannover finden am 11. und 12.01.2019 (materielles Strafrecht – mit mir) und am 04. und 05.04.2020 (Die Staatsanwaltsklausur – mit Staatsanwalt Golo Osthoff) statt .

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Der minder schwere Fall des Totschlags (§ 213 Alt. 1 StGB)

Beim Totschlag (§ 212 StGB) kennt das Gesetz – anders als beim Mord (§ 211 StGB) – einen sog. „minder schweren Fall“ (§ 213 StGB). Der Unterschied beim Strafrahmen ist beträchtlich. Während der „normale“ Totschlag mit Freiheitsstrafe von 5 bis 15 Jahren bestraft wird, sieht der minder schwere Fall des Totschlags „nur“ Freiheitsstrafe von 1 Jahr bis 10 Jahren vor. In den sog. „Provokationsfällen“ (§ 213 Alt. 1 StGB) stellt sich immer wieder die Frage, ob der Täter „ohne eigene Schuld“ zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 16.01.2019, 4 StR 580/18, NStZ 2019, 408) hatte unlängst einen Fall zu entscheiden, in dem ein Mann und eine Frau in Streit geraten waren. Im Verlaufe des Streits hatte die Frau den Mann mit einem Küchenmesser (Klingenlänge ca. 14 cm) attackiert und ihn mit einer Stichbewegung leicht an der Beugeseite des rechten Unterarms verletzt. Zum weiteren Verlauf teilt der Beschluss mit: „Der Angeklagte schlug ihr das Messer aus der Hand. Auch durch den Messerangriff nunmehr „rasend vor Wut“ entschloss er sich, sie zu töten. Er ergriff das Messer und stach es Frau A. in den Hals. Dann warf er die Frau rücklings aufs Bett und stach weitere 17 Mal auf sie ein. Der dadurch bewirkte Blutverlust war bereits tödlich. Der Angeklagte ergriff nun aber noch eine metallene Schnur, knotete sie um den Hals von Frau A. und würgte sie kräftig. Auch dieses Vorgehen war für sich genommen tödlich.“ Das Landgericht Detmold verurteilte den Angeklagten wegen Totschlags unter Anwendung des Regelstrafrahmens zu 11 Jahren Freiheitsstrafe. Ein minder schwerer Fall im Sinne von § 213 Alt. 1 StGB liege nicht vor. Der Angeklagte sei nicht ohne eigene Schuld zum Zorn gereizt und hierdurch zur Tat hingerissen worden. Der Streit sei vom ihm ausgegangen. Anhaltspunkte dafür, weshalb es letztlich zu dem Messerangriff gekommen sei, habe die Beweisaufnahme nicht ergeben.

„Ohne eigene Schuld zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen?“

Der BGH fand diese Argumentation nicht überzeugend und hob das Urteil teilweise, d.h. im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen, auf. Zur Begründung führte er aus: „Eigene Schuld des Täters schließt die Annahme einer strafmildernden Provokation nur aus, wenn sie sich gerade auf die ihm vom Opfer zugefügte tatauslösende Misshandlung oder schwere Beleidigung bezieht. Die Annahme eigener Schuld am Entstehen der tatauslösenden Lage setzt voraus, dass der Täter dem Opfer genügende Veranlassung zur Provokation gegeben hat . Das Vorverhalten muss dem Täter vorwerfbar und in qualitativer Hinsicht geeignet sein, die darauf fußende Provokation des Opfers als verständliche Reaktion erscheinen zu lassen. Zu prüfen ist daher, ob die dem Täter zugefügte Misshandlung ihrerseits Ausfluss einer angemessenen Reaktion des Opfers auf die ihm zuvor durch den Täter zuteil gewordene Behandlung war. Fehlt es an der Proportionalität zwischen vorangegangenem Fehlverhalten des Täters und der nachfolgenden Opferreaktion, ist die Schuld des Totschlägers an der Provokation mangels genügender Veranlassung zu verneinen. Die Prüfung der Angemessenheit des Opferverhaltens ist auf der Grundlage einer Würdigung aller für das Vorgehen des Tatopfers maßgeblichen Umstände vorzunehmen. Hiervon ausgehend ist die Begründung des Landgerichts, der Angeklagte habe nicht ohne eigene Schuld im Sinne des § 213 1. Alternative StGB gehandelt, lückenhaft. Das Landgericht hat sich mit der Frage, ob der Messerangriff des Tatopfers auf den Angeklagten noch eine angemessene Reaktion auf den vorangegangenen Streit war, nicht auseinandergesetzt. Eine Erörterung hat sich hier indes aufgedrängt, da ein zu einer Schnittverletzung führender Angriff mit einem Messer mit 14 cm langer Klinge jedenfalls nicht ohne weiteres als verständliche oder als angemessene Reaktion auf einen verbalen Streit angesehen werden kann. Zwar hat die Strafkammer nähere Umstände, die das Tatopfer zu dieser Reaktion veranlasst haben, nicht festzustellen vermocht. Wenn die Frage des Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen einer Misshandlung ohne eigene Schuld aber nicht geklärt werden kann, wäre zu erwägen gewesen, ob unter Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ eine Provokation durch das Opfer unterstellt werden kann. Auch dies hat das Landgericht nicht in den Blick genommen. Auf diesem Rechtsfehler beruht der Strafausspruch, da die Annahme eines minder schweren Falls nach § 213 1. Alternative StGB zur Anwendung eines Strafrahmens, der Freiheitsstrafe bis lediglich zehn Jahre vorsieht, geführt hätte.“

Der minder schwere Fall des Totschlags lässt maximal 10 Jahren Freiheitsstrafe zu.

