Die Tötung aus „niedrigen Beweggründen“ ist – neben der Heimtücke – das praxisrelevanteste Mordmerkmal. Und aus diesem Grund ist die Prüfung, ob eine Tatmotivation „sittlich auf tiefster Stufe steht“, auch immer wieder Gegenstand von Examensklausuren. Zugleich ist es dasjenige Mordmerkmal, bei dem man am ehesten, wie es Strafverteidiger seit langem regelmäßig tun, den Vorwurf fehlender Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz) erheben kann.
Und es ist sicher auch das Mordmerkmal, dass am meisten an den (Un-)Geist seiner Väter erinnert, denn die Einführung der Mordmerkmale, wie sich noch heute gelten, geht auf die NS-Zeit zurück. Tatsächlich ist § 211 StGB seit 1941 weitgehend unverändert geblieben, wenn man davon absieht, dass es heutzutage weder die Zuchthaus- noch die Todesstrafe (Art. 102 Grundgesetz) gibt. Nach der Gesetzessystematik ist der „niedrige Beweggrund“ als Generalsklausel gedacht und soll diejenigen Fälle erfassen , die sich nicht unter ein anderes Mordmerkmal subsumieren lassen, aber dennoch besonders verachtenswert erscheinen und eine besonders hohe Strafe rechtfertigen. Für die Justiz im Nationalsozialismus war „niedrig“, was der damaligen Weltanschauung und Rassenlehre widersprach. Der „niedrige Beweggrund“ war demnach auch und vor allem ein politisches Mordmerkmal und Werkzeug der Repression.
Heutzutage gilt naturgemäß ein anderer Maßstab und nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, 12.09.2019, 5 StR 399/19) in Ansehung des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) folgende Definition: „Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Die Beurteilung der Frage, ob ein Beweggrund „niedrig“ ist und – in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag – als verachtenswert erscheint, hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit zu erfolgen. Bei einer Tötung aus Wut, Ärger, Hass oder Rache kommt es darauf an, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen. Wut oder Verärgerung sind als niedrig einzustufen, wenn sie unter Berücksichtigung der Beziehung zwischen Täter und Opfer eines beachtlichen Grundes entbehren. Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt. In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann. Dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen.“
Beim Vorliegen mehrerer verschiedener Motive („Motivbündel“) ist das Merkmal des niedrigen Beweggrundes“ nur erfüllt, wenn „das Hauptmotiv oder die vorherrschenden Motive, welche der Tat ihr Gepräge geben, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verwerflich sind“ (BGH, 12.09.2018, 2 StR 113/18).
In der Praxis haben sich diverse Fallgruppen entwickelt, in denen das Mordmotiv diese Voraussetzungen erfüllen kann. Hierzu gehört die Tötung des Intimpartnerin bzw. des Intimpartners. Im Einzelfall zu klären ist, ob die Tötung Ausdruck eines menschenverachtenden Besitzdenkens ist („Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch kein anderer haben!“ – zweifellos ein niedriger Beweggrund) oder ob sie auf dem Gefühl von Verzweiflung, innerer Ausweglosigkeit und erlittenem Unrecht beruht, was „eine Bewertung als „niedrig“ im Sinne der Mordqualifikation fraglich erscheinen“ lässt (BGH, 12.06.2013, 5 StR 129/13). Politisch motivierte Tötungen sind regelmäßig „niedrig“ im Sine von § 211 StGB.
Eine weitere bedeutsame Fallgruppe ist die Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers. Diese kann sich darin äußern, dass der Täter meint, nach eigenem Gutdünken über das Leben des Opfers verfügen zu können oder dass er das Opfer in besonders herabsetzender Weise gequält und getötet wird und damit „nicht einmal mehr ansatzweise als Person, sondern nur noch wie ein beliebiges Objekt, mit dem man nach hemmungslosem Gutdünken verfahren kann, behandelt wird.“ (BGH, 22.10.2014, 5 StR 380/14). Auch das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen (im konkreten Fall an einem knapp zweijährigen Kind) ist regemäßig „niedrig“. Hierzu hat der Bundesgerichtshof (BGH, 15.09.2015, 5 StR 222/15) ausgeführt: „Das bewusste Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen an einem Opfer, das mit der Entstehung der Unzufriedenheit und Angespanntheit des Täters verantwortlich weder personell noch tatsituativ etwas zu tun hat, lässt auf das Vorliegen niedriger Beweggründe schließen: Derjenige, der einen anderen Menschen zum Objekt seiner Wut, Gereiztheit, Enttäuschung oder Verbitterung macht, obschon dieser an der Entstehung solcher Stimmungen nicht den geringsten Anteil hat, bringt mit der Tat eine Gesinnung zum Ausdruck, die Lust an körperlicher Misshandlung zum Inhalt hat. Insbesondere der Aspekt der willkürlichen Opferauswahl rechtfertigt die Einstufung solcher Tötungsakte als Mord; denn eine derartige Degradierung des Opfers zum bloßen Objekt belegt die totale Missachtung des Anspruchs eines jeden Menschen auf Anerkennung seines personalen Eigenwerts. Der den Eigenwert des Opfers negierende Vernichtungswille tritt hier – neben der Art und Weise der Tatausführung – zusätzlich auch in der Wortwahl des Angeklagten zu Tage, der das Kind während seiner Handlungen als Drecksgöre und Balg bezeichnete, mit dem man kein Mitleid haben müsse.“