Die „Rechtsfolgenlösung“ – Mord ja, lebenslang nein?

Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“ So steht es in § 211 Abs. 1 StGB. Die lebenslange Freiheitstrafe ist vom Wortlaut des Gesetzes her also zwingend, anders als beim Totschlag (§§ 212, 213 StGB) kennt das Gesetz keinen „minder schweren Fall“, der die Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe ermöglichen würde. Natürlich gibt es auch beim Mord Milderungsmöglichkeiten, etwa wenn die Schuldfähigkeit des Täters bei Begehung der Tat gemäß § 21 StGB erheblich vermindert war oder wenn die Tat nur versucht wurde (§ 23 Abs. 2 StGB). Für den „Normfall“ aber gilt: Mord gibt lebenslang, d.h. eine Entlassung auf Bewährung ist selbst bei „guter Führung“ und „günstiger Sozialprogose“ frühestens nach 15 Jahren möglich (§ 57a StGB). In vielen Fällen erscheint diese Rechtsfolge durchaus angemessen. Aber es gibt hin und wieder Sachverhalte, bei denen die lebenslange Freiheitsstrafe nicht „passt“, weil sie insbesondere der Rolle des Opfers im dem Konflikt, der in der Tötung mündet, nicht gerecht wird.

Der Fall, der den Bundesgerichtshof in den 1980er Jahren dazu bewegte, sich die sog. „Rechtsfolgenlösung“ auszudenken, hatte sich in etwa wie folgt abgespielt: Der Onkel (und spätere Getötete) vergewaltigte mit vorgehaltener Pistole die Ehefrau seines Neffen (des späteren Mörders). Die Ehe zerbrach, der Neffe litt erheblich unter der Situation. Eines Tages traf er auf seinen Onkel, der sich mit seiner Tat brüstete und drohte, er werde auch ihn „vögeln“ und töten. Der Neffe besorgte sich ebenfalls eine Pistole, überraschte den Onkel beim Kartenspiel und erschoss ihn.

Der Große Senat für Strafsachen (BGH, 19.05.1981, GSSt 1/81, NJW 1981, 1965) entschied: „Die absolute Strafdrohung für Mord (§ 211 Abs. 1 StGB) schließt Zumessungserwägungen aus. Die verfassungskonforme Rechtsanwendung gebietet ihre Ersetzung durch einen für solche Erwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungsweise mit Entlastungsmomenten zusammentrifft, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheint. Allerdings kann nicht jeder Entlastungsfaktor, der nach § 213 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles zu führen vermag, genügen. § 213 StGB ist dem Tatbestand des Totschlags zugeordnet. Deshalb und weil nach dieser Vorschrift eine Privilegierung verhältnismäßig leicht zu erreichen ist, kann ihr nicht der passende Maßstab entnommen werden. Vielmehr kann das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, daß jener „Grenzfall“ eintritt, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich geminderter Schuld unverhältnismäßig wäre. Eine abschließende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden außergewöhnlichen Umstände ist nicht möglich. Durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motivierte, in großer Verzweiflung begangene, aus tiefem Mitleid oder aus „gerechtem Zorn“ auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten können solche Umstände aufweisen, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben.“

In derartigen Fällen, so die Rechtsprechung bis heute, tritt an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Geschaffen und anerkannt worden ist die „Rechtsfolgenlösung“ ausschließlich für das Mordmerkmal der Heimtücke, also der Tötung unter Ausnutzung des Überraschungsmoments. Eine Ausdehnung auf das Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ hat der BGH in einem sog. „Kannibalen-Fall“ (BGH, 21.02.2018, 5 StR 267/17) abgelehnt und dies wie folgt begründet: „Der Angeklagte handelte nicht aus einer außergewöhnlichen Notlage heraus; er befand sich auch nicht in einer den angeführten Beispielen entsprechenden notstandsnahen Bedrängnis. Vielmehr tötete er primär zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs. Dabei erwächst der gesteigerte Unwert der Tat aus dem groben Missverhältnis von Mittel und Zweck, indem der Täter das Leben eines anderen Menschen der Befriedigung eigener Geschlechtslust unterordnet. In einem solchen Fall ist die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nur dann unverhältnismäßig, wenn der (konkreten) Tat das Merkmal einer besonderen Verwerflichkeit nicht anhaftet. Dies ist hier nicht gegeben. Denn die vom Angeklagten erstrebte sexuelle Befriedigung bezog sich auf den Lustgewinn während des Zerstückelns der Leiche. Sie war damit in spezifischer Weise auf den Tötungsakt selbst bezogen. An der sich hierauf gründenden besonderen Verwerflichkeit der Tötung vermochte im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung auch der Wunsch des Tatopfers, getötet zu werden, nichts zu ändern. Ihm kommt daher eine besondere schuldmindernde Wirkung nicht zu. Das menschliche Leben steht in der Werteordnung des Grundgesetzes – ohne zulässige Relativierung – an oberster Stelle der zu schützenden Rechtsgüter. Hierdurch wird auch die sich aus § 126 StGB ergebene Einwilligungssperre legitimiert. Nur unter den engen – vom Landgericht rechtsfehlerfrei verneinten – Voraussetzungen dieser Vorschrift kann eine Einwilligung bei einer vorsätzlichen Tötung eines Menschen Bedeutung erlangen und die Tat in einem milderen Licht erscheinen lassen. Ein Absehen von der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kommt mithin vorliegend nicht in Betracht. An die Stelle der vom Landgericht für den Mord verhängten Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten tritt daher lebenslange Freiheitsstrafe, auf die der Senat gemäß § 354 Abs. 1 StPO erkannt hat.“