Verteidiger werden diese Entscheidung begrüßen, nicht zuletzt aufgrund des ausdrücklichen Hinweises auf den sog. „Zweifelssatz“. Dies gilt umso mehr, als der BGH in der o.g. Entscheidung auf eine „Uralt-Entscheidung“ (BGH, 06.12.1984,1 StR 696/84, StV 1985, 146) Bezug nimmt, in der es heißt: „Für die Annahme eines minder schweren Falles des Totschlags reicht es aus, wenn es nach den vom Tatrichter getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen ist, daß der Angeklagte von dem später Getöteten sowohl mißhandelt als auch schwer beleidigt wurde; „feststellbar“ im Sinne richterlicher Überzeugung müssen diese Möglichkeiten nicht sein.“

Indes: es besteht kein Anlass zur Euphorie, denn „es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten Geschehensabläufe zu unterstellen, für deren Vorliegen außer nicht widerlegbaren, aber auch durch nichts gestützten Angaben des Angeklagten keine Anhaltspunkte bestehen“ (BGH, 16.06.2016, 1 StR 50/16, NStZ-RR 2016, 318). Die nunmehr zur partiellen Neuentscheidung berufene Kammer wird sich daher – so verstehe ich den BGH – zunächst damit zu befassen haben, ob es die Messerattacke der später Getöteten überhaupt gegeben hat („wäre zu erwägen gewesen, ob unter Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ eine Provokation durch das Opfer unterstellt werden kann“). Nur wenn sie hierfür zureichende Anhaltspunkte feststellt, kommt der minder schwere Fall des Totschlags im Sinne von § 213 Alt. 1 StGB in Betracht. Man darf gespannt sein!

Der „Adhäsionsvergleich“ und der „Täter-Opfer-Ausgleich“

Die Durchführung eines „Täter-Opfer-Ausgleichs“ gemäß § 46a Nr. 1 StGB führt zu einer Strafmilderungsmöglichkeit gem. § 49 Abs. 1 StGB, d.h. das Gericht kann zugunsten des Angeklagten eine Strafrahmenverschiebung vornehmen. Einen „Adhäsionsvergleich“ nimmt das Gericht gem. § 405 StPO auf Antrag in das Protokoll auf. Bei der Formulierung eines solchen Vergleichs ist im Hinblick auf einen möglichen „Täter-Opfer-Ausgleich“ Sorgfalt geboten!

In einem unlängst vom 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH, 21.05.2019, 1 StR 178/19) entschiedenen Fall hatten sich der Angeklagte und die Geschädigte, die an der Hauptverhandlung als Neben- und Adhäsionsklägerin teilgenommen hatte, auf einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 5.000 Euro geeinigt. In dem gerichtlich protokollierten Vergleich hieß es, man sei sich „einig, dass der Abschluss dieses Vergleichs als bereits vollzogener Täter-Opfer-Ausgleich gewertet werden soll“. Die Aufnahme eines weiteren Zusatzes in den Vergleich, wonach durch ihn „eine Befriedung zwischen den Parteien eingetreten“ sei, hatte die Nebenklägerin abgelehnt. Im Hinblick auf diese Ablehnung hielt das Landgericht Landshut die Voraussetzungen des vertypten Strafmilderungsgrundes nach § 46a Nr. 1 StGB für nicht gegeben: Da die Nebenklägerin den Vergleich nicht als „wirklich“ friedensstiftend akzeptiert habe, fehle es an einem kommunikativen Prozess. Der BGH sah das anders: bereits die Wiedergabe der gesetzlichen Bezeichnung des § 46a Nr. 1 StGB dokumentiere eine „Befriedung“ zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin, ohne dass es auf „die Nichtaufnahme eines entbehrlichen Zusatzes“ ankomme.

Schmerzensgeld: friedensstiftender Ausgleich oder Tropfen auf den heißen Stein?

Fazit: Verteidiger sollten eindeutige Formulierungen in ihr Standardrepertoire aufnehmen, vielleicht sogar diejenige aus dem o.g. BGH-Fall. Als Adhäsionsklagevertreter muss man sich klar machen: ein bisschen schwanger geht nicht, ein bisschen Täter-Opfer-Ausgleich auch nicht. Wenn man sich in einem Adhäsionsvergleich ausdrücklich zu einem Täter-Opfer-Ausgleich bekennt, ist das Gericht gehalten, dies bei der Wahl des Strafrahmens ernst zu nehmen. Als Gericht ist man nicht zuletzt im eigenen Interesse gut beraten, erforderlichenfalls nachzufragen und für die nötige Klarheit zu sorgen